nisavi
Mitglied
Memory is the diary that we all carry with us.
(Oscar Wilde: The Importance of being Earnest)
Georg war wach, der Lärm der Flugzeuge, die zur Landung im nahegelegenen Tegel ansetzten, hatte ihn unsanft aus dem Schlaf gerissen.
Er verharrte reglos mit geschlossenen Augen .Vielleicht konnte er so die verschwimmenden Nachtbilder und ihre leisen Töne am Fliehen hindern.
Stimmgewirr drang an sein Ohr, Geschirrklappern war zu hören, es roch nach frisch gebrühtem Kaffee - die Geräusche und Gerüche des Morgens tröpfelten in seine Traumfragmente wie die Elektrolytlösung in seine Venen.
Er verspürte den Wunsch, sich die Kanüle aus dem Arm zu reißen, hatte Lust, Tassen, Teller und Schüsseln zu zerschlagen. Es sollte einfach still sein.
Der bittere Geschmack des Morgens verursachte ihm Übelkeit.
Früher, als sie noch als Ärztin in der Klinik arbeitete, hatte sie gern lange geschlafen. Seit sie jedoch Rentnerin, war, Pensionärin, wie es vornehm hieß, erwachte sie stets früh. Sie stand dann vorsichtig auf, ging leisen Schrittes in den Wintergarten, setzte sich, gehüllt in ein orangefarbenes Wollplaid, in einen abgewetzten alten Sessel und beobachtete aus halbgeöffneten Augen, wie sich die Dämmerung vom Glashaus fangen ließ.
Sie liebte diese grünen Stunden, in denen die Amseln zu zwitschern begannen und lauschte dem Donnern der S-Bahn-Züge in der Ferne. Die Nachbarn öffneten scheppernd ihr Garagentor und fuhren zur Arbeit. Eilige Schritte waren zu hören, die Stimmen der Passanten kamen näher – hin und wieder verstand sie sogar einzelne Worte der morgendlichen Konversationen – entfernten sich und fügten sich in den Rhythmus des erwachenden Morgens.
Manchmal, wenn die Regentropfen eine monotone Melodie in die Scheiben trommelten, kam es vor, dass sie noch einmal einschlief. Sie erwachte dann mit dem Gefühl, das Wichtigste vom Tag, sein Werden, verpasst zu haben.
Erst wenn es ganz hell geworden war, erhob sie sich, streifte die Decke ab und bereitete in der Küche das Frühstück.
Er war wieder der an Windpocken erkrankte sechsjährige Junge gewesen, der schwitzend und mit juckender Haut im Dunkel des elterlichen Schlafzimmers lag. Von Zeit zu Zeit tauchte er aus Halluzinationen auf: allein und verlassen fühlte er sich. Er rief nach der Mutter, die in der benachbarten Küche hantierte. Geduldig antwortete sie ihm jedes Mal mit sanfter Stimme, zuweilen trat sie an sein Bett und legte ihre kühle weiße Hand auf seine Stirn.
Er dämmerte dann hinüber in andere, hitzige Fieberträume.
Auto war er gefahren, rasant und schnell, vorbei an abgeernteten Getreidefeldern. Aus den Augenwinkeln hatte er Greifvögel wahrgenommen, sie saßen an den Rainen wie stumme Wächter und schienen ihn zu beobachteten.
Der Duft des Kaffees lockte auch ihren Mann aus dem Bett. Mit schlurfenden Schritten, die Zeitung in der Hand, kam er in die Küche und setzte er sich an den gedeckten Tisch. Sie frühstückten ausgiebig, meist schweigend. Die Uhr tickte; wenn ihr Mann eine Seite umblätterte, blickte er kurz auf. Er studierte als erstes den Sportteil, sie widmete sich den Kulturnachrichten und löste anschließend Rätsel.
Heute jedoch war sie nicht bei der Sache. Es fiel ihr schwer, sich auf Sätze, Wörter, Buchstaben und Zahlen zu konzentrieren. Drei waagerecht: ein Raubvogel mit sieben Buchstaben. Immer wieder musste sie an den gestrigen Anruf denken.
Zwei senkrecht: ein 1774 entdecktes chemisches Element.
Sie hatte vergeblich versucht, der Stimme am anderen Ende der Leitung ein Gesicht zu geben.
Er ahnte, dass er die heraufbeschworenen Erinnerungen allmählich an das Tageslicht verlor, hinter seinen geschlossenen Lidern erhellte es bereits den gesamten Raum.
Wenn er die Augen öffnete, würde er den Efeustuck an der Decke erblicken. Er konnte den Blick zu den alten Kleiderschränken wandern lassen, von denen die Farbe abblätterte. Er würde den Schreibtisch sehen, auf dem seine Frau Medikamente und Pflegeutensilien lagerte. Den Rollstuhl, der es ihm ermöglichte, an den wenigen guten Tagen das Haus zu verlassen. Ein Sauerstoffgerät, das für Erleichterung sorgte, wenn er Probleme mit der Atmung hatte.
Noch aber war er nicht bereit für den Anblick eines Krankenzimmers.
Georg nahm all seine Kraft zusammen und versuchte ein letzten Traumfetzen zu fassen. Zu seiner Verwunderung gelang ihm das auf Anhieb. Für Bruchteile von Sekunden schaute er in das Gesicht eines Mädchens. Er erkannte sie sofort: Martha.
Sie wäre die Ehefrau eines ehemaligen Mitschülers, erklärte die Anruferin.
Ihr Name klang fremd.
Lag vielleicht eine Verwechslung vor? Nein, nein, beteuerte die Frau fast ängstlich, dies sei ausgeschlossen. Sie beschrieb die Erweiterte Oberschule einer brandenburgischen Kleinstadt und sprach vom damaligen Klassenleiter.
Undeutlich spiegelte sich ein Backsteingebäude im Küchenfenster. Das Treppenhaus dort roch unangenehm muffig. Schritte hallten. Eine Tür wurde zugeschlagen.
Was wollte dieser Mitschüler von ihr, nach all den Jahren? Wie hatte er sie ausfindig gemacht? Wenn die Angaben stimmten, war sie lediglich ein paar Jahre mit ihm zur Schule gegangen.
Er wolle sich mit ihr treffen, in einer bestimmten Angelegenheit. Die Stimme der Frau hatte einen fast beschwörenden Ton jetzt. Es sei wichtig, wirklich wichtig. Der Krebs ihres Mannes schreite voran, so dass die Zeit dränge.
Wann es ihr passen würde?
Der Kranke schlug die Augen auf und drehte sich vorsichtig auf die Seite. Sein Herz schlug unregelmäßig, er holte tief Luft.
Wie oft mochte er im Laufe seines Lebens von diesem Mädchen geträumt haben?
Es hatte Phasen gegeben, in denen sogar ihr Name verblasst war: bei der Armee, im Studium, während der ersten Ehejahre.
Dann aber kehrten die zwei Silben in sein Gedächtnis zurück und Martha blickte aus großen blauen Augen in seinen Schlaf, fragend und verständnislos, so wie damals.
Warum sie zugesagt hatte? Sie wusste es nicht. Vermutlich war es der bittende Ton in der Stimme der Frau gewesen. Möglicherweise hatte auch die Erwähnung der Krankheit des ehemaligen Mitschülers dazu geführt, dass sie einer Zusammenkunft zugestimmt hatte.
Sie war neugierig und sie hatte Zeit, viel Zeit.
Die Gaststätte, in der sie sich treffen würden, lag in einer belebten Straße unweit des Zentrums.
Ihr Mann blickte auf, als sie Zeugnisse und alte Fotos vom Boden holte.
Vergilbte Aufnahmen vom Schulanfang: Zopfmädchen in geblümten Sommerkleidern, die krampfhaft zu lächeln versuchten. Jungen, die sich mühten, gerade zu stehen. Einer von ihnen musste er sein.
Aufnahmen von einer Klassenfahrt hatte sie gefunden. Damals war sie 15 gewesen, sie waren nach Weimar gefahren, hatten das Goethe haus im Ilmpark besucht. Sie erkannte die Baracken des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald.
Wenige Wochen nach dieser Exkursion hatte sie die Schule verlassen müssen.
