Gemaßregelt

Ana Lyst

Mitglied
Gemaßregelt

Am Tag zuvor

Fest umfasste Elias´ Hand die seiner sechsjährigen Schwester Noah.
Der pochende Druck in der Brust schlug an seinen Kehlkopf an.
Das Mädchen jedoch war von der Idee ihres älteren Bruders hellauf begeistert.
Hatten sich beide vor wenigen Augenblicken kichernd mit bunten Sprüchen ausgemalt, wie sich ihre Mutter erschrecken würde, wenn die zwei doch Knall auf Fall verschwunden wären. Pilze hatten sie ohnehin nicht gefunden, weshalb sie sich still und leise, abseits des schmalen Waldweges, hinter das stachelige Buschwerk begaben und feixend immer weiter liefen.
Mutti hatte nichts bemerkt!
Sie hörten die Stimme ihrer Mutter, welche auf der Suche nach den fleischigen Stielen, mit diesen komischen Hüten drauf, lustige Lieder sang.
Wie geschickt sich die zwei doch angestellt hatten.
Die Kleinen liefen geduckt und immer schneller, erst rechts herum, links entlang und ein Stückchen zurück und dann weiter in die andere Richtung. Das Gestrüpp wurde höher und nahm den Kindern mehr von der Sicht.
Schnurgerade ragten die Bäume empor, dichte Äste hingen von ihnen stumm herab.
Elias wurde ruhiger. Öfter blieb er stehen und verharrte, um zu lauschen.
Aber den vertrauten Klang seiner Mutter vermochte er nicht mehr zu hören.
„Aua! Elias, du zerdrückst ja meine Hand!“, riss sich Noah von ihrem fünf Jahre älteren Bruder los.
Ihre Entdeckerlust schien aufgebraucht.
„Mutti hat uns nicht gefunden, wir können wieder zu ihr gehen.“ Mit kugelrunden Augen sah sie Elias an.
„Aber ich kann den Weg nicht finden!“ Erschrocken drehte sich Junge in sämtliche Richtungen.
Nichts erinnert ihn daran, von wo aus sie gekommen waren.
Alles sah gleich aus und fremd.
„Warum kannst du den Weg nicht finden?“ Noah kam einige Schritte auf ihren Bruder zu.
Elias aber blieb still. Seine Lippen bewegten sich stumm und waren auf der Suche, nach den richtigen Worten.
Eine dicke Träne rollte über sein Gesicht: „Wir haben uns verlaufen!“
„Ich will jetzt zurück! Bring mich zurück!“ Noah schrie hysterisch und trommelte mit ihren kleinen Fäusten gegen ihn.
Ihr Schreien wandelte sich in bitteres Weinen.
Elias versuchte die Tränen wegzublinzeln, fasste seine Schwester fest an und lief mit ihr den Weg zurück - oder weiter voraus - oder nach rechts - nach links - er entsann sich doch nicht. Hauptsache eine andere Richtung.
Gar nicht so entfernt wurde es schon heller. Das wird der Weg sein!
Rasch stolperten sie mehr, als dass sie liefen.
Kurz vor der lichten Stelle hielten sie inne. Der Junge zog Noah an sich heran.
Tatsächlich! Ein Weg. Er sieht anders aus. Ist nur schmal und verwachsen.
Undurchsichtig schauderte der graue Himmel durch die gewaltigen Baumkronen die Stämme entlang.
Auf der kleinen Lichtung war ein Auto zu sehen. Ein roter Kombi. Heckklappe geöffnet, dahinter ein betagter Mann!
„Elias, ich habe fürchterliche Angst!“ Noah sah ihren Bruder mit offenem Mund an.
Nervös lief der Alte um das Auto umher. Zwängte sich erst in den Kofferraum und richtete sich wieder auf.
Doch dann war sein Blick den Kindern zugewandt.
Noah drehte ihren Kopf mit dem Gesicht zu Elias hin.
Aber er befürchtete in diesem Moment bereits, dass er nicht abwenden kann, was ihr beider Leben für immer verändern würde.

