GeschWindigkeit des Seins (Sