Geruchsverirrung

Das kennt jeder. Man trifft auf einen fremden Menschen, oder betritt einen einen Raum in unbekannter Umgebung, und wird durch einen dort vorhandenen Duft oder Geruch an eine lang zurückliegende Situation erinnert. Verursacht wird so etwas durch ein direktes Signal an die Großhirnrinde, wo diese neurale Botschaft unmittelbar in Emotionen umgewandelt wird. Man fühlt sich in diese frühere Situation zurückversetzt.

Fredo Riebold hat in seinem Leben viele solcher Situationen durchlebt, sein Gefühlsempfinden ist stark olfaktorisch angelegt. So konditioniert, wird er auch bei seiner Einteilung anderer Menschen geleitet, wenn er diese in die Kategorien sympathisch oder unsympathisch einsortiert. Neben einigen Glückstreffern in Bezug auf Geruchsfreuden erlebt Fredo überwiegend Begegnungen, die dramatisch unangenehm verlaufen. Seine extreme Hypersensibilität bereitet ihm selten die reine Freude: Er kann viele Menschen einfach nicht gut riechen. Sein Ausgrenzungsreflex ist dann derart stark ausgeprägt, dass er größere Menschenmengen meidet. Diesen Leidensdruck können ihm selbst Ärzte nicht nehmen. Deren Diagnose, Paradoxe Phantosmie hat keinen therapeutischen Wert für ihn, er arrangiert sich mit dieser fachärztlichen Einschätzung und geht seinen Lebens- und Leidensweg. Die Hoffnung auf ein weitestgehend beeinträchtigungsfreies Leben verliert sich in einer Illusion - erst ab Rachenraum abwärts herrscht bei Fredo sensorische Normalität.

Es geschieht während eines Besuches in einem Botanischen Garten. Hier gerät er in die Nähe einer riesigen tropischen Frucht, der Durian, volkstümlich auch Stinkfrucht genannt. Diese bis zu zehn Kilogramm schwere Baumfrucht, heimisch in Südostasien, strömt einen penetranten, schweflig-faulen Geruch aus, der bei Fredo eine schwere Geruchshalluzination hervorruft, er spürt ein starkes Unwohlsein. Besteht hier möglicherweise ein Zusammenhang mit seiner extrem ausgeprägten Geruchswahrnehmung? Die in solchen Situationen obligatorische Erinnerung an frühere Zeiten ploppt jedoch nicht auf. Anlässlich des nächsten Besuchs bei seiner Mutter berichtet er dieser davon. Die alte Dame erkennt einen möglichen Bezug zur Vergangenheit. In den frühen Siebzigerjahren war die Familie Riebold für mehrere Jahre in Indonesien beruflich tätig gewesen, mit Fredo im Kleinkindalter. Zu ihren damaligen Lieblingsgerichten, so berichtet sie ihrem Sohn nun, zählten verschiedene Speisen aus der Frucht Durian. So extrem übelriechend diese im rohen Zustand auch sein mag, weiterverarbeitet stellt sie eine Köstlichkeit dar, die im Geschmack stark an leckeren Vanille-Mandel-Pudding erinnert. An diesen müsste er sich eher erinnern können, so die Mutter, denn die Eltern hatten ihren Sohn von der rohen Durian-Frucht stets ferngehalten. Einer Fertigspeise aus dieser ist Fredo in seinen späteren Erinnerungen allerdings nicht begegnet, sodass ihm der Bezug hierzu fehlt. Doch den Erklärungsansatz seiner Mutter zu einem frühkindlichen Ereignis kann er nachvollziehen und beschließt, diesem Hinweis zu folgen. Um dies vor Ort zu klären, reist er nach Java.

In der Nähe der Stadt Surakarta findet er das Dorf, in dem er vor vielen Jahren längere Zeit mit seinen Eltern verbracht hat. Eine schwache Erinnerung lebt wieder auf. In dieser Gegend wachsen die von ihm gesuchten immergrünen Durianbäume, die mit ihrer Höhe von bis zu vierzig Metern das Dschungeldickicht weit überragen. In dieser Umgebung wird Fredo Riebold nun selbsttherapeutisch aktiv – in Form einer Hyposensibilisierung. Er wechselt mehrmals täglich von der unmittelbaren Nähe der stinkenden Früchte zu den lecker daraus zubereiteten Speisen der Bewohner des nahen Dorfes: vom ekligen Geruch dieser Stinker hin zum in Kokosmilch gekochtem, leckeren Gemüse. So bildet er die Anti-Parameter für seinen Therapieansatz. Schon nach wenigen Tagen stellt er eine Veränderung seiner Wahrnehmungen fest, sein Geruchsgedächtnis ist reaktiviert; eine Desensibilisierung seiner Sinne findet statt. Anfänglich werden die Geruchseindrücke beider Fruchtzustände nur schwächer, dann überlappen sich diese. Aber zu seinem Entsetzen stellt er bald gar keinen Unterschied mehr fest, nur ein starkes Unwohlsein. Dies verstört ihn zutiefst und er zieht sich aus der Gegend zurück, wobei einiges unklar bleibt, denn die Verlagerung der Geruchswahrnehmung besteht anscheinend nur im Falle der Durian, andere Gerüche betrifft es in dieser Form nicht. In der Folge ist sein allgemeines Geruchsvermögen extrem gesteigert. Das geht so weit, dass er die Gerüche und Düfte der Parfümerieabteilung des Duty-Free-Shops im Flughafen Jakarta schon beim Vorbeigehen als unerträglich streng empfindet. Fredo stockt in dieser Situation der Atem, er kollabiert und muss ärztlich versorgt werden. Seinen Rückflug nach Deutschland kann er nur mit einem Hochleistungsfilter vor der Nase antreten. Zurück in Deutschland können die von ihm konsultierten HNO-Ärzte nicht helfen, diese Form von Hyperosmie ist fern ihrer Heilkünste. Der Leidensdruck Fredo Riebolds wird immens, er sucht als Ausweg Hilfe bei Neurologen, denn inzwischen erscheinen ihm fast alle Gerüche unerträglich scharf. Er muss in Isolation behandelt werden. Besucher, die mit einem zur Aufmunterung gedachten Blumenstrauß sein Krankenzimmer betreten wollen, werden wegen Beeinflussung der Atemluft strikt abgewiesen. Die in der Klinik angewendete Stufen-Therapie in Form eines Riech-Trainings, wechselweise mit den Aromen von Eukalyptus, Zitrone oder Gewürznelke, bringt selbst in hoher Duftstoffkonzentration keinen Erfolg.

Es ist Astrid Butenschön, eine Leidensgenossin aus der Selbsthilfegruppe, Nasenbär, für Menschen mit schweren Geruchsbeeinträchtigungen, die seinen Zustand verändert. Sie besucht ihn in seinem Krankenzimmer. Fredo schläft und kann so nicht verhindern, dass Astrid mit einem Strauß Rosen erscheint. Sie stellt dieses pittoreske Arrangement auf seinen Nachttisch und geht. Als Fredo erwacht und die Blumen sieht, reagiert er panisch und will diese auf der Stelle entsorgen. Aber im selben Augenblick spürt er eine Veränderung an sich, ein Wohlgefühl hat sich auf seinen Mund- und Rachenschleimhäuten ausgebreitet. Fredo Riebold kann Gerüche wieder normal wahrnehmen. Der intensive Duft von Astrids hocharomatisch duftender Neuzüchtung einer Damaszener-Rose schwebt noch für längere Zeit in der Luft seines Zimmers.
 



 
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