Geschmackssache

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Am Rande des nordfriesischen Festlands, eingebettet in eine Landschaft aus Wiesen, Stränden und Deichen, befinden sich Rückzugsorte für erholungsbedürftige Urlauber. Hier, fernab vom umtriebigen Leben der Städte, ist nicht nur ein idealer Platz zur Aufzucht von Schafen, auch Kinder wachsen hier unter dem weiten blauen Himmel naturverbunden auf. Hier können sie sich optimal entwickeln. So auch Sven-Ole Jensen, der in seinen jungen Jahren viel Zeit bei seinem Großvater, Opa Morten, verbrachte, einem Schafzüchter am Vordeich in der Nähe des kleinen Fährhafens Dagebüll. Morten Jensen, als eigenbrötlerisch bekannt, lebte förmlich auf, als er seinen Enkel zum ersten Mal um sich hatte. Er hatte zugesagt, sich um den Jungen zu kümmern, wenn es erforderlich sein sollte und dieser zumindest krabbeln könne. Und das mit dem 'Sabbeln' würde sich später wohl ergeben.

Und Sven-Ole passte in dieses Leben, in die Welt der unendlich weiten, grünen Wiesen am Deich. Er fügte sich nahtlos in die Gemeinschaft der Schafe ein. Mortens Nachbar Jasper nannte den Kleinen schon mal scherzhaft das neue Mitglied der Herde. Was dem Schafzüchter auffiel, Sven-Ole erlangte schon sehr früh ein Gespür für Essbares um ihn herum. Sein Großvater staunte, dass der Junge in einem Alter, in dem Kinder zur Erkundung alles Greifbare in ihrer Umgebung in den Mund stecken, sein Enkel Sven-Ole ausschließlich bekömmliche Gräser und Pflanzenteile auf diese Weise für sich entdeckte. Er zeigte dabei niemals Reaktionen von Unverträglichkeiten. Ein ganz besonderer Bezug zu grüner Nahrung war ihm augenscheinlich angeboren - oder er hatte es den Schafen abgeguckt. So war es nicht verwunderlich, dass Sven-Ole im Alter von dreizehn Jahren das umfangreichste Herbarium an der gesamten Schule vorweisen konnte. Seine Biologielehrerin war sich sicher, dass es weit und breit keine komplettere und akribischer gelistete Sammlung von gepressten Pflanzen der Heimatregion gab. Und das war es dann auch schon mit herausragenden schulischen Leistungen. Biologie sehr gerne, aber alle anderen Fächer waren nicht die Welt von Sven-Ole Jensen. Die Hürde der Mittleren Reife nahm er im zweiten Anlauf. Dass er anschließend eine Ausbildung zum Koch machte, war einem Zufall geschuldet. Seine Familie hatte den Kleinen im Alter von elf Jahren mit auf die Insel Sylt genommen, wo ein Abnehmer für Opa Mortens Bio-Schafsfleisch ein bekanntes Restaurant betrieb. Der Junge hörte den Erwachsenen aufmerksam zu. Als es um Erweiterung der Speisekarte ging, warf er kurz ein: “Queller, versuch's doch mal mit Queller.” Die meisten in der Runde, allesamt alteingesessene Deichanrainer, lachten. „Queller auf den Teller? Das geht gar nicht, das ist doch Unkraut, das ist was fürs Vieh.“ Der Spitzenkoch, kein gebürtiger Küstenbewohner, schaute den Kleinen an: “Du meinst, dieses Grünzeug, das am Rande des Watts wächst?” “Ja, sicher. Das schmeckt gut und ist schön salzig.”

Das war der Beginn einer einzigartigen Gastro-Karriere. Der Sternekoch griff irgendwann den Vorschlag auf, den ihm Sven-Ole so ganz nebenbei unterbreitet hatte. Er wagte sich noch weiter vor, und dabei ging es dann nicht nur um Queller, der bald zum Kult-Gemüse wurde. Er sah nun die Natur um sich herum mit anderen Augen. Viele Kräuter, die er vorher achtlos als Unkraut übersehen hatte, nahm er in seine Speisenkarte auf. Dies war der Anfang des Gastrotrends, der unter dem Sammelbegriff Regionalküche Furore machen sollte. Nach der Ausbildung bei einem der Spitzenköche Deutschlands, hier auf der Insel Sylt, wollte Sven-Ole sein Können ausweiten. Er zog mit der Empfehlung seines Meisters durch einige der besten Restaurants Europas. Der Junge vom Deich lernte enorm schnell, wenn es um Zubereitung von leckeren Speisen ging. Ihm ging bald der Ruf voraus, den absoluten Geschmack zu haben. Eine Fähigkeit, die nur ganz wenige Menschen aufweisen können - für jeden Koch eine Gnade. Spitzengastronomie in England, Frankreich, Belgien, in der Schweiz, das waren die kulinarischen Stationen, die das Kochgenie Sven-Ole Jensen prägten. Dann kehrte er in seine Heimat hinterm Deich zurück. In Süderlügum, einem kleinen Ort nahe der Grenze zu Dänemark, eröffnete er sein erstes eigenes Restaurant, natürlich mit Speisen aus der Region; Schaf- oder Lammgerichte kamen bei ihm allerdings nicht auf die Karte. Vorher unbekannte Spezialitäten, wie Gerichte aus und mit Dünen-Rose, Schwarzkrähenbeere, Sandthymian und viele andere bisher vernachlässigte Wildpflanzen der Küstenregion machten Sven-Ole berühmt. Das Highlight aber: Blasentang. Dieser schmeckt nach Salz, nach Meer, nach Umami mit einer leichten Erbsen/Bohnennote. SO, wie ihn die Kochwelt inzwischen in Kurzform nannte, war nicht nur der Pionier dieser neuen Kochrichtung, er wurde zu deren Magier.

