RobertMarkus
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GENESIS
ZEHN
[ 4]Die wichtigste persönliche Eigenschaft, um eine terroristische atomare Bedrohung in einer Großstadt wie Hamburg entschärfen zu können, ist der Tunnelblick. Man muss den ganzen privaten Kram hinter sich lassen und sich nur auf die direkt vorliegende Aufgabe konzentrieren können.[ 4]Die Lieblingstante kann vor einer Woche gestorben sein. Egal.
[ 4]Man kann gerade im unteren vierstelligen Bereich im Lotto gewonnen haben. Im Moment völlig nebensächlich.
[ 4]Selbst wenn man seine Ehefrau, mit der man seit vierundzwanzigeinhalb Jahren verheiratet ist, eines Abends - nur weil man ausnahmsweise mal an einem Dienstag zwei Stunden früher von der Arbeit kommt - mit seinem "besten" Freund in der Küchenzeile nackt auf dem Boden erwischt... Der Fokus liegt ganz allein auf der Sprengkraft von knapp 39 Kilotonnen TNT vor einem.
[ 4]Es geht nur um den Augenblick.
[ 4]39 Kilotonnen. Das ist fast die doppelte Sprengkraft von "Fat Man", Nagasaki. Ganz ordentlich. Da bleibt vom Hamburger Hafen und der Innenstadt nichts übrig.
[ 4]Nicht mal eine kaputte Ehe.
[ 4]Wo war ich?
[ 4]Eine stinknormale Atombombe zu entschärfen ist gar nicht so schwer, also wenn man sich mit der Materie auskennt. Das Hauptziel ist immer, die Kettenreaktion im Kern zu unterbinden, die letztlich dazu führt, dass diese riesigen Mengen an Energie freigesetzt werden, die die Luft in Brand setzen, die Landschaft einebnen, einen hübschen Krater hinterlassen und den Sand der Umgebung in grünliches Glas einschmelzen.
[ 4]Hat man es aber mit einer garstigen Atombombe zu tun, wo Experten herumgewerkelt haben, die sich nicht nur mit Nukleartechnik, sondern auch mit der Manipulation von modernen Zündern auskennen, dann ist die Sache ungleich diffiziler.
NEUN
[ 4]Zeitdruck.[ 4]Zeitdruck ist immer schädlich.
[ 4]Es kommt immer wieder vor, dass bei Bauarbeiten ein Blindgänger aus dem zweiten Weltkrieg gefunden wird. Und mit Blindgänger meine ich eine Fliegerbombe, deren chemisch-mechanischer Langzeitzünder versagt hat. Heimtückische kleine Biester. Wenn die Menschen nach einem Luftangriff die Schutzräume verließen, waren diese Bomben ein geschicktes aber hinterhältiges Mittel, um Lösch- und Bergungsarbeiten zu verhindern. Einen spürbaren Zeitdruck bei der Entschärfung solcher Hinterlassenschaften gibt es nicht, sofern man ruhig und bedacht vorgeht und jegliche Erschütterung vermeidet.
[ 4]Zwischen zehn und zwanzig Prozent der abgeworfenen Fliegerbomben im 2. Weltkrieg waren Blindgänger. Das ist hier ist bestimmt kein Blindgänger.
[ 4]Hier wusste jemand genau was er tat.
ACHT
[ 4]Bei jeder normalen Bombenentschärfung werden in einem großen Umkreis - der sogenannten Sperrzone - alle Anwohner evakuiert, so dass, wenn etwas schief läuft, nur Sachschaden zu beklagen ist - vom bedauerlichen Kerl abgesehen, der den falschen Draht gekappt hat. Wenn man allerdings nur knapp 39 Minuten Zeit hat, eine Plutionium-Implosionsbombe zu entschärfen, dann ist eine Evakuierung der gesamten Stadt unmöglich und es stehen knapp 1,8 Millionen Menschenleben auf dem Spiel. Naja, minus des Ex-Freundes und des betrügerischen Weibstücks, um die es nicht Schade ist. Hey, das wäre eine ziemlich heiße Scheidung. Ha!SIEBEN
[ 4]Ich war ein jähzorniges Kind. Ich kann mich nicht selbst daran erinnern, aber mir wurde erzählt, dass ich mit 4 Jahren in einem Wutanfall meiner Mutter mal beinahe einen Finger abgebissen habe. Vielleicht war es nur eine Geschichte um kleinen Kindern Angst zu machen, aber meine Mutter hatte zumindest immer diese große Narbe am rechten Zeigefinger, die auch verheilt verdammt übel aussah.[ 4]Mit 15 Jahren haben wir dann eine Klassenfahrt in den Harz gemacht. Wie immer galt, wer zuerst kam, bekam eines der oberen Etagenbetten. Ich war damals flink wie ein Wiesel und hatte mir das beste Bett der Jugendherberge geschnappt. Als ich nach dem Abendessen wieder in unser Zimmer kam, hatte Jan-Ole Berthold meine Matratze samt Bettlaken und Bettwäsche vom Bett heruntergezogen und in die Mitte des Raumes verfrachtet. Er thronte auf MEINEM BETT mit seiner Matratze und Bettzeug und grinste auf mich herab. In diesem Moment brannten bei mir alle Sicherungen durch. Ich glaube, Jan-Ole hat heute auf dem rechten Auge nur noch eine Sehkraft von 25 Prozent. Ein Glück tauchen solche eher unschönen Erinnerungen nicht auf dem polizeilichen Führungszeugnis auf.
