genau (Limerick)

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Willibald

Mitglied
"Sie brauchen mich nicht (zu) fragen, ob ich erleichtert bin. Ich bin es", gestand Liverpools Trainer Gerard Houllier nach dem Schlusspfiff. [Mannheimer Morgen, 20.01.2003]


Tja, das ist – Attentione Fachgesimpel – eine linguistisch packende Diskussion. Hier ein paar kurze von der Diskussion angestoßene Skizzen.

1. Das Brauchen-Feld

Der berühmte „Brauchen-Satz“ hat folgenden Hintergrund: „brauchen“, vor allem „nicht brauchen“ hat auch die Bedeutung von „müssen“ oder „sollen“.

Du musst bei deiner Begabung nicht viel lernen
Du brauchst bei deiner Begabung nicht zu lernen.


Da „brauchen“ im Sinne von „gebrauchen“, „benützen“, vor allem im Sinne von „benötigen“ nicht nur ein Substantiv-Objekt (Ich brauche deine Hilfe), sondern auch ein (sehr selten) Verb-Objekt (Ich brauche es, von dir unterstützt zu werden) aufweisen kann und dieses Verb-Objekt ein Infinitiv mit „zu“ ist, wird dies auch bei der verwandten Gebrauchsweise als regelhaft angesehen:

Ich brauche nicht zu lernen – ich habe es nicht nötig/bin nicht gezwungen zu lernen.

Da nun das bedeutungsähnliche „müssen“
Ich brauche nicht zu lernen – ich muss nicht lernen
auf das „zu“ beim Infinitiv verzichtet, findet sich langsam nicht nur im mündlichen Sprachgebrauch das Weglassen von „zu“.

2. Das Feld „Dinge (zu) gestalten“

2.1 Man kann einen Infinitiv „gestalten/zu gestalten" substantivieren, erkennbar durch:

*Das Gestalten der Stunde ist ihre Aufgabe (Artikelwort)
*Sorgfältiges Gestalten der Stunde ist ihre Aufgabe (flektiertes Adjektiv)
*Beim Gestalten der Stunde sind sie frei (Präposition verschmolzen mit Artikel „bei dem“)
*Die Gestaltung der Stunden steht ihnen frei (Substantivierung mit - ung)

2.2 Das Infinitivpaket sein/das „Leben gestalten“

Versucht man dieses Paket zu substantivieren, entsteht:

Das Gestalten des Lebens/von ihrem Leben …
Beim Gestalten/der Gestaltung ihres Lebens haben sie freie Hand
Bei der Lebensgestaltung haben sie …


Man erkennt: Unsere Sätze tendieren dazu, das „Leben“ aus dem Paket herauszunehmen und nach hinten zu ziehen. Weniger gebräuchlich: Das Objekt „Leben“ vorne lassen. Wenn man´s macht, ist üblich:

*Zusammengesetztes Substantiv: Lebensgestaltung
*Bindestrich-Format: Das-Leben-Gestalten, Das-sorgfältig-Leben-Gestalten, Beim-sorgfältig-Leben-Gestalten

*Zitatformat: Beim „Sorgfältig-Leben-Gestalten“

In allen drei Techniken versucht man das Paket durch eine Bindung/Verschnürung zu signalisieren.

2.3 Lexikalisierung


Nun scheint es so zu sein, dass bestimmte Wendungen bereits gebräuchlicher sind (lexikalisiert), also in unser sprachliches Lexikon im Gehirn aufgenommen.

Von daher ist denn auch das zusammengesetzte Substantiv meist erste Wahl:

Die Lebensgestaltung, das Teetrinken, das Autofahren, die Plakatgestaltung, das Hundehalten/die Hundehaltung, das Gedicht(e)lernen, die Honorargestaltung

Bei Formulierungen fern vom Standardlexikon scheinen die anderen Pakettypen den Vorzug zu haben:

Die „Dinggestaltung“ ist – anders als „Honorargestaltung“ - eher ungebräuchlich, also greift man zu „Das-Dinge-Gestalten“, „beim Dinge-sorgfältig-Gestalten“, vielleicht auch zu beim „Dinge gestalten“ (!).

Hier - beim „Dinge gestalten“ - wirken die Zitatzeichen als Paketschnüre, eine seltene, aber mögliche Lösung. Vielleicht geht auch bei/in „Dinge gestalten“ (Bernd)

3. Der Limerick vom Horst

Nun ist dein Limerick ja eine poetische Form mit gewissen Freiheiten und Lizenzen.

