Gelebte Halbdistanz

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rubber sole

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Auf der schattigen Holzbank neben der kleinen weißen Kirche ist noch genügend Platz für eine weitere Person. Ich gehe darauf zu, zeige auf den freien Sitz, und frage, ob ich mich neben den Mann setzen darf, der dort fast täglich nachmittags sitzt, ein älterer Herr, vom Typ her südländischer Herkunft. Ich habe noch nie eine andere Person neben ihm sitzen sehen, dies wäre mir aufgefallen, denn ich komme oft hier vorbei. Ein schöner Blick von dort, hinüber zur Düne und weiter zum nahen Strand. Er nickt freundlich, wirkt aber nicht sehr gesprächig, eher in sich gekehrt. Im Gegensatz zu mir, denn ich habe aktuell das Bedürfnis, mich jemandem mitzuteilen. Dies kommt phasenweise in mir hoch, jetzt, da ich Rentner bin und seit dem Tod meiner Frau alleine lebe, Freunde oder nahe Verwandte habe ich in meinem Umfeld nicht. Ich bin einer von denen, die unauffällig ihr Dasein fristen, fast unbemerkt vom Rest der Welt. Es ist ein Leben in sozialer Halbdistanz, in einem Zustand, der mich zunehmend in meiner Außenwirkung hemmt. So habe ich mich darauf einstellen müssen, meine Gefühle zu dosieren; meine Kommunikation besteht überwiegend aus Höflichkeitsfloskeln im Treppenhaus oder an der Supermarktkasse.

Über meine Befindlichkeiten würde ich mit meinem Sitznachbarn vor der Kirchentür jetzt gerne reden. Und wonach es anfänglich nicht ausgesehen hatte, es kommt ein Gespräch zustande. Der Mann spricht dabei nur wenig, möglicherweise, weil Deutsch nicht seine Muttersprache zu sein scheint, trotzdem, er ist gut verständlich. Die Gespräche auf der Bank vor der Kirche werden zum täglichen Ritual. Jedes Mal, wenn ich mich zu ihm setze, blüht unser Dialog ein wenig mehr auf. So erzähle ich aus meinem Leben, von gemeinsamen früheren Reisen mit meiner Frau. Bei diesem Thema wirkt er aufgeschlossener, erzählt von seiner Heimat Griechenland, die er immer noch vermisst. Das ist das Stichwort für mich.

Ich beschreibe Erlebnisse aus einer Urlaubsreise von vor über dreißig Jahren in Griechenland, eine Zeit voller unvergesslicher Momente, als ich mit meiner Frau dort unterwegs war. Ganz besondere Erinnerungen gehören einer Nacht in einem kleinen Dorf auf einer Insel in der Ägäis. Wir feierten mit den Einheimischen, und irgendwann zog mich eine alte Frau an ihre Seite. Sie erzählte mir eine Geschichte des Dorfes, von einem schrecklichen Unglück, das etliche Jahre vorher passiert war: Ein Schiff, das dicht vor der Küste sank und viele Menschen des Dorfes mit sich in die Tiefe riss. Mein Nachbar schaut mich eindringlich an, als ich die Szene beschreibe, von der mir die alte Frau seinerzeit berichtete. Und nun wird er lebhafter, er fragt nach Einzelheiten, denn von solch einem Ereignis hatte ihm sein Vater erzählt, aus dessen Kindertagen. Dieses Geschehnis führte zu einem Trauma bei den Dorfbewohnern, das lange nachwirkte.

Es folgt ein längerer Moment des Schweigens, dann die Annahme, dass solch eine Erinnerung ihn unterschwellig geprägt haben könnte. Für mich bedeutet sie eine traurige Erinnerung anlässlich einer Reise. In seinem Unterbewussten aber hängt das Trauma anscheinend fest. Mein Gesprächspartner schließt nicht aus, dass darin ein Grund für seine regelmäßig wiederkehrende Melancholie liegen könnte, verbunden mit dem Wunsch zur Stille.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber rubber sole,

der Titel hat es in sich - und die Geschichte wird ihm auch gerecht.
Und doch ... fehlt mir da etwas. Das zart sich anbahnende Gespräch, seine Fortsetzung als Ritual. Wie gerne würde ich da einen Dialog lesen. Das erschütternde Erlebnis dieses Dorfes, die Antworten des Gesprächspartners, alles im Kopf des Erzählers, selbst die Reflexion über das Trauma. Kein Echo dieser Gedanken bei den Protagonisten, sie wirken als Staffage für einen eher theoretischen gedankenschweren Text, weil sie kaum oder nicht handeln, nicht reden. Das finde ich irgendwie schade.
Dabei finde ich das Thema sehr wichtig - diese gelebte Halbdistanz. Eigentlich ist sie doch bei diesen beiden überwunden, aber man spürt es nicht.

Liebe Grüße
Petra
 

ARIIOOL

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Hallo rubber sole, darf ich etwas zu deiner Geschichte sagen?

Mir gefallen die teilweise gewagt langen Sätze gut, auch wie du die Worte und Satzgruppen aneinander bringst. Im ersten Absatz besonders schön.
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Im zweiten Absatz fand ich etwas viel zu schnell, diesen Sprung von "dem erstem Gespräch" und " Die Gespräche auf der Bank vor der Kirche werden zum täglichen Ritual ". Mir hat da etwas Ausschmückung gefehlt, auf mich wirkte es grad so, als ob du es eilig hattest, deine Idee weiter zu führen. Ist aber nur meine persönliche Meinung.
next:
Im ersten Absatz habe ich den Zusammenhang nicht kapiert bei: "meiner Außenwirkung hemmt. So habe ich mich darauf einstellen müssen, meine Gefühle zu dosieren". Will da nicht spekulieren, aber steht Gefühle für "den Mut sich mitzuteilen"? Was haben Gefühle mit Außenwirkung zu tun, außer, das vielleicht eine(r) stinkig ist, wenn keine Anerkennung rüber kommt?
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"Mein Gesprächspartner schließt nicht aus, dass darin ein Grund für seine regelmäßig wiederkehrende Melancholie liegen könnte, verbunden mit dem Wunsch zur Stille."
Dieser Satz erklärt das, was du deinem Leser mitteilen möchtest, aber du nimmst der Geschichte ihren Flair durch die gestelzte Formulierung. Die Message kommt rüber, aber es ist das literarische Gegenteil von: " Ein schöner Blick von dort, hinüber zur Düne und weiter zum nahen Strand. " oder dem hier: " Ich bin einer von denen, die unauffällig ihr Dasein fristen, fast unbemerkt vom Rest der Welt. Es ist ein Leben in sozialer Halbdistanz, in einem Zustand, der mich zunehmend in meiner Außenwirkung hemmt. "
 

rubber sole

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@petrasmiles:

Ja, Dialoge können mehr Nähe vermitteln, Texte intensiver erscheinen lassen, liebe Petra. Ich habe als Erzähler bewusst die Position des Beobachters beibehalten, wenn man so will, auch hier eine Halbdistanz geschaffen; es wäre sonst ein anderes, ein längeres Format einer Erzählung entstanden. Danke für deine Anregungen.

Gruß von rubber sole
 

rubber sole

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@ ARIIOOL:

danke für deine Anregungen, ARIIOOL. Der literarische Eindruck auch dieses Textes ist subjektiv. Ich gehe beim Verfassen meiner Niederschriften so vor, dass ich mich stark auf meine Gedanken fokussiere, ich schreibe nicht, um vorab eventuelle Vorstellungen eines potentiellen Lesers zu erfüllen – möglicherweise kommt es ja später zu einer Übereinstimmung. Generell sollten Zusammenhänge eines Textes plausibel sein, hintergründliche Erklärungen relevant. Dass hier von einer Hemmung der Außenwirkung die Rede ist, heißt für mich in dem Zusammenhang, dass dieser Mensch keine Möglichkeit einer emotionalen Reflektion hat. Auch über Satzkonstrukte wird gerne kontrovers diskutiert. In der vorliegenden Geschichte dominieren lange Sätze, in manch einer meiner Geschichten, wie z. B. Rufus, gefällt nicht jedem der dort durchgehend von mir verwendete ''Staccato-Stil'. Deine Anmerkungen zu meiner Geschichte habe ich gerne gelesen.

Gruß von rubber sole
 



 
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