[ 4]Heutzutage könnte ich Buddha Konkurrenz machen. Ich handele nach dem Motto: Leben und Leben lassen. Ich bin so voller Ruhe und Gelassenheit, dass meine Freunde regelrecht Angst um mich haben. Sie sagen: "Du darfst nicht alles in Dich hinein fressen, insbesondere nach all dem, was Dir Deine Frau angetan hat! Irgendwann kriegst Du noch Magengeschwüre oder Krebs oder was Schlimmeres."
Was meine Freunde nicht verstehen: Es kommt auf das richtige Atmen an. Es gibt Atemübungen, die einen vollkommen entspannen können. Selbst in den stressigsten Situationen. Selbst wenn Dir Deine Ehefrau gesagt hat, dass Deine fünfzehnjährige Tochter, nicht Deine leibliche Tochter ist, sondern von irgendeinem Penner, den sie nachts in einer Bar kennengelernt hat.
[ 4]Einatmen. Ausatmen.
[ 4]Einatmen...
[ 4]Ausatmen...
SECHS
[ 4]Sirenen.[ 4]Als würde das jetzt noch etwas bringen. Wie viele Bunker in Hamburg sind denn noch im Betrieb? Und welche davon schützen vor dem nuklearen Holocaust?
[ 4]23 Minuten.
FÜNF
[ 4]12 Minuten.[ 4]Was mich am meisten gestört hat, war nicht, dass mich meine Frau mit meinem besten Freund betrogen hat. Es waren die Lügen. So viele Lügen, über so lange Zeit.
Als ich die beiden auf dem Boden in der Küche erwischte, war ich gar nicht mal darüber erstaunt, dass die beiden es miteinander trieben. Ich war erstaunt darüber WIE sie es miteinander trieben.
[ 4]Ich hatte meiner Frau vor gar nicht allzu langer Zeit vorgeschlagen, mal etwas Ähnliches zu versuchen, um unsere Ehe etwas aufzupeppen und damals blickte sie mir seelenruhig in meine Augen und sagte mir mit unüberhörbarer Empörung in der Stimme, dass aus sie religiöser Überzeugung niemals etwas so Widerwärtiges machen würde.
[ 4]Jetzt bin ich überzeugt, sie meinte damals nicht den Akt selbst. Sie meinte mich.
VIER
[ 4]Na wunderbar. Jetzt kommen die Kopfschmerzen. Immer wenn die Anspannung am größten ist, kommen bei mir diese hämmernden Kopfschmerzen.[ 4]Zumindest ist meine Tochter in Sicherheit. Schüleraustausch. Phoenix, Arizona. Das ist weit, weit weg.
[ 4]Sie ist zwar nicht wirklich meine Tochter. Aber irgendwie ist es sie doch. Sie redet wie ich, sie guckt oftmals genau wie ich. Sie denkt sogar manchmal wie ich. Sie hat auch manchmal diese Momente, wo sie von einer Sekunde auf die andere etwas Dummes tut, weil sie meint, dass sich die Welt gegen sie verschworen hat. Die Gene machen einen Menschen zu dem was er ist, aber eben nur bis zu einem bestimmten Punkt. Die Erziehung und das Umfeld sind mindestens genauso wichtig. Und sie war immer schon eher ein Papakind.
