Genesis oder beiß nicht gleich in jeden Apfel

Genesis oder beiß nicht gleich in jeden Apfel

Mir meiner Nacktheit nach dem Biss in den Apfel bewusst werdend, erwürgte ich Eva mit einer Schlange, die vor mir im Staube kroch. Ich stellte meine Ernährung um, von knackigen leuchtenden Äpfeln auf schrumpelige, schwarze Dörrpflaumen, zog mein Adamskostüm wieder an und blieb fortan für mich allein im Garten Eden, gegen Osten hin. Mit dem weiteren Fortgang der Menschheitsgeschichte habe ich persönlich, gegenüber den vielen, anders lautenden Gerüchten, aber auch überhaupt nicht mehr das Geringste zu tun.

Dann und wann kamen zwei Jünglinge in meine Einsiedelei. Ihre Namen, sagten sie, seien Kain und Abel. Die Geschichte ihrer Zeugung und Herkunft, so wurde gemunkelt, lag etwas ungeklärt im Dunkel der Schöpfungsgeschichte. Sie erzählten viel von dem Leben außerhalb des Gartens, über Hass, Missgunst und Begierden. Als sie nicht mehr kamen, wunderte ich mich eine Zeitlang, Dann hörte ich, dass Kain seinen Brüder Abel in einem Streit über die Früchte des Feldes erschlagen hatte.

Ich aber ignorierte diese Früchte des Feldes und ernährte mich weiter von Dörrpflaumen. Mit dieser vegetarischen Ernährungsweise erreichte ich ein hohes, biblisches Alter. Am Ende eines langen, und erfüllten Lebens wurde ich in einer ergreifenden Zeremonie zum ersten und bisher einzigen Paradiesbewohner „honoris causa“ ernannt. Zu meiner Ehre und zur bleibenden Erinnerung an mich, wurden an geeigneter Stelle zwei Pflaumenbäume gepflanzt. In der Nähe der Bäume schuf man eine große, flache Marmorplatte, groß genug, um eine Menge von Pflaumen trocknen zu können. Die Fläche war an den vier Ecken eingefasst von jeweils unterschiedlichen, einer Dörrpflaume nachgebildeten Figur.

Der Entwurf zu den Figuren beruhte auf der Skizze eines kleinen Engels mit Namen Michael. Dieser sollte später, in einem anderen Teil der Welt, unter dem Namen Michelangelo zu Ruhm und Ansehen gelangen. In die Marmorplatte wurde die Geschichte von mir, dem ersten Vegetarier im Paradies, in großen und erhabenen Lettern in den Marmor eingemeißelt, um für immer und ewig für die Nachwelt festgehalten zu werden.

An einem bestimmten Tag in Jahr, immer dann, wenn die ersten Dörrpflaumen ihren einmaligen, paradiesischen Geschmack voll entfalten, wird zum Gedenken an mich der „Tag der paradiesischen Dörrpflaume“ begangen. Die weniger privilegierten, ja, auch diese gibt es, leider, im Paradies, kommen an diesem Tag nicht in den Genuss von Dörrpflaumen. Sie müssen sich damit zufrieden geben, mit Früchten von einem Baum in der Mitte des Gartens abgespeist zu werden, der einer Sage nach, in grauer Vorzeit, durchaus ein Objekt der Begierde gewesen sein soll. Jetzt dient er aber, mehr oder weniger, nur noch dazu, die Unbilden das Wetters abzuhalten und als Behausung für Schlangen aller Art.

Zum Abschluss des „Tages der paradiesischen Dörrpflaume“ wird in jedem Jahr in einer bewegenden Zeremonie ein Bastkorb, gefüllt mit den schönsten Exemplaren der aktuellen Dörrpflaumernte, auf mein Grab gestellt. Das Grab liegt auf einer kleinen Anhöhe. Von dort aus habe ich einen wunderschönen Blick auf die zwei Pflaumenbäume mit der angrenzenden Marmorplatte sowie auf einen großen Teil des Garten Edens, der meine Heimat war, meine Heimat ist und meine Heimat in alle Ewigkeit bleiben wird.
 



 
Oben Unten