Der Direktor der EOS, ein grobschlächtiger Mann mit rotem, narbigen Gesicht, hatte erklärt, warum Martha nicht länger Schülerin seiner Schule sein dürfe. Sie würde ihren Platz im Leben finden, gewiss. Er wünsche ihr dies von Herzen. Als Christin und Nichtmitglied der FDJ käme ihr, und das würde sie sicher verstehen, keine größere Rolle bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu. Da bedürfe es tatkräftiger, ideologisch geschulter Menschen. Stolz verwies er auf die hohe Zahl von Berufsoffiziersbewerbern unter den Abiturienten, auf Schülerinnen und Schüler, die bereits den Antrag auf Aufnahme in die SED gestellt hätten und auf Schulabgänger, die an den ausgezeichneten pädagogischen Hochschulen des Landes studierten.
Die Stimme des Mannes überschlug sich vor Begeisterung und er wischte sich mit einer schnellen Handbewegung den Speichel von den Lippen.
Zufrieden verlas er eine Erklärung, in der sich auch Lehrerkollegium und Schülervertreter für den Schulausschluss von Martha aussprachen. Sie empfahlen den Wechsel an eine polytechnische Oberschule und wünschten viel Erfolg für ihr weiteres Leben.
Auch er, Georg, gehörte zu den Unterzeichnern des Dokumentes. Als einer der ersten hatte er seinen Namen mit schwarzer Tinte darunter gesetzt.
Martha saß allein in einer Bank, wie hinter einer Glasscheibe. Sie trug einen rostfarbenen Strickpullover und hatte ihre langen blonden Haare zu Zöpfen geflochten. Den Blick hielt sie gesenkt. Es sollte einfach vorbei sein.
Dunkle, filzige Stille kroch aus den Scheuerleisten. Die Mitschüler schwiegen und die anwesenden Lehrer, die meisten von ihnen trugen das blaue Hemd mit der aufgehenden Sonne, blickten hilfesuchend zum Schulleiter. ER musste die Aussprache beenden, sonst würde keiner es wagen, den Raum zu verlassen.
Pausenklingeln. Eine andere Klasse verließ lärmend das Nachbarzimmer.
Schließlich erhoben sich auch einige der Lehrer. Für sie war der Fall, dem zahlreiche Parteiversammlungen und Beratungen vorausgegangen waren, abgeschlossen.
Einige der Schüler folgten ihnen gebeugt-hastig, ohne sich noch einmal umzusehen. Auf dem Flur entkamen sie endlich dem Schweigen, indem sie belanglose Gespräche begannen.
Andere gingen langsam und nachdenklich aus dem Zimmer. Viele sahen verstohlen zurück:
Martha spürte ihre Bussardblicke.
Georg hatte nach dem Direktor als letzter den Raum verlassen und sich erst an der Tür umgedreht. Martha hob den Kopf und sah ihn aus großen blauen Augen an: fragend, verständnislos und traurig.
Er hatte sie nie wieder gesehen in der Kleinstadt am Rande des Spreewaldes.
Keiner seiner Freund erwähnte in den folgenden Jahren auch nur ihren Namen. Es war, als hätte es die Versammlung nie gegeben.
Georg bestand wie die meisten seiner Altersgenossen das Abitur und erhielt sein Abschlusszeugnis aus den Händen des rotgesichtigen Direktors.
Nach Ableistung der Zeit bei der NVA wurde er Jurastudent, weil er glaubte, etwas bewegen zu können.
Auf einer Reise an die bulgarische Schwarzmeerküste lernte er eine Psychologiestudentin kennen, die seine Frau wurde. Sie war ein sanftes Mädchen gewesen, klug, belesen und eigenwillig. Es gab ein Schwarzweißfoto von ihr aus dieser Zeit. Wenn er es betrachtete, roch er das Meer und den Duft ihrer jungen Haut.
Die Ehe war kinderlos geblieben.
Seine Frau war die einzige, der er jemals von seinen Bedenken erzählt hatte, irgendwann. Dabei hatte er verschwiegen, dass ihn das Tribunal im Klassenzimmer immer verfolgte.
Er hatte daran denken müssen, als Panzer über Alleen rollten. Martha hatte ihn in sein Büro im Ministerium begleitet und er war ihr während seiner Diplomatenzeit in Genf begegnet. Er erinnerte sich an ihre geflochtenen Zöpfe, wenn die Nichten im Garten spielten.
Der Mann, der sich ihr unsicher lächelnd zuwandte, als sie das Restaurant betrat, war ihr fremd. Er hatte nicht mehr lange zu leben. Finalstadium. Wie oft hatte sie kranke Menschen und deren Angehörige durch diese Phase des Erstickens und der Schmerzen begleitet? Manchmal hatte sie geglaubt, die Ohnmacht nicht mehr ertragen zu können.
Unendlich langsam stand Georg auf und begrüßte Martha schweigend. Ganz zart und warm war seine Hand, wie die eines Kindes.
Alle Zweifel eines Lebens hatten sich in sein Gesicht eingegraben. Die Züge um den Mund herum waren bitter. In den unnatürlich großen Augen jedoch las sie, dass er das Vergehen seines Tages angenommen hatte.
Verlegen fuhr er sich durch das schüttere graue Haar. Dann begann er zu sprechen, flüsternd. Sie wusste: jedes dieser Worte hatte er sich hundertfach in seiner Dunkelheit, in Fieberträumen und Schmerzen, zurechtgelegt.
Er bat sie um Verzeihung. Um Verzeihung dafür, dass er ihren Schulaussschluss in seiner Funktion als FDJ-Sekretär befürwortet hatte.
Sie wiegelte nicht ab. Martha beugte sich nach vorn, um besser verstehen zu können: sie hörte ihm zu.
Als die Stimme des Mannes schließlich versagte, legte sie ihre kühle Hand auf die seine. Es war ganz still.
Dann erzählte sie ihm, wie sie mit ihren Eltern die Republik verlassen hatte und nach Westberlin gezogen war. Sie erwähnte ihr Abitur, das Medizinstudium in Tübingen, ihren Mann, die Kinder.
Als sie Georg`s Frau in der Tür stand, verabschiedeten sie sich. Sie tat etwas, was sie gewöhnlich vermied: sie umarmte den Mann. Es war so leicht gewesen.
Die Flugzeuge starteten und landeten auf dem Flughafen.
Georg war wach. Er beobachtete, wie sich das grüne Licht des Morgens im Zimmer fing und hörte, wie Regentropfen eine Melodie an die Fensterscheiben trommelten. Es wurde hell.
Sein Tag verging.
(Oscar Wilde: The Importance of being Earnest)
Georg war wach, der Lärm der Flugzeuge, die zur Landung im nahegelegenen Tegel ansetzten, hatte ihn unsanft aus dem Schlaf gerissen.
Er verharrte reglos mit geschlossenen Augen .Vielleicht konnte er so die verschwimmenden Nachtbilder und ihre leisen Töne am Fliehen hindern.
Stimmgewirr drang an sein Ohr, Geschirrklappern war zu hören, es roch nach frisch gebrühtem Kaffee - die Geräusche und Gerüche des Morgens tröpfelten in seine Traumfragmente wie die Elektrolytlösung in seine Venen.
Er verspürte den Wunsch, sich die Kanüle aus dem Arm zu reißen, hatte Lust, Tassen, Teller und Schüsseln zu zerschlagen. Es sollte einfach still sein.
Der bittere Geschmack des Morgens verursachte ihm Übelkeit.
Früher, als sie noch als Ärztin in der Klinik arbeitete, hatte sie gern lange geschlafen. Seit sie jedoch Rentnerin, war, Pensionärin, wie es vornehm hieß, erwachte sie stets früh. Sie stand dann vorsichtig auf, ging leisen Schrittes in den Wintergarten, setzte sich, gehüllt in ein orangefarbenes Wollplaid, in einen abgewetzten alten Sessel und beobachtete aus halbgeöffneten Augen, wie sich die Dämmerung vom Glashaus fangen ließ.
Sie liebte diese grünen Stunden, in denen die Amseln zu zwitschern begannen und lauschte dem Donnern der S-Bahn-Züge in der Ferne. Die Nachbarn öffneten scheppernd ihr Garagentor und fuhren zur Arbeit. Eilige Schritte waren zu hören, die Stimmen der Passanten kamen näher – hin und wieder verstand sie sogar einzelne Worte der morgendlichen Konversationen – entfernten sich und fügten sich in den Rhythmus des erwachenden Morgens.
Manchmal, wenn die Regentropfen eine monotone Melodie in die Scheiben trommelten, kam es vor, dass sie noch einmal einschlief. Sie erwachte dann mit dem Gefühl, das Wichtigste vom Tag, sein Werden, verpasst zu haben.
Erst wenn es ganz hell geworden war, erhob sie sich, streifte die Decke ab und bereitete in der Küche das Frühstück.
Er war wieder der an Windpocken erkrankte sechsjährige Junge gewesen, der schwitzend und mit juckender Haut im Dunkel des elterlichen Schlafzimmers lag. Von Zeit zu Zeit tauchte er aus Halluzinationen auf: allein und verlassen fühlte er sich. Er rief nach der Mutter, die in der benachbarten Küche hantierte. Geduldig antwortete sie ihm jedes Mal mit sanfter Stimme, zuweilen trat sie an sein Bett und legte ihre kühle weiße Hand auf seine Stirn.
Er dämmerte dann hinüber in andere, hitzige Fieberträume.
Auto war er gefahren, rasant und schnell, vorbei an abgeernteten Getreidefeldern. Aus den Augenwinkeln hatte er Greifvögel wahrgenommen, sie saßen an den Rainen wie stumme Wächter und schienen ihn zu beobachteten.
Der Duft des Kaffees lockte auch ihren Mann aus dem Bett. Mit schlurfenden Schritten, die Zeitung in der Hand, kam er in die Küche und setzte er sich an den gedeckten Tisch. Sie frühstückten ausgiebig, meist schweigend. Die Uhr tickte; wenn ihr Mann eine Seite umblätterte, blickte er kurz auf. Er studierte als erstes den Sportteil, sie widmete sich den Kulturnachrichten und löste anschließend Rätsel.
Heute jedoch war sie nicht bei der Sache. Es fiel ihr schwer, sich auf Sätze, Wörter, Buchstaben und Zahlen zu konzentrieren. Drei waagerecht: ein Raubvogel mit sieben Buchstaben. Immer wieder musste sie an den gestrigen Anruf denken.
Zwei senkrecht: ein 1774 entdecktes chemisches Element.
Sie hatte vergeblich versucht, der Stimme am anderen Ende der Leitung ein Gesicht zu geben.
Er ahnte, dass er die heraufbeschworenen Erinnerungen allmählich an das Tageslicht verlor, hinter seinen geschlossenen Lidern erhellte es bereits den gesamten Raum.
Wenn er die Augen öffnete, würde er den Efeustuck an der Decke erblicken. Er konnte den Blick zu den alten Kleiderschränken wandern lassen, von denen die Farbe abblätterte. Er würde den Schreibtisch sehen, auf dem seine Frau Medikamente und Pflegeutensilien lagerte. Den Rollstuhl, der es ihm ermöglichte, an den wenigen guten Tagen das Haus zu verlassen. Ein Sauerstoffgerät, das für Erleichterung sorgte, wenn er Probleme mit der Atmung hatte.
Noch aber war er nicht bereit für den Anblick eines Krankenzimmers.
Georg nahm all seine Kraft zusammen und versuchte ein letzten Traumfetzen zu fassen. Zu seiner Verwunderung gelang ihm das auf Anhieb. Für Bruchteile von Sekunden schaute er in das Gesicht eines Mädchens. Er erkannte sie sofort: Martha.
Sie wäre die Ehefrau eines ehemaligen Mitschülers, erklärte die Anruferin.
Ihr Name klang fremd.
Lag vielleicht eine Verwechslung vor? Nein, nein, beteuerte die Frau fast ängstlich, dies sei ausgeschlossen. Sie beschrieb die Erweiterte Oberschule einer brandenburgischen Kleinstadt und sprach vom damaligen Klassenleiter.
Undeutlich spiegelte sich ein Backsteingebäude im Küchenfenster. Das Treppenhaus dort roch unangenehm muffig. Schritte hallten. Eine Tür wurde zugeschlagen.
Was wollte dieser Mitschüler von ihr, nach all den Jahren? Wie hatte er sie ausfindig gemacht? Wenn die Angaben stimmten, war sie lediglich ein paar Jahre mit ihm zur Schule gegangen.
Er wolle sich mit ihr treffen, in einer bestimmten Angelegenheit. Die Stimme der Frau hatte einen fast beschwörenden Ton jetzt. Es sei wichtig, wirklich wichtig. Der Krebs ihres Mannes schreite voran, so dass die Zeit dränge.