+++

Früh morgens
Ein Fuchs in der Falle, dessen Ende erbarmungslos naht.
Getrieben laufe ich umher und die Wohnung erscheint mir muffig und eng.
Doch endlich! Eindringlich lärmt die Haustürklingel und hallt nach.
Beklemmende Stille macht sich breit. Kein aufgeschreckter Vogel, nicht mal ein hastender Passant und kaum vertrautes Alltagsknarren.
In der Nachbarschaft werden Rollläden geschlossen, Türen sind nur angelehnt. Hinter den Fenstern bewegen sich Gardinen, wie vom Winde erregt.
Misstrauisch drehe ich den Knauf, um Gewissheit zu erfahren.
Unter dem langsam anschwellenden Knarren der Türangeln kriecht das Licht in mein Haus.
Im selben Moment ergreift mich eine tiefe Männerstimme:
„Herr Grebin? Sind Sie Daniel Grebin?“, und fordert absolute Aufmerksamkeit.
Vermummte Männer stehen entschlossen neben ihm und halten die Ramme einsatzbereit in der Hand.
Mit schwarzen Helmen auf dem Kopf und dem Schriftzug POLIZEI am Kragen steht ihnen die Spannung in die Augen geschrieben.
Schwere, schnelle Schritte nähern sich und Schatten an der Terrassentür vermute ich.
Unbeweglich, starr und kraftlos stehe ich im Raum, nicht bereit, mich zu ergeben. Sein Blick hält meine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet.
Sämtlichen Anweisungen folge ich wie dressiert.
„Kriminalpolizei! Wir müssen uns mit Ihnen unterhalten.“
Und schon stürmen Uniformierte in mein Heim, reißen Türen auf und polterten in alle Etagen.
Sich überschlagendes Stimmengewirr, schrille Signaltöne und kratzendes Rauschen schallender Funkdurchsagen.
Polizisten tragen Einsatzkoffer in das Haus und verteilten sich in den Räumen. Blitzlichtleuchten unzähliger Kameras und pulsierendes Blaulicht auf der Straße davor.
Das Interesse des Kommissars ist uneingeschränkt auf meine Person fixiert.
„Herr Grebin, sind Sie allein im Haus? Ist noch jemand hier?“, erschlägt mich die Fülle seiner Fragen.
„Herr Grebin. Kann es sein, dass Sie uns erwartet haben?“
Und da ist er wieder, dieser Geruch der Angst.
Der Mund wird pelzig, Zunge und die Stimme versagen.
Meine Kehle dörrt aus, das Schlucken wird beschwerlich und rau kratzt es im Rachen:
„Ja. Ich habe auf Sie gewartet.“

Und das tat ich die ganze Nacht.
Zusammengerollt hatte ich auf der Matratze gelegen, den Tag in Dunkelheit ersehnt, bis endlich Linien und Umrisse feine Konturen erhielten.
Erste Silhouetten hoben sich ab, aber das Umfeld hielt inne und schöpfte noch die erforderliche Kraft.
Der Tag würde Klarheit bringen! Das Morgengrauen erhob sich und durchschnitt sanft die makellose Stille. Fahrgeräusche waren zu hören und Stimmen in der Nachbarschaft. Ein eilender Zeitungsbote und fehlendes Interesse an meiner Person. Sehnsüchtig erwartet und dennoch überrascht, wich das Schwarz der Nacht dem jungen Tag. Dort wo vor wenigen Minuten Dunkelheit herrschte, wurde der Morgen mit Farbe versehen.


Jetzt stehe ich vor diesem Kommissar und seinen eindringlichen Fragen.
Ich will mich nicht im Spiegel sehen. Mir graust vor Gefühlen, die in mir etwas bewegen.
Keinem werde ich Einblick in meine Seele zugestehen?
Die regionalen Zeilen der Morgenpost geben die Geheimnisse des Abends wieder.
Bislang kannte nicht eine Sterbensseele meinen Namen und niemand wusste, wer ich bin.
Mit niemandem würde ich hier reden und ihm Nähe zur Vergangenheit gewähren.
Ich werde nicht hoffen, dass man mich hier verstehen kann.

