Geschichte einer Lebenslüge

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Nichts als die Wahrheit

Er war mitten in der Nacht aufgewacht und der Albtraum war sofort wieder präsent. Obwohl er sein Handy selbst eingeschaltet hatte, schreckte er vor dem Aufleuchten des Displays zurück. Es war zwei Minuten nach drei. Er hatte inständig gehofft, heute endlich etwas länger schlafen zu können. Der Geschmack im Mund war schal und sein Hals war trocken. Die halbe Flasche Wasser neben seinem Bett, die er vor ein paar Minuten, noch im Halbschlaf gierig in einem Zug geleert hatte, brachte keine Linderung. Er ging ins Bad und erschrak vor seinem Spiegelbild. Sein linkes Auge war rot und leicht geschwollen. Das rechte hält sich immer erstaunlich gut, dachte er. Aber an dem linken war zu sehen, dass es gestern Abend nicht zwei Gläser Wein waren, sondern zwei Flaschen. Niedergeschlagen kroch er zurück ins Bett. Unter der Bettdecke war es zu warm. Er deckte sich ab und dann war es wieder zu kühl. Durch das angekippte Fenster vernahm er das unschuldige Zwitschern einer Nachtigall. Es klang, als würde sie sich lustig machen über seine verzweifelten Einschlafversuche. Sein Magen rumorte. Vier Tage hatte er kaum gegessen. Er konnte nicht. Er saß schon morgens vor seinem Porridge, als hätte man ihm frisch Erbrochenes aufgetischt.

Sie müssen unbedingt unter Leute, hatte ihm sein Psychotherapeut geraten. Und dann noch irgendwas wie, dass man die Trauer zulassen muss. Er hatte ihm von den nicht enden wollenden Stunden erzählt, in denen er in seiner vereinsamten Wohnung wie in einem Tigerkäfig herumlief, als würde sich in irgendeiner Ecke sein Lebensmut wieder anfinden. Ach, wahrscheinlich hatte er sich irgendwo in der Küche, vielleicht im Gemüsefach des Kühlschranks versteckt. Zuversicht hält sich ja bekanntlich am besten bei so um die Null Grad, ging es ihm durch den Kopf, während das einsame Nachtigallgezwitscher von draußen langsam in ein Konzert überging.

Schatten im Blick, lachen ist gemalt, fiel ihm ein. Herbert Grönemeyer kannte das also auch. Mit nur sechs Worten hatte er ein komplettes Bild seiner Gemütsverfassung gezeichnet. Das ist wahre Poesie. Hut ab.
Eiskalte Hand, mir graut vor dir. Nein, eiskalt war ihre Hand nicht, als sie vorgestern Abend kam und mit ihm in der Küche gesessen hatte, um sich zu erklären. Sie hatte ihm die ganze Zeit mitfühlend in die Augen geschaut. Ihre Hand war nicht eiskalt, sondern wohltuend kühl in seiner schwitzigen großen. Oh Gott, wie hatte er diese kleinen, schlanken Hände geliebt! Hilflos hatten sie dagesessen und betreten die Gesprächspausen hinnehmen müssen, die sich hinzogen wie Schweigeminuten. So was hatte es früher nie gegeben. Aber sie hatten von heute auf morgen keine Worte mehr füreinander.

In den letzten Tagen hatte sein rastloses Gehen durch die Wohnung, schon zwanghafte Züge angenommen. Als wäre ihm jemand dicht auf den Fersen. Zwischendurch fasste er sich immer mal wieder an die Brust, weil ihm war, als wäre sein Oberkörper mit einer klebrigen Masse gefüllt, die ihn einengte und am Atmen hinderte. Am liebsten hätte er sich seinen Brustkorb mit bloßen Händen aufgerissen. Aber je mehr er zog und drückte, umso mehr verstärkte sich seine Atemnot. Dann hörte er auf zu rennen. Er ließ sich in den Sessel seines Wohnzimmers fallen, streckte die Beine von sich und keuchte. Sein Herz pochte wie wild und dann war plötzlich Ruhe. Er fiel in ein Loch und dachte das wars jetzt. Aber sein Herz hatte ihn ausgetrickst. Es hatte nur ausgeholt zum nächsten Donnerschlag und rumpelte ungestüm in seiner Brust wieder los.

Das Handy auf seinem Nachttisch signalisierte das Eingehen einer E-Mail und er erkannte auf dem wegdimmenden Display, dass es inzwischen halb fünf war. Die Geräusche der erwachenden Stadt begannen sich mit den Vogelstimmen zu vermischen und er überlegte, ob es ihm helfen könnte, jetzt zu onanieren. Er bemühte sich eine Weile und musste resigniert feststellen, dass Sex tatsächlich im Kopf stattfindet. Er konnte sich erinnern, dass er es mal versucht hatte, zu kommen, ohne dass er selbst Hand an sich gelegt hatte. Nur aus der reinen Vorstellungskraft heraus. Einmal gelang es ihm. Das war aber mindestens zwanzig Jahre her. Da war er vielleicht um die dreißig. Aber jetzt an Sex mit ihr zu denken, tat weh. Die schreckliche Gewissheit, dass sie das nie wieder erleben würden, trieb ihm erneut die Tränen in die Augen. Wie aus dem Nichts fing er an zu schluchzen. Ein komisches, tiefes Glucksen begann ihn zu schütteln, als müsste er sich übergeben. Er ließ es zu und ergab sich seiner Trauer. In den vergangenen vier Tagen hatte er die Erfahrung gemacht, sich danach besser zu fühlen. Erschöpft, aber etwas erleichtert.

»Ich habe immer schon mehrere Männer gedatet«, hatte sie gesagt.
»Wie? Gleichzeitig?«
»Ja.«
»Aber doch nicht während wir zusammen waren?«
»Doch.« Sie nickte ernst.
Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, dass der Boden unter ihm zu schwanken begann. Also hatte sie ihn die ganze Zeit belogen? Zwei Jahre lang? Mit diesem einem Satz hatte sie ihnen endgültig eine gemeinsame Zukunft genommen und auch die kleinste Hoffnung, ihre Trennung könnte möglicherweise nur vorübergehend sein. Wie sollte er jetzt noch an das Gute im Menschen glauben? Sie hatte einen seiner wichtigsten Lebensgrundsätze auf dem Gewissen. Sie hatte eine Illusion zerstört, der er sich jahrelang hingegeben hatte; die er hochgehalten und gegen alle Widrigkeiten dieser Welt bis aufs Letzte verteidigt hätte. Bis heute war sie für ihn die personifizierte Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit gewesen. Seine Göttin. Die Reinheit ihres Wesens hatte ihn anfangs überwältigt und in ihm ein ganzes Universum idealer Werte belebt. Das Wort bedingungslos wurde durch ihr Sein geheiligt. Sie hatte die Gabe, durch ihre Anwesenheit einfachste Dinge zu bedeutungsschweren Ritualen aufzuwerten: Gemeinsam zu lesen, philosophieren, kochen. Selbst eine von ihr gesprochene banale Sprachnachricht erfuhr durch ihr Art zu sprechen eine majestätische Aura . Er hatte sie auf Händen getragen und sie nahm es wie selbstverständlich hin; wie eine, die sich ihrer Göttlichkeit bewusst war.
»Wir vertrauen uns doch, ja?« , hatte sie ihn gefragt. Er hatte ihr vertraut. Bedingungslos. Bis zum heutigen Tag. Sein Kartenhaus stürzte zusammen und der Boden unter ihm gab nach.
 
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G

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Gast
Mich hat’s mitgenommen.
Eine Situation, die sich wohl niemand wünscht: Enttäuschung - und das Ende aller Täuschung.


»Ich hatte schon immer mehrere Männer gedatet«, hatte sie gesagt.
Müsste es hier nicht heißen: "Ich habe immer schon mehrere Männer gedatet", hatte sie gesagt. ?
 
Ja kann man lesen.
Obwohl ich anfangs dachte, dass ihm mindestens sein einziges Kind und seine Mutter gleichzeitig weggestorben seien. Und einen Krebsdiagnose obendrauf. Aber doch, ein Beziehungsende kann auch schon ganz schön schlauchen. Vor allem, wenn erst am Schluss raus kommt, dass das Paar sozusagen nach unterschiedlichen Regeln gespielt hat.

Was aber gar nicht geht: Ein Grammatikfehler in der Überschrift. Bitte: "Geschichte einer Lebenslüge"
 
Ja kann man lesen.
Obwohl ich anfangs dachte, dass ihm mindestens sein einziges Kind und seine Mutter gleichzeitig weggestorben seien. Und einen Krebsdiagnose obendrauf. Aber doch, ein Beziehungsende kann auch schon ganz schön schlauchen. Vor allem, wenn erst am Schluss raus kommt, dass das Paar sozusagen nach unterschiedlichen Regeln gespielt hat.

Was aber gar nicht geht: Ein Grammatikfehler in der Überschrift. Bitte: "Geschichte einer Lebenslüge"
Hallo Binsenbrecher,
wenn ich wüsste, wie das funktioniert, hätte ich den Titel gern korrigiert. Vielen Dank für den Hinweis. Ein Grammatikfehler im Text mag vielleicht noch gehen, aber in der Überschrift: das ist in der Tat etwas peinlich. Sorry
 



 
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