Wann es ihr passen würde?
Der Kranke schlug die Augen auf und drehte sich vorsichtig auf die Seite. Sein Herz schlug unregelmäßig, er holte tief Luft.
Wie oft mochte er im Laufe seines Lebens von diesem Mädchen geträumt haben?
Es hatte Phasen gegeben, in denen sogar ihr Name verblasst war: bei der Armee, im Studium, während der ersten Ehejahre.
Dann aber kehrten die zwei Silben in sein Gedächtnis zurück und Martha blickte aus großen blauen Augen in seinen Schlaf, fragend und verständnislos, so wie damals.
Warum sie zugesagt hatte? Sie wusste es nicht. Vermutlich war es der bittende Ton in der Stimme der Frau gewesen. Möglicherweise hatte auch die Erwähnung der Krankheit des ehemaligen Mitschülers dazu geführt, dass sie einer Zusammenkunft zugestimmt hatte.
Sie war neugierig und sie hatte Zeit, viel Zeit.
Die Gaststätte, in der sie sich treffen würden, lag in einer belebten Straße unweit des Zentrums.
Ihr Mann blickte auf, als sie Zeugnisse und alte Fotos vom Boden holte.
Vergilbte Aufnahmen vom Schulanfang: Zopfmädchen in geblümten Sommerkleidern, die krampfhaft zu lächeln versuchten. Jungen, die sich mühten, gerade zu stehen. Einer von ihnen musste er sein.
Aufnahmen von einer Klassenfahrt hatte sie gefunden. Damals war sie 15 gewesen, sie waren nach Weimar gefahren, hatten das Goethe haus im Ilmpark besucht. Sie erkannte die Baracken des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald.
Wenige Wochen nach dieser Exkursion hatte sie die Schule verlassen müssen.
Der Direktor der EOS, ein grobschlächtiger Mann mit rotem, narbigen Gesicht, hatte erklärt, warum Martha nicht länger Schülerin seiner Schule sein dürfe. Sie würde ihren Platz im Leben finden, gewiss. Er wünsche ihr dies von Herzen. Als Christin und Nichtmitglied der FDJ käme ihr, und das würde sie sicher verstehen, keine größere Rolle bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu. Da bedürfe es tatkräftiger, ideologisch geschulter Menschen. Stolz verwies er auf die hohe Zahl von Berufsoffiziersbewerbern unter den Abiturienten, auf Schülerinnen und Schüler, die bereits den Antrag auf Aufnahme in die SED gestellt hätten und auf Schulabgänger, die an den ausgezeichneten pädagogischen Hochschulen des Landes studierten.
Die Stimme des Mannes überschlug sich vor Begeisterung und er wischte sich mit einer schnellen Handbewegung den Speichel von den Lippen.
Zufrieden verlas er eine Erklärung, in der sich auch Lehrerkollegium und Schülervertreter für den Schulausschluss von Martha aussprachen. Sie empfahlen den Wechsel an eine polytechnische Oberschule und wünschten viel Erfolg für ihr weiteres Leben.
Auch er, Georg, gehörte zu den Unterzeichnern des Dokumentes. Als einer der ersten hatte er seinen Namen mit schwarzer Tinte darunter gesetzt.
Martha saß allein in einer Bank, wie hinter einer Glasscheibe. Sie trug einen rostfarbenen Strickpullover und hatte ihre langen blonden Haare zu Zöpfen geflochten. Den Blick hielt sie gesenkt. Es sollte einfach vorbei sein.
Dunkle, filzige Stille kroch aus den Scheuerleisten. Die Mitschüler schwiegen und die anwesenden Lehrer, die meisten von ihnen trugen das blaue Hemd mit der aufgehenden Sonne, blickten hilfesuchend zum Schulleiter. ER musste die Aussprache beenden, sonst würde keiner es wagen, den Raum zu verlassen.
Pausenklingeln. Eine andere Klasse verließ lärmend das Nachbarzimmer.
Schließlich erhoben sich auch einige der Lehrer. Für sie war der Fall, dem zahlreiche Parteiversammlungen und Beratungen vorausgegangen waren, abgeschlossen.
