Gericht der Emotionen

Tsibi

Mitglied
Gericht der Emotionen

Triggerwarnung! Diese Geschichte behandelt folgende sensible Themen und ist damit möglicherweise nicht für alle Personen geeignet:
Sexuelle Belästigung / Misshandlung


Ein lauter Schlag ertönt und fährt mir durch den ganzen Körper. Es ist unmöglich sich daran zu gewöhnen, so oft ich dieses Geräusch auch schon vernommen habe. Langsam kommt Bewegung in die lange Reihe vor mir und wir bewegen uns alle einen kurzen Schritt nach vorne. Ohrenbetäubender Lärm für diese Sekunde. Danach ein kurzer Moment absoluter Stille. Niemand wagt es auch nur einen Mucks zu machen. Wir alle schweigen, wir alle warten. Dann wieder ein Schlag und erneut ein kurzer Schritt. Wieder und wieder.

Um uns herum stehen hohe Tribünen, welche uns zu unserem Zielort führen. Es gibt nur diese eine Richtung. Aus der anderen kommt ein stetiger, nicht abreißender Strom neuer Personen, die hierher gebracht wurden oder hergekommen sind, wodurch wir dicht an dicht stehen. Auf den Tribünen sitzen unzählige gesichtslose Gestalten, ihre kalten, wachsamen Augen wandern über die Schlange an Menschen, als seien sie auf der Suche nach etwas, das sie aber nie finden werden. Gleichzeitig wachen sie über uns. Achten darauf, dass keiner aus der Reihe fällt, dass niemand sich ungewöhnlich verhält.

Ich will nicht hier sein. Dieser Ort ist falsch, einfach nur falsch. Doch ich habe keine andere Wahl. Genau wie all die anderen vor und hinter mir. Jeder von uns muss hierherkommen. Nicht ein Mal, nicht zwei Mal oder drei Mal. Nein. Wieder und wieder müssen wir diesen Weg auf uns nehmen und uns diesem Urteil unterwerfen. Ich wünschte mir, es wäre nicht so.

Inzwischen bin ich meinem Bestimmungsort ein gutes Stück näher gekommen. Bereits ist der Gerichtssaal mit den regungslosen Geschworenen und dem mächtigen Richter zu erkennen. Der Rhythmus aus Stille, Schlag, Schritt ist inzwischen durch ein mit keinen Widerstand erlaubender Stimme verkündetem Urteil ergänzt worden. Vorsichtig versuche ich über die Leute vor mir zu schielen und einen Blick auf die, die gerade der Gnade des Richtspruches ausgeliefert sind, zu erhaschen.

„Freude!“

„Scham!“

„Dankbarkeit!“

„Freude!“

„Freude!“

„Glück!“

„Dankbarkeit!“

„Gelassenheit!“

„Freude!“

„Begeisterung!“

„Interesse!“

„Glück!“

„Erleichterung!“

„Interesse!“

Wieder und wieder werden dieselben Urteile wiederholt.

Endlich stehen nur noch fünf weitere Personen vor mir und ich kann den gesamten Vorgang hören. Die grausame Stille, welche einen verloren zurücklässt, wurde durch die jeweilige Verhandlung der Verurteilten ersetzt. Was heißt hier Verhandlung? Der Richter schildert eine Situation aus einer einzigen Perspektive und fällt dann sein Urteil. Keine Fragen an die Person, die unter ihm steht und nicht anders kann, als nach oben zu ihm zu starren. Keine Zeugen, nichts. Gar nicht so selten sehe ich, wie die Verurteilten mit gesenkten Schultern den Saal verlassen. Ihr Urteil wiegt so schwer auf ihnen und niemand will ihnen die Last abnehmen.

Schließlich bin ich an der Reihe. Ich stelle mich auf das Podium, das für die bereit steht, die sich diesem Gericht unterwerfen müssen. Also für alle. Bevor ich irgendetwas anderes tun kann, erhebt der Richter bereits donnernd und gebieterisch seine Stimme: „Dein Chef hat dir ohne besonderen Anlass ein Stück von deinem Lieblingskuchen vorbei gebracht. Dankbarkeit!“

Und zum Abschluss seines Urteils schlägt er krachend mit seinem Hammer auf den Block.

