Gero

Bo-ehd

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Hubert Herrhausen hatte es sich in dem englischen Ledersessel im Atrium seines Landhauses trotz der drückenden Stimmung bequem gemacht und wartete, bis der Kommissar die Treppe herunterkam. Sein zuverlässigster Freund, wie er ihn bei jeder Gelegenheit bezeichnete, lag zu seinen Füssen: ein vierjähriger Labradorrüde mit einer Muskelmasse von 40kg, einer sehr feinen Nase für die Jagd und einer Bereitschaft, für sein Herrchen durch buchstäblich Dick und Dünn zu gehen. Mehr noch: Gero konnte antizipieren. Er sah Dinge und Handlungen seines Herrchens voraus und wusste immer, was sein Chef von ihm erwartete.
Herrhausen lobte den außerordentlichen Charakter des Tieres, auch wenn er sich manchmal darüber aufregte, dass es so unglaublich verfressen war. Der Hund schlang alles in sich hinein wie ein Hai, und die List, die er anwendete, um Beute zu machen, also Fressbares zu stehlen, hätte einen Verhaltensforscher zu wahren Jubelstürmen getrieben. Wenn ihm Herrhausen aber befahl, ruhig zu sein und Platz zu machen, blieb er unbeweglich neben ihm liegen wie ein Sack Zement. So wie jetzt.
„Zweifellos ein Stich mit einem Dolch oder Stilett. Das werden die Kollegen von der Pathologie klären“, erklärte Kommissar Ebinger. „Wenn ich davon ausgehe, dass weder Sie noch ihre Köchin als Täter infrage kommen, dann gibt mir der Fall ziemliche Rätsel auf. Die Haustür war zwar nicht verriegelt, wie Sie sagten, aber der Hund hätte ja zweifellos angeschlagen. Allein die Tatsache, dass der Täter entweder über den Kamin ins Haus gekommen sein muss oder sich durch die Vergitterung der Fenster geschlängelt haben muss, stellt mich vor ernsthafte Probleme.“
„Und Sie sind sich sicher, dass sonst niemand im Haus war?“, hakte der Kommissar nach.
„Ich habe niemanden reingelassen“, versicherte Herrhausen. „Und Klara, die Köchin, auch nicht. Und: Wenn jemand im Haus gewesen wäre, hätte Gero das sofort gemerkt. Da können Sie ganz sicher sein.“
„Gehen wir den Hergang noch einmal durch“, begann Ebinger zu resümieren. „Ihre Frau schlief in ihrem Zimmer im ersten Stock, Sie hier unten im Gästezimmer. Warum schlafen Sie getrennt, wenn ich fragen darf?“
Herrhausen grinste. „Wollen Sie das wirklich wissen? Also gut: Ich schnarche, ich furze, ich stinke, ich wälze mich zu oft im Bett. Und überhaupt: Was sollte ich als Mann bei ihr, so sagt sie, wo sie doch verkrüppelt sei. Sie hat mich vor zwei Jahren in das Gästezimmer verbannt, und ich kann damit leben. Inzwischen habe ich mich sogar daran gewöhnt.“
„Wie kam es zur Behinderung Ihrer Frau?
Herrhausen grinste ironisch. „Ich bin Jäger, leidenschaftlicher Jäger und Heger. Fünf Jahre habe ich gebraucht, um meine Frau zu überreden, einmal mit auf die Jagd zu gehen. Sie legte die Prüfung schließlich mit Bravour ab, und dann, es war im Januar, ging sie das erste Mal mit auf die Jagd. Wir hatten uns mit drei Jagdfreunden getroffen und vereinbart zusammenzubleiben, aber sie driftete trotz meiner Ermahnungen immer weiter ab, entdeckte schließlich den Hochsitz am Kellerbach und bestieg ihn. Ich habe von all dem nichts mitbekommen, die anderen auch nicht. Dann hörte ich in der Ferne einen Schrei, der nichts Gutes verhieß. Ich fand sie schließlich unter dem Hochsitz. Sie war, wie sie mir später erklärte, auf der obersten Sprosse, die vereist war, ausgerutscht und hinuntergestürzt. Dabei hat ihr Rückgrat eins abbekommen. Ein Wirbel kann nicht mehr belastet werden, deshalb die beiden Krücken, die Sie sicherlich neben dem Bett gefunden haben. Im Nachhinein gibt sie mir die Schuld, weil ich sie überredet hätte, bei dieser Eiseskälte damals mitzugehen. Seitdem ist unsere Ehe keine mehr, und sie hat mir mehrmals deutlich gemacht, dass ich gehen könne. Sie würde mich nicht daran hindern, wenn ich es aus freien Stücken täte. Sie hat mir auch schon damit gedroht, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen, um mich loszuwerden. Was immer das heißen mag.“