So ist denn bereits die Einleitung ein Spielen mit Sprache: Die Präposition „in“ wird im gleichen Satz lokal gebraucht „in Zwiefalten“, aber dann auch „spartentechnisch“ (im Gestalten von Dingen“, „im Schulunterricht“).

Zweitens geht es um eine adversative Wendung: In den ersten Zeilen ist die Genauigkeit eher gerühmt, dann aber wird mit dem „doch“ die Haarspalterei eingeführt und unser Horst erscheint pingelig-kauzig-komisch.

Nun könnte man den Limerick und seine Orthografie-Diskussion – wie es ja Trainee schon angedeutet hat – als eine verdckte Spiegelung von Pingelei und Freiheit sehen. Dann wäre also das hier als eine komplexe Zweit-Version für Eingeweihte und Einweihungswillige ein Zuckerschlecken:

[blue]Genau war der Horst in Zwiefalten
und sorgsam im Dinge Gestalten/Dinge-Gestalten/Dingegestalten/„Dinge-Gestalten“.
Auch im Schulunterricht
war Genauigkeit Pflicht,
doch dann - s.o.- hat er Haare gespalten.[/blue]

greetse von/vom Horst
 

Label

Mitglied
Liebe Ciconia
ich gehe davon aus, dass Du einen Lehrer vor Augen hattest?
Nein. Zu einem kleinen Teil kam die Inspiration aus den hiesigen Fachsimpeleien, zum Größeren aus einer Begebenheit aus Jugendtagen.
Den gleichaltrigen Reinhardt habe ich kurzerhand in die nächstbeste einsilbige Limericktauglichkeit verwandelt. Auch der Ort ist der Limerickvorgabe geschuldet und der einzige Ort in der Bundesrepublik, der auf „alten“ endet.
Mit jenem Reinhardt, ein Horst geübter Pedanterie, hatte ich einen Disput, als ich seinen präzisierenden Redebedarf mit einer schnippischen Bemerkung abschnitt und mich abwand, um mich Interessanterem zu widmen. Daraufhin erhielt ich einen schmerzhaften Schlag auf den Kopf von seinem Holzlineal. Mit der flachen Seite, so dass eine haarspalterische Absicht eigentlich nicht eindeutig nachgewiesen werden kann.
Liebe Ciconia, beim Lesen eines Textes entstehen Bilder im Kopf des Lesenden, die sich natürlich an dessen Erfahrungen und Vorstellungen orientieren. Die Linealerfahrung hattest du wohl nicht. Ich denke, du kannst jetzt nachvollziehen, dass ich keine wesentlichen Änderungen machen möchte.

Liebe Heidrun, es freut mich wirklich außerordentlich, dass mein Limerick dein Gefallen findet.

Lieber Bernd und lieber Willibald
Habt herzlichen Dank für eure ausführlichen Erläuterungen und die Bemühungen mich von etwas Ahnungslosigkeit zu befreien.

Insgesamt eine höchst erfreuliche Diskussion – nachgerade vorbildlich und auch vergnüglich.
Herzlichen Dank an Alle
Label
 

Willibald

Mitglied
Fand die linguistische Seite so interessant, weil vermutlich ein Zusammenhang besteht zwischen dem Gestalten-Ding und der Brauchen-Regel. Und damit zeigt sich bei Label, wie unser Bewusstsein mit Regeln und Normen umgeht.

Labels Lehrerin hielt es für durchaus elegant, das "zu" bei "brauchen" wegzulassen.

Label stellt hier eine Frage nach der Korrektheit der Formulierung:

"Genau war der Horst in Zwiefalten und sorgsam im Dinge zu gestalten"

Vielleicht im Hintergrund der Frage, dass man auch hier das "zu" weglassen kann ... und schon ist man bei der ersten Fassung des L.:

"Genau war der Horst in Zwiefalten und sorgsam im Dinge () gestalten"

Nun und dann ging der vergnügliche Disput los, der allerdings über weite Strecken vor allem Linguisten beglückt.

https://www.google.de/url?sa=i&rct=...aw0WGjKQ2FoUSj7y_HYN4bc8&ust=1529493260640343
 



 
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