Geist der Wildnis

Tsibi

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Geist der Wildnis



Zärtlich streiche ich über den weichen Erdboden. Er ist noch feucht, der letzte Regenschauer ist noch nicht allzu lange her. Das Gras biegt sich sanft unter meiner Berührung. Ich achte darauf, nicht zu viel Druck auszuüben und es zu beschädigen. Ich richte mich auf und nehme einen tiefen Atemzug, um die frische Luft zu genießen. Der Geruch von Natur ist geradezu überwältigend. Es gibt einfach keine bessere Luft als die nach etwas Regen. Es ist, als würde die ganze Welt ein weiteres Mal geboren werden. Aus nicht allzu weiter Ferne vernehme ich das Zwitschern der Vögel, welche sich wieder in voller Pracht in die Luft schwingen.

Ein Rascheln veranlasst mich dazu, meinen Kopf umzuwenden. Eifrig huscht ein Eichhörnchen durch das Gestrüpp, auf der Suche nach seinen Nüssen. Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, während ich es bei seiner Tätigkeit beobachte. Für einen kurzen Moment kommt es mir so vor, als würde es mich genau anschauen, doch der Augenblick verrinnt schnell wieder. Mit Sicherheit habe ich mich geirrt. Auch das Eichhörnchen verhält sich, als sei nichts geschehen und huscht schließlich wieder davon. Vielleicht sollte ich mich auch wieder auf den Weg begeben? Schließlich gibt es noch so viel zu sehen und zu erleben. Also beeile ich mich, möglichst viele Eindrücke in mich aufnehmen zu können. Ich folge dem Pfad, welchen die Tiere dieser Region bereits vor mir geschaffen haben. Meine Sinne sind zum Zerreißen angespannt, da ich nichts Interessantes verpassen will. Doch schlagartig kommt mir in den Sinn, wie dämlich ich bin. Ich will nichts Interessantes verpassen? Was tue ich dann gerade? Wie überheblich von mir. Erneut richte ich meine Aufmerksamkeit auf den Boden und auf einmal öffnet sich mir die Welt, für die ich gerade noch blind gewesen bin. Ich bin nicht allein auf diesem Pfad geschritten, wie ich die ganze Zeit gedacht habe. Unzählige Ameisen begleiten mich, während sie ihre Arbeit verrichten. Ist es nicht faszinierend, dass sie einander nie in die Quere kommen, obwohl so viele von ihnen sich an einem Ort aufhalten? Und wie fleißig sie sind, alles nur um ihre Kolonie am Leben zu erhalten. Manche von ihnen tragen Gegenstände viel größer als sie. Manche von ihnen arbeiten zusammen, um erlegte Beute zu transportieren. Wie stark diese Kreaturen doch sind. Und ich hätte sie fast übersehen, nur weil ich einen Moment lang interessante Erlebnisse nur mit größeren Wesen verbunden habe. Wie konnte ich nur vergessen, dass die Welt aus weit mehr besteht? Aus so vielen kleinen Wesen und Dingen, meist verborgen vor dem Auge, sind sie doch fundamental für die Natur wie sie ist. Die Umwelt wäre ohne sie eine ganz andere. Hier, auch die Luft ist erfüllt mit winzig kleinem Leben. Wenn man genau hinsieht, kann man manche ausmachen. Doch zurück zu den Ameisen, schließlich ist es schon etwas länger her, dass ich so viele von ihnen auf einmal gesehen habe. Bitte verzeiht mir, kleine Bewohner des Himmels. Ein anderes Mal werde ich mich euch wieder widmen. Und dieses Mal werde ich euch auch nicht wieder vergessen, ich verspreche es euch.