Dankbarkeit? Ihm gegenüber? Ich soll meinem Chef dankbar sein? Diesem Schwein? Wie oft hat er mich schon angefasst? Wie oft hat er mich bedrängt? Wie oft hat er mich erniedrigt, nur damit er noch mehr Macht über mich erhält? Verdammt nochmal, er hat schon ein Mal versucht mich zu vergewaltigen! Noch heute spüre ich immer wieder seine schwitzige Hand auf meiner nackten Haut und wie er versucht mir die Kleidung vom Leib zu reißen, während ich mich vergeblich wehre. Die Narbe, die er mir bei dem Kampf zugefügt hat, werde ich vermutlich mein Leben lang mit mir rumtragen. Nur durch Glück konnte ich ihm entkommen. Und niemand glaubt mir, niemand will mir gegen ihm helfen! Ihm soll ich dankbar sein? Niemals! Das kann ich nicht akzeptieren! Doch ich spüre den erbarmungslosen Druck des Urteils und die kalten Augen der Jury, welche mich still richtet. Sie ist bereits darüber verärgert, dass ich das Podium noch nicht wieder verlassen habe.

„Verurteilte, bewege dich!“

Der Richter hat sich erhoben und er kommt mir wie ein Gott vor. Ein grausamer, ungerechter Gott. Die Furcht packt mich und ich spüre den instinktiven Drang, mich zu bewegen und seinem Befehl nachzukommen. Aber etwas in mir hält mich trotz aller Angst vor den Konsequenzen zurück. Ich habe bereits so viel gelitten. Die ganze Situation mit meinem Chef ist nur die Krönung. Ich habe genug. Ich will und werde es nicht mehr länger ertragen.

„BEWEGE DICH!“

„Ich werde diesem Schwein gegenüber definitiv keine Dankbarkeit zeigen!“

Stille. Eine noch drückendere, mächtigere Stille als all die Momente der Lautlosigkeit zuvor. Als würde sich etwas immer weiter aufbauen. Und dann entfesselt sich der Irrsinn mit aller Gewalt.

„Du! Wie kannst du es wagen! Niemand widerspricht dem Gericht! Niemand stellt sich uns entgegen! Zeig Dankbarkeit! Sei gehorsam! Tu, was wir dir sagen! Tu es!“

„Nein! Ihr könnt mich mal!“, brülle ich ihnen allen entgegen.

„Genug! Bringt sie hinfort! Sofort!“

Augenblicklich stehen zahllose gesichtslose Gestalten um mich herum. Mit ihren langen, feingliedrigen Fingern greifen sie nach mir. Es kommt mir vor, als seien es Klauen. Verzweifelt versuche ich mich zu wehren, mich ihrem Griff zu entwinden. Doch es hat keinen Zweck. Sie zerreißen meine Haut, kratzen mich auf, schänden mich, während sie mich aus dem Saal tragen. Aber sie bringen mich nicht durch die Tür, durch die all die anderen den Raum verlassen haben. Nein. Während ich gegen den Schmerz ankämpfe, öffnen sie eine andere, versteckte. Ohne Rücksicht schleudern sie mich hindurch. Gequält durch die Wucht des Aufpralls stöhne ich auf. Ich brauche ein paar Sekunden, um wieder ein Gefühl über meinen geschundenen Körper zu bekommen und richte mich auf. Was ist passiert? Wo bin ich hier? Weit und breit ist nichts und niemand zu sehen. Verwirrt suche ich nach der Tür, durch welche ich geworfen wurde, doch ich kann sie nicht finden. Langsam dämmert mir, dass sie mich ausgeschlossen haben. Ich kann nie wieder zu den anderen zurückkehren.

Langsam drehe ich mich um und nehme die Eindrücke meiner Umgebung in mich auf. Was für ein schöner Ort! So frei und offen. Hier befinden sich keine Tribünen, die unseren Weg einschränken, keine kalten Augen, die jede kleinste Handlung beobachten und kein Gericht, dass gnadenlos über mich urteilen wird. Vielleicht haben all die Qualen doch ihr Gutes gehabt. Vielleicht bin ich endlich dort angekommen, wo ich immer sein wollte. Wo ich mich selbst ausleben kann. Wo ich mich nicht verstellen und dem Druck der anderen beugen muss. Ich würde mir nur wünschen, dass es hier nicht ganz so einsam wäre.
 



 
Oben Unten