Ebinger presste die Lippen zusammen und nickte. „Sie wissen, dass Sie mir soeben ein perfektes Motiv geliefert haben?“
„Das weiß ich. Hätten Sie lieber die Familiengeschichte von anderen gehört? Ich habe doch nichts zu verbergen, Kommissar. Und mit Ihrem Motiv ist es nicht weit her. Es taugt nämlich nichts. Warum sollte ich das Leben hier aufgeben? Ich habe einen Hund, ein Pferd, eine Köchin, eine Jagd, ein Haus und keine finanziellen Sorgen. Und obendrein viel Zeit. Warum sollte ich das aufs Spiel setzen? Und außerdem frage ich Sie, wie ich mit diesem Gichtfuß die Treppe hochgekommen sein soll?“ Herrhausen zog sein Hosenbein ein Stück hoch, so dass sein linker Knöchel, der glühend rot war und die Form und Größe eines Handballes angenommen hatte, sichtbar wurde.
„Autsch, das tut weh!“, entfuhr es Ebinger, der sofort wieder ernst wurde. „Vielleicht wollten Sie frei über ihr Vermögen verfügen?“
„Das ist mir leider nicht vergönnt. Im Testament stehen zwei Neffen als Alleinerben. Das ist kein Geheimnis. Das hat sie mir mit Genugtuung gesteckt. Ich kann froh sein, wenn ich hier nicht ausziehen muss.“
„Das rückt die Sache natürlich in ein anderes Licht. Wir werden das überprüfen.“
In diesem Moment vernahmen sie, wie jemand in der Küche zu arbeiten begann. Man hörte, wie ein Messer gewetzt wurde, Töpfe klapperten und ein kleines Beil auf einen Küchenhackklotz niederging.
„Klara friert die Kaninchen ein, die ich letzte Woche geschossen habe“, erklärte Herrhausen, und Ebinger nickte dazu.
„Ihre Köchin, wohnt sie hier? Ich muss sie auch noch vernehmen.“
„Kein Problem. Befragen Sie sie, wann Sie wollen.“
In diesem Augenblick streckte sich Gero, dann stand er auf, sah sich um, beschnupperte flüchtig die Hosenbeine des Kommissars, durchmaß das Atrium mit bedächtigen Schritten und legte sich wie eine Sphinx an eine Stelle, von der aus er die Küchentür im Auge hatte. Wenige Augenblicke später kam die Köchin mit drei abgezogenen Hasen aus der Küche, und als sie im Kellerabgang verschwunden war, öffnete Gero lautlos die Tür zu ihrem Reich und schlich sich hinein.
Nach nicht einmal einer halben Minute kam er heraus, die Schnauze in Weiß, als hätte er sie in Mehl getaucht. In den Fängen hielt er einen eingelegten Hasen. Gero durchschritt das Atrium mit einem ganz tiefen markerschütternden Knurren, beäugte Ebinger und sein Herrchen im Vorbeigehen mit stechendem Blick und beeilte sich auf den letzten zwei Metern, mit dem noch tropfenden Hasen zur Ausgangstür zu kommen. Er schaffte es mühelos, sie zu öffnen und nach draußen zu gelangen.
„Er beklaut Klara regelmäßig“, konstatierte Herrhausen und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Dieses Tier ist eine fressende Maschine.“
Im nächsten Augenblick kam Klara aus dem Keller und verschwand in der Küche. Und keine zehn Sekunden später hallte ein gellender Schrei durch das Haus.
„Dieses Vieh, ich vergesse mich noch! Wo ist mein marinierter Hase?“, belferte sie die beiden Herren an. „Herr Herrhausen, das war unser Mittagessen für Sonntag! Der hat doch erst vor einer Stunde eine ganzes Kilo Fleisch gefressen!“
„Sie haben die Tür nicht verschlossen“, entgegnete Herrhausen ganz ruhig, als wollte er Gero in Schutz nehmen. „Sie wissen doch, wie er es drauf anlegt, in Ihrer Küche zu stöbern. Und außerdem müssen wir mit dem Essen umdisponieren wegen des Trauerfalls.“
„Ach, die arme Herrin“, schluchzte sie zur Antwort und begab sich wieder in die Küche. Ebinger folgte ihr, befragte sie und ließ sich bestätigen, was er schon wusste. Neue Erkenntnisse gewann er nicht, was für ihn Grund war, nun endlich nach der Tatwaffe zu suchen. Sie zu finden, konnte bei seinen Ermittlungen sehr hilfreich sein. Die Spuren auf der Waffe, die Art, wie und wo sie versteckt war und vor allem die Art und Weise, wie sie benutzt worden war, konnten – etwas Glück vorausgesetzt – die entscheidenden Hinweise auf den Täter liefern.