So faszinierend es auch ist, die Ameisen bei ihrem Treiben zu beobachten, erfüllt mich trotzdem auch ein ganz anderes Gefühl. Denn hier, auf diesem Pfad, kann ich kaum andere Wesen entdecken, die Übermacht und die Gewalt der Ameisen ist an diesem Ort zu stark, sie kontrollieren alles. Alles andere wird von ihnen unterworfen und unterdrückt. Mitleid oder Gnade sind Begriffe, die ihnen nicht bekannt sind. Vielfalt, solange sie nicht zur Beute gehört, ist nur eine Gefahr für ihre Herrschaft. Irgendwie etwas bedrückend, wenn man darüber nachdenkt. Ich erhebe mich wieder, etwas bedrückt, aber umso mehr bestärkt in meinem Ziel, viele verschiedene Dinge zu sehen und zu erleben.

Ich entscheide mich dazu, den Pfad zu verlassen. Es dauert auch nicht lange und ich bereue es überhaupt nicht, diese Entscheidung getroffen zu haben. Ich bin auf eine Lichtung getroffen und das einfallende Sonnenlicht lässt den Ort geradezu heilig erscheinen. Alles leuchtet und glänzt, als wäre ich auf einen geheimen Schatz gestoßen. Wilde Blumen kämpfen darum, welche von ihnen am schönsten blüht und um die Aufmerksamkeit ihrer summenden Bestäuber. Aus irgendeinem Grund erfüllt dieser Anblick mein Herz mit Freude. Liegt es daran, dass sich hier zwei Leben gegenseitig unterstützen? Die Bienen helfen den Blumen bei der Fortpflanzung, während diese ihnen ihren wertvollen Nektar überlassen. Welch wundervolle Zusammenarbeit, von der beide profitieren. Keine Seite nutzt die andere aus. Eine fabelhafte Harmonie des Lebens. Ich wage es nicht, diesen heiligen Ort zu betreten, also genieße ich die Atmosphäre noch ein bisschen, die auch nicht mehr durch die sich nun hinter Wolken versteckende Sonne gestört werden kann, bevor ich weiterziehe.

Nach einer kurzen Weile stoße ich auf einen plätschernden Bach und aus einer Laune heraus, entscheide ich mich, seinen Verlauf zu folgen. Auch hier sprüht das Leben nur vor Energie. Plötzlich vernehme ich ein Knacken und ein stolzer Hirsch stolziert mit seinem prächtigen Geweih auf der anderen Seite des Gewässers näher. Wachsam schaut er sich um, doch es scheint als würde er die Situation als sicher empfinden. Und schon gleich darauf tauchen weitere Tiere hinter ihm auf. Mit Sicherheit ist es seine Herde, die er hierher geführt hat, um ihren Durst zu stillen. Nach und nach nehmen sie alle das erquickende Nass zu sich, während andere achtsam die Umgebung im Auge behalten, um rechtzeitig etwaige Gefahren zu erblicken. Die Wesen wirken geradezu majestätisch und doch ist mir bewusst, was für ein besonderer Moment das ist. Diese prachtvollen Tiere offenbaren vor mir ihre Verwundbarkeit, während sie ihre Bedürfnisse stillen. Ein wahrlich berührender Moment. Von der Atmosphäre in den Bann gezogen, bewundere ich das Muskelspiel unter dem weich anmutenden Fell. Ich wünschte, ich könnte sie berühren und sie fühlen.

Doch auf einmal bricht der Zauber. Wie auf ein geheimes Signal hin, marschieren sie alle von der Wasserquelle hinfort und galoppieren davon. Nicht genug. Noch habe ich nicht genug von ihnen gesehen. Ich entschließe mich ihnen zu folgen.

Wie bereits zuvor kann ich mich meiner Faszination nicht entwinden, während ich mein Bestes gebe, mit ihnen Schritt zu halten. Aber mir entgeht nicht, dass sich auch andere Wesen nähern, die nicht zur Herde gehören. Diese scheint ihre Jäger auch bemerkt zu haben, da sie augenblicklich ihr Lauftempo erhöht. Lieber wollen sie die Flucht ergreifen als ihr Leben zu riskieren und vielleicht Verletzungen zu erleiden. Die Kinder nehmen sie in ihre Mitte, um sie zu beschützen, doch nicht alle haben das Glück, die volle Aufmerksamkeit der Gruppe zu erhalten. Eines der Tiere schafft es nicht, mit dem neuen Tempo der Herde mitzuhalten und fällt etwas zurück. Keinen Moment später stürzen sich weitere Wölfe, welche bisher ihre Präsenz verborgen haben, aus ihren Verstecken und machen sich über ihr Opfer her. Wie intelligent von ihnen. Ein Teil bringt die Herde in Aufruhr, während der andere Teil sich über die hermacht, die sich nicht wehren können und den Anschluss an die Gruppe verlieren.

Die Wölfe scheinen mit ihrer Beute zufrieden zu sein, da sie sich daran machen, das frische Fleisch einzuverleiben. Das Blut des erlegten Tieres spritzt zwischen ihren Bissen hindurch und verklebt das Fell der Jäger. Bin ich traurig darüber, dass ein Leben verloren worden ist? Nein. Denn dieses Leben ermöglicht es anderem Leben weiter zu existieren. Es ist ganz anders als die Dominanz der Ameisen. Die Wölfe müssen Vorsicht walten lassen und intelligent handeln, um ihr Überleben zu sichern. Sie scheinen wilde Bestien zu sein, doch sie teilen ihre Beute untereinander und kümmern sich um ihre Gefährten. Mein Herz ist ganz verzückt, als ich ein paar liebkosende Gesten zwischen zwei Mitglieder der Gesellschaft ausmache.

Plötzlich nähert sich eines der jüngeren Tiere meiner Position und schnüffelt in meine Richtung. Ich weiß, dass es unmöglich ist, doch ich kann es nicht ganz verneinen. Hat mich das Kind wahrgenommen? Hat es gemerkt, dass sie nicht allein sind? Oder war es reiner Zufall? Ich weiß es nicht. Doch genau deswegen faszinieren mich die Tiere dieser Welt immer wieder. Sie nehmen so kleine Nuancen in ihrer Umgebung wahr und ihr Gespür ist immer wieder beeindruckend. Selbst wenn mich das Junge wahrgenommen hat, scheint es auf jeden Fall nicht eingeschüchtert zu sein, stattdessen verweilt es noch kurz, bis es zu seiner Familie zurückkehrt.

Leben und Tod, sie sind unbestreitbar miteinander verbunden. Jedoch ist diese Verbindung auch etwas Wunderschönes, da aus dem einen auch das andere entstehen kann.

Ich denke ich habe für den Moment genug gesehen. Ich will die Wölfe bei ihrem Mahl nicht weiter stören, vor allem wenn sie wirklich in der Lage sein sollten, meine Anwesenheit zu spüren. Folglich mache ich mich wieder auf denselben Weg zurück. Unweigerlich finde ich mich wieder auf dem Pfad wieder, dem ich für eine Weile gefolgt bin. Aber er ist nicht mehr derselbe. Wie lange ist es her, dass ich hier war? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist inzwischen ein Baum umgekippt und hat damit den Verlauf des Pfades verändert. Durchgänge, die vorher bestanden, wurden vom Gestrüpp zurückerobert, während neue geschaffen wurden. Wahrlich, die Natur befindet sich dauerhaft im Wandel. Und das ist es, was sie so wundervoll macht.

Der Wind lässt sanft die Blätter der Bäume wiegen und führt mich zurück an meinen angestammten Ort. Ich setze mich hin und schon bald überkommt mich die Erschöpfung. Doch bevor ich überwältigt werde, dringt noch ein Gedanke in mein Bewusstsein: Ich bin gespannt, was mir die Natur das nächste Mal zeigen wird. Ich kann es kaum erwarten.
 



 
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