Ein mit schrägen Faltenkanten gekerbtes Blatt Papier in der Hand.
Darauf gekrakelt ein zu kleiner Tannenbaum, ein Steinbrunnen vor dem alten Haus mit Jägerzaun zur Straße hin.
Das ist Noahs einzige betrübte Erinnerung. So grau und krumm wie das Haus selbst, beschreibt sie in dieser Kinderzeichnung den Ort des Schmerzes.
„Das ist doch Ihr Haus, Herr Grebin! Schauen Sie nur genau hin ...“, trägt der Kommissar dick auf: „... im ganzen Stadtviertel gibt es kein Haus wie dieses, mit Steinbrunnen davor und Jägerzaun zur Straße hin.“
„Es ist ein Haus, wie ein Haus mit ´nem kleinen Baum ...“, das Herz überschlägt sich bei diesen Worten, meine Stimme verliert ihren Klang, „... es ist wie da drüben, dort vorne und die janze Straße entlang“, höre ich mich persönlich reden und nehme den Zettel selber in die Hand.
Ich rieche diese Hilflosigkeit.
„Ausnahmslos Laubbäume, Herr Grebin! Dort drüben, da vorne und die ganze Straße entlang!“
„Nur weil bei mir ein Nadelbaum steht? Der auf dem Zettel ist doch viel zu klein und auch zu dünn.“
„Aber gewartet haben Sie schon auf uns!“
„Na, ich glaube, Sie sind wegen Noah hier.“
„Ist sie Ihnen denn bekannt?“
„Wir sind uns bekannt. Wir sind einander zugewandt.“
„Sie sind einander zugewandt?“
„Herr Kommissar, Sie machen ´ne viel zu große Sache draus!“
„Was heißt bekannt und zugewandt?“

Ich werde mich dieser Hetzjagd nicht ergeben, war ich es doch, der sie im Wald gefunden und gerettet hat.
Ich bin nicht der Schänder, wie von denen in der Presse beschrieben.
Mein Haus sieht nicht aus, wie durch diesen Kommissar angeblich bewiesen.
Ich wollte Noah nicht verängstigen, sie nicht bedrängen oder verletzen.
Sie war es, die zu mir ins Auto stieg.
Sie hatte mich nach Hause begleitet.
Sie lässt mich zum Opfer ihrer rostbraunen Strähnen werden.
Außerdem fuhr ich sie in die Stadt zurück.


„Mensch! Nischt ist passiert. Da war auch nischt geplant!“
Die Spuren der Nacht hatte ich längst mit Wasser von mir gerieben.
„Herr Grebin, Sie werden jetzt mit uns kommen müssen.“
Zur selben Zeit wird mein roter VW Passat Variant abgeschleppt und kann sich dagegen genauso wenig erwehren.
Und stählern klickt die kalte Handfessel sich Zahn für Zahn enger zusammen.

+++

In diesem Augenblick
„Herr Grebin, mit eiserner Geduld haben wir uns Ihre Phantasien angehört. Sie haben in den vergangenen zehn Jahren therapeutisch gut mitgearbeitet, das kann ich Ihnen nicht verwehren. Aber ich glaube nicht, dass Sie uns schon verlassen können.“ Prof. Elias L. Purschwitz schien über seine eigene Einschätzung selber gar nicht überrascht und ergänzt: „Ich denke, dass ich hier auch im Namen des gesamten Gremiums spreche, wenn ich Ihnen vorhalten muss, dass Sie Ihre damalige Tat nicht ansatzweise verarbeitet haben. Für das Gemeinwesen stellen Sie noch immer eine Gefahr dar.“

Ihr macht mir keine Angst mit diesem Gebaren, weiß ich doch, was ich erwarten kann.
Die Therapie wird mich begleiten, solange, bis ich gänzlich gehen kann.


„Daniel! Sieh mich an! Es ist sehr hilfreich, wenn du uns von deinen Träumen berichtest…“, meldet sich die Stationsärztin Frau Dr. Noah Heinrich zu Wort und fährt fort: „...aber solange du nicht aufhörst, die beiden von dir erfundenen Phantasiefiguren Elias und Noah ersatzweise an die Stelle deiner damaligen Opfer zu berufen, solange kann die Therapie bei dir auch nicht greifen. Du kannst von hier noch nicht gehen!“

Ich will doch von hier gar nicht gehen. Schlich sich eines Tages erst die Angst in mein Leben, mit gewöhnlichen Verlangen und Sorgen, so befürchtete ich schon bald, dem Wahnsinn nahe zu sein, mit rasendem Herz und schweißnassen Händen. Immer wieder überfallen von der Panik, wenn jemand diese Wesen nur erwähnte. Die Sehnsucht nach Geborgenheit war gefesselt vom Gefühl der Einsamkeit.
Nur hier kann man mich verstehen.


„Ach kleine Noah, was verbreitest du, was wir beide gestern Abend für uns zu behalten geschworen haben?“
[...]
 



 
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