Ebingers Stöbertrupp nahm am folgenden Tag das ganz Haus auseinander, blickte mit Laser-, Röntgen- und Infrarotgeräten und Geigerzählern unter jeden Zentimeter Diele, in jede Wand, hinter jedes Gemälde, jeden Gobelin und in jede der fast 120 Jagdtrophäen, die die Wände beider Korridore schmückten. Das Messer wurde nicht gefunden, und auch das Umgraben des Vorgartens brachte keine Erkenntnisse. Inzwischen hatte sich die Pathologie gemeldet, die eine beidseitig geschliffene Klinge bestätigen könne und extra darauf hinwies, dass der Stichkanal nicht eindeutig einem Links-oder Rechtshänder zugeordnet werden könne.
Ebinger war der Verzweiflung nahe und resümierte ein weiteres Mal. Es gab nicht eine einzige verwertbare Spur, der verdächtige Hausherr war mehr oder weniger bewegungsunfähig, hatte kein Tatmotiv und gute Gründe, das Opfer am Leben zu lassen. Die beiden Neffen, die 400km entfernt in Köln wohnten, hatten zwar zunehmend Kontakte zur Kölner Unterwelt und mittlerweile einen zweifelhaften Ruf, für die Tatzeit jedoch hieb- und stichfeste Alibis. Er konnte also dem Staatsanwalt nichts vorlegen. Der Fall schien unaufklärbar.
Nach drei Tagen blies er die Ermittlung ab und wies seine Leute an, zurück ins Revier zu fahren. Er selbst stieg in das hinterste der vier Fahrzeuge, dann setzte sich die kleine Kolonne in Bewegung. Nach 200m hielt er an und stieg aus.
„Ich schaue mir das Ganze nochmal aus der Entfernung an. Wenn ich abgeholt werden will, rufe ich an. Geben Sie mir mal das Fernglas“, verlangte er von seinem Fahrer und wies mit der Hand auf das Handschuhfach.
Er ging durch eine Buschlandschaft zurück zu Herrhausens Landhaus und versteckte sich in einer Lorbeerhecke, von der aus er die Vorderseite des Hauses mit der Eingangstür im Blick hatte. Nach einer halben Stunde wollte er den Standort wechseln, als sich die Haustür öffnete.
Herrhausen kam mehr oder weniger auf nur einem Bein aus dem Haus gehumpelt, das andere stützte er mit einer Krücke. Er sah sich um, bewegte sich auf einen alten Stuhl aus Teakholz zu, der wenige Meter neben dem Eingang stand, und ließ sich hineinfallen. Das Gesicht zur Sonne gewandt, genoss er die letzten wärmenden Strahlen des Herbstes. Sein „bester“ Freund legte sich zu seinen Füßen. Dort blieb er allerdings nur etwa zwei Minuten liegen. Dann stand er auf, blickte sein Herrchen an und raste plötzlich los. Am Ende des Grundstückes verschwand er hinter einer Hecke.
Minuten vergingen, dann kam Gero im Trab zurück. Seine Rute wedelte wie selten, dass die langen, weichen Schwanzhaare nur so flogen, und in seinen Augen brannte ein Feuer aus Treue und Diensteifer. In den Fängen hatte er, völlig verschmutzt und kaum erkennbar, einen länglichen Gegenstand. Vor dem hatte er offensichtlich größten Respekt, denn er hielt ihn nicht besonders fest zwischen seinen Zähnen, sondern eher vorsichtig, als wäre er heiß oder dornig. Dabei hatte er die Lefzen hochgezogen, um sich an dem Gegenstand nicht zu verletzten. Für Ebinger besonders schlimm war die Tatsache, dass Geros Gesicht mit den hoch- und ganz nach hinten gezogenen Lippen den Eindruck vermittelte, als würde der Hund lachen oder zumindest grinsen.
Ebinger nahm den Feldstecher herunter. „Mann, hat der mich geleimt“, murmelte er. „Packt den Dolch in ein Kaninchen und lässt ihn von seinem Hund vergraben. Gott sei Dank konnte die Töle nicht wissen, dass ich sie jetzt beobachte.“
Nach einer Denkpause kam der Ärger über sich selbst noch deutlicher zum Ausdruck. „Mein Kontrahent ist ein Hund!“, polterte er verständnislos. „Grundgütiger, es wird immer toller in diesem Job!“

Im Laufe der Ermittlungen ergab sich, dass die Erblasserin angesichts des immer schlechteren Rufes ihrer beiden Neffen das Testament ergänzt hatte mit dem Hinweis, dass es nichtig sei, falls sie eines nicht natürlichen Todes sterbe. Woher zum Teufel hat Herrhausen das nun wieder erfahren?, fragte sich Ebinger und spielte in Gedanken durch, auf welche Art und Weise dieses Vieh dabei mitgespielt haben könnte.
 



 
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