[ 4]Diese Kopfschmerzen bringen mich um. Noch bevor die Bombe das erledigt.
DREI
[ 4]Es wird eng. In drei Minuten geht pünktlich zu Mitternacht in Hamburg ein Licht an, das heller ist als tausend Sonnen. Das heißt, wenn ich es nicht verhindere. [ 4]Die Bundeskanzlerin und ihr Kabinett übersenden per Funk Ihre Grüße.
[ 4]Egal wie es ausgeht, sagen Sie mir - sie danken für meinen Dienst am Land. Und sie sind sicher, dass ich mein Bestes tue. Und dass sie überzeugt sind, dass ich es schaffen werde. Und, und, und...
[ 4]Ich habe das Funkgerät ausgeschaltet. Muss mich konzentrieren.
[ 4]Das Problem mit Terroristen ist, dass sie sich für so unendlich schlau halten. Wenn sie dann auch noch religiös verblendet sind, dann kommt ein Schuss Größenwahn hinzu, da ja Gott mit Ihnen ist. Und wenn so etwas passiert, dann wird man leichtsinnig. Dann achtet man vielleicht nicht in allen Einzelheiten auf die Details und SCHWUPP! Es gibt eine Schwachstelle im System.
[ 4]Nehmen wir zum Beispiel meinen ehemaligen besten Freund. An einem Tag vögelt er noch meine Frau und keine zwei Wochen später, ist er von der Bildfläche verschwunden. Niemand weiß, wo er so plötzlich abgeblieben ist. Weder seine Familie, noch seine Nachbarn haben eine Ahnung. Auf der Arbeit hat er sich nicht gemeldet. Auch meine Ehefrau hat kein Sterbenswort mehr von ihn gehört. Da fällt eventuell der Verdacht auf mich, dass ich etwas damit zu tun gehabt haben könnte.
[ 4]60 Sekunden.
[ 4]Aber ich war in dieser Zeit im Ausland. Nachweisbar. Ein Flug an die Costa Brava. Eingecheckt im Hotel und zum Schluss wieder persönlich ausgecheckt und mit einem Linienflug zurück. Da wäre es verrückt zu glauben, ich wäre zum Beispiel mit einem nicht auf mich gemeldeten Wagen direkt nach dem einchecken heimlich zurück nach Hamburg gefahren und hätte ihm einen Besuch abgestattet. Mit einem Haufen Flusssäure im Kofferraum zum Beispiel. Und ein paar Plastikwannen. Das wäre Irrsinn. Da ist KEINE Schwachstelle im System.
[ 4]Anders als hier.
ZWEI
[ 4]Das war's.[ 4]In den USA gab es Konfettiparaden für die Heimkehrer aus dem 2. Weltkrieg. So etwas haben wir hier nicht, aber ich schätze, zumindest das Bundesverdienstkreuz ist mir sicher. Menschen des Jahres bei Günther Jauch. Vielleicht ein paar Werbeverträge. Schließlich habe ich nicht nur die 1,8 Millionen Bewohner der Stadt gerettet. Der Fallout nach einer Detonation hätte mindestens die gleiche Anzahl über die folgenden Jahre und Jahrzehnte getötet.
EINS
[ 4]Herr über Leben und Tod. Wer sich anmaßt, darüber entscheiden zu können oder zu wollen, ist verrückt. Und doch wurde mir diese Entscheidungsgewalt aufgezwungen. Ich hätte einfach abwarten können, bis die Zeit abgelaufen wäre. Keiner hätte gewusst, dass es mein Wille war. Alle wären von einem Unfall ausgegangen. Oder das die Zeit nicht ausgereicht hätte. Noch jetzt wäre es kein Problem, den Zünder wieder zu reaktivieren und die mehreren Schichten an TNT rund um den Kern zur Explosion zu bringen. Die Energie der Explosion richtet sich ins Innere, komprimiert das Plutonium im Zentrum der Kugel so stark, dass die Masse kritisch wird und... BUMM![ 4]All das würde im Bruchteil einer Sekunde passieren. Kürzer als ein Augenblinzeln. Kein Seufzen. Keine Schmerzen. Keine Ehefrau. Ich müsste nur diese beiden Kabel mit einander verbinden.
[ 4]Wie sagte einst Robert Oppenheimer in einem Interview nach der Zündung der ersten Atombombe: "Jetzt bin ich zum Tod geworden, der Zerstörer der Welten."
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[ 4]Es werde Licht.