Einige der Schüler folgten ihnen gebeugt-hastig, ohne sich noch einmal umzusehen. Auf dem Flur entkamen sie endlich dem Schweigen, indem sie belanglose Gespräche begannen.
Andere gingen langsam und nachdenklich aus dem Zimmer. Viele sahen verstohlen zurück:
Martha spürte ihre Bussardblicke.
Georg hatte nach dem Direktor als letzter den Raum verlassen und sich erst an der Tür umgedreht. Martha hob den Kopf und sah ihn aus großen blauen Augen an: fragend, verständnislos und traurig.
Er hatte sie nie wieder gesehen in der Kleinstadt am Rande des Spreewaldes.
Keiner seiner Freund erwähnte in den folgenden Jahren auch nur ihren Namen. Es war, als hätte es die Versammlung nie gegeben.
Georg bestand wie die meisten seiner Altersgenossen das Abitur und erhielt sein Abschlusszeugnis aus den Händen des rotgesichtigen Direktors.
Nach Ableistung der Zeit bei der NVA wurde er Jurastudent, weil er glaubte, etwas bewegen zu können.
Auf einer Reise an die bulgarische Schwarzmeerküste lernte er eine Psychologiestudentin kennen, die seine Frau wurde. Sie war ein sanftes Mädchen gewesen, klug, belesen und eigenwillig. Es gab ein Schwarzweißfoto von ihr aus dieser Zeit. Wenn er es betrachtete, roch er das Meer und den Duft ihrer jungen Haut.
Die Ehe war kinderlos geblieben.
Seine Frau war die einzige, der er jemals von seinen Bedenken erzählt hatte, irgendwann. Dabei hatte er verschwiegen, dass ihn das Tribunal im Klassenzimmer immer verfolgte.
Er hatte daran denken müssen, als Panzer über Alleen rollten. Martha hatte ihn in sein Büro im Ministerium begleitet und er war ihr während seiner Diplomatenzeit in Genf begegnet. Er erinnerte sich an ihre geflochtenen Zöpfe, wenn die Nichten im Garten spielten.
Der Mann, der sich ihr unsicher lächelnd zuwandte, als sie das Restaurant betrat, war ihr fremd. Er hatte nicht mehr lange zu leben. Finalstadium. Wie oft hatte sie kranke Menschen und deren Angehörige durch diese Phase des Erstickens und der Schmerzen begleitet? Manchmal hatte sie geglaubt, die Ohnmacht nicht mehr ertragen zu können.
Unendlich langsam stand Georg auf und begrüßte Martha schweigend. Ganz zart und warm war seine Hand, wie die eines Kindes.
Alle Zweifel eines Lebens hatten sich in sein Gesicht eingegraben. Die Züge um den Mund herum waren bitter. In den unnatürlich großen Augen jedoch las sie, dass er das Vergehen seines Tages angenommen hatte.
Verlegen fuhr er sich durch das schüttere graue Haar. Dann begann er zu sprechen, flüsternd. Sie wusste: jedes dieser Worte hatte er sich hundertfach in seiner Dunkelheit, in Fieberträumen und Schmerzen, zurechtgelegt.
Er bat sie um Verzeihung. Um Verzeihung dafür, dass er ihren Schulaussschluss in seiner Funktion als FDJ-Sekretär befürwortet hatte.
Sie wiegelte nicht ab. Martha beugte sich nach vorn, um besser verstehen zu können: sie hörte ihm zu.
Als die Stimme des Mannes schließlich versagte, legte sie ihre kühle Hand auf die seine. Es war ganz still.
Dann erzählte sie ihm, wie sie mit ihren Eltern die Republik verlassen hatte und nach Westberlin gezogen war. Sie erwähnte ihr Abitur, das Medizinstudium in Tübingen, ihren Mann, die Kinder.
Als sie Georg`s Frau in der Tür stand, verabschiedeten sie sich. Sie tat etwas, was sie gewöhnlich vermied: sie umarmte den Mann. Es war so leicht gewesen.
Die Flugzeuge starteten und landeten auf dem Flughafen.
Georg war wach. Er beobachtete, wie sich das grüne Licht des Morgens im Zimmer fing und hörte, wie Regentropfen eine Melodie an die Fensterscheiben trommelten. Es wurde hell.
Sein Tag verging.