Gelähmter Flügel

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george

Mitglied
Gelähmter Flügel

Damals, da musste die Käfigtür
noch fest verriegelt sein.
Doch heute, da bleibst Du auch so.
Hast Deine Welt, Futter und
Deinen Frieden.

Ich such' Dich, die Augen, Dein Singen
und uns’re vergangene Liebe.
Doch Du willst und musst bleiben,
kannst und willst
nicht mehr fliegen.

Jetzt, endlich, bist Du endgültig gezähmt,
gehörst nur noch Ihnen, Deiner Familie.
Dein einer Flügel völlig gelähmt,
Dein Wille gebrochen,
Dein Denken verwirrt oft und sprunghaft.

So hüpfe, singe und pick’ ich
alleine da draußen,
fliege
und weine um dich
und unsere Liebe.

Doch manchmal, nur manchmal hörst Du mir zu.
Wenn ich heimlich und leise erzähle
durch die Stäbe im Käfig.
Dann drehst Du Dich um
und Deine dunkelbraunen Augen,
sie leuchten voll Sehnsucht.

Wenn ich zu Dir flüstere,
wie es da draußen jetzt ist
und von unserem gemeinsamen Traum,
von den wenigen Stunden,
die wir gemeinsam so glücklich flogen.

Damals.
Damals über unserer Insel.

13.5.06
 
I

inken

Gast
Schön und tief, lieber Jürgen.

Einmal habe ich gelesen, in der Ehe gäbe jeder dem
anderen sein wildes Tier an die Leine.

Dein Gedicht erinnert mich in trauriger Weise daran.
Manchmal geben wir uns leider selbst an die Leine.

ein klein wenig würde ich noch verdichten,
bei den Aufzählungen vielleicht?

Liebe Grüße Ingrid
 

george

Mitglied
Danke, liebe Inken,

für die Rückmeldung. Ich habe einige Stellen gekürzt.

Liebe Grüße
Jürgen
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Jürgen,

ein Text, der einem mit wehtut. Gut die "Übersetzung" in die zwei Vögel, sonst wäre es nicht auszuhalten.

Dir ganz liebe Grüße!
Vera-Lena
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo Jürgen,

auch mich berührt Dein Gedicht in der Deutlichkeit der Tragik, die so sehr durch das doppelt verhinderte Vermögen zu fliegen ausgedrückt wird; nämlich durch das Eingesperrtsein einerseits und den gelähmten Flügel. Unter diesem Aspekt finde ich sogar folgende Zeile passend, die mich erst zweifeln ließ, ob des doppelten end-
Jetzt, endlich, bist Du endgültig gezähmt
Herzliche Grüße

Elke
 

george

Mitglied
Liebe ENachtigall,

danke für Deinen Kommentar. Das doppelte end ist, wie Du richtig erkannt hast, absichtlich so gesetzt in diesem Bild.

Grüße
Jürgen
 

Venus

Mitglied
Lieber Jürgen,


kannst und willst

und es fragt mich: warum?
Hier hält die Zeit nicht ihren Atem an. Sie atmet sich beständig. Aus.

Gestern habe ich eine Freundin besucht.
Sie ist gerade mal 52 und mehr und mehr in ihrer Alzheimer Krankheit versunken.
Sie hat braune Augen. Und auch über den ihren liegt ein Schleier, der mich an Gitter erinnert.


Dein Werk ist eindringlich gelungen; obschon in einer gewagt farbigen Sprache komponiert. Vielleicht lässt es deshalb auch die Freiheit auf Zuversicht – alles möge sich ändern – leichter zu.
Hier bleibt ein offenes und ein blaues Auge.
Der Leser mag hoffen.

Ich auch.

Recht herzliche Grüße,
Gabi
 

george

Mitglied
Liebe Gabi,

vielen Dank für Deinen einfühlenden Kommentar. Einseitige Lähmung nach einem Schlaganfall einer geliebten Person, einer wunderschönen Frau, inspirierte mich zu diesem Text. Die Einsicht, dass nichts wiederholbar, wieder bringbar ist.

Herzliche Grüße
Jürgen
 



 
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