Sein Restaurant 'Salicorne' erlangte internationales Ansehen. Sven-Ole nutzte frühere Verbindungen und baute darauf eine internationale Restaurant-Kette im Franchise-Verfahren auf. Der Erfolg gab ihm recht. Einige Jahre später zog er sich aus dem operativen Geschäft zurück und widmete sich der internationalen Kulinarik-Forschung. Der große Durchbruch als Küchenpionier gelang ihm in Japan. Das weit verbreitete Sushi war dabei nie sein Thema gewesen. Es ging ihm ausschließlich um Algen, und da bietet die japanische Meeresflora eine unglaubliche Vielfalt. Es war speziell die Alge Glaucophyta, die Sven-Ole für sich entdeckte; vielseitig verwendbar, sehr delikat und voller wohlschmeckender Aromen. Und dieses Geschmackserlebnis verwendete er kreativ in seinen Gourmet-Variationen und verarbeitete seinen Schatz aus dem Meer weiter. Er trocknete diese oft unterschätzte Beilage aus dem Ozean, um sie anschließend zu pulverisieren. So erhielt er ein natürliches Gelier- und Bindemittel, ein Agar-Agar der besonderen Art mit einzigartigem Geschmack. Dieses Darreichungsform integrierte er in seine neue Art des Kochens. Hierbei nutzte er physikalisch-technische Methoden, um völlig neue Eigenschaften der Ausgangsstoffe zu kreieren. Kaltgaren, Vakuumgaren, warme Gelees, heißes Eis, Kaviar aus Melonen, das alles entstand aus seinen weiteren revolutionären Denkansätzen. Sven-Ole war überzeugt, die Welt des guten Geschmacks damit erobern zu können. Weit gefehlt. Die Trendsetter der internationalen Kochszene taten das als Spinnerei ab. Sven-Ole Jensen gab auf. Er zog sich zurück in die heile Welt der Schafe und endlos grünen Wiesen hinter dem nordfriesischem Deich, wo die Luft nach Meer und Kräutern riecht. Er vermisste hier die Attitüde der großen weiten Welt nicht, deren Flair fiel einfach von ihm ab.

Jahre später verkündeten Köche aus dem Süden Europas von einer völlig neuen Art des Kochens: die sogenannte Molekularküche. Diese wendete unter anderem all die Verfahren an, die ein visionärer Koch aus dem hohen Norden Deutschlands lange vor ihnen entwickelt hatte.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Horst,

wieder sehr gerne gelesen, Du hast ein Händchen für besondere Stoffe.
Wenn nur die Geschichte nicht so 'undramatisiert' runtererzählt würde. So auf halber Strecke des Lesens war in einer Gehirnregion bei mir schon das Suchen nach der möglichen Pointe im Gange - und dann kam recht schnell die Erkenntnis, nein, da wird es keine Pointe geben. Das wird jetzt zu Ende erzählt und das war es.
Nun gab es doch da den Opa, dem der Junge ans Herz gewachsen war ... verschwindet einfach so. Die Schuljahre, die Rolle der Eltern - haben die das einfach so akzeptiert, dass er eine Inselbegabung hatte, und alles andere brach lag? Ein Privatleben - Freunde, Freundinnen, Ehefrau oder -Mann, Kinder, Enkel, materieller Erfolg?
Ich finde das selbst sehr schwierig, einem Autor zu sagen, warum hast Du jetzt diese Geschichte geschrieben und nicht die andere, die mir vielleicht ein bisschen besser gefallen hätte. Ist ja Blödsinn, sowas ... ich finde es nur schade, dass sich diese Geschichte nicht auch emotional einnisten kann.

Das werden jetzt trotzdem fünf Sterne, weil mir dieser Sven-Ole Jensen trotzdem so mordssympathisch geworden ist! (Erklär mir einer die Leser ;))

Liebe Grüße
Petra
 
Liebe Petra,
es ist wohl so, jede Geschichte könnte man auch anders erzählen. Ich habe diese Version gewählt und bin gleich dort gelandet, wo vom Leser mehr 'Epische Breite' erwartet wird. Möglicherweise fülle ich den Begriff Kurzgeschichte mitunter mit zu knappen Texten, die bisweilen etwas nüchtern daherkommen. Das mit dem Leser ist so eine Sache: Als Autor ahne ich nicht, welche Erwartung geweckt wird - als Leser geht es mir mitunter so wie Dir. Freut mich, dass Dir die Geschichte trotzdem gefällt – vielen Dank für die volle Sternenzahl. Herzliche Grüße.
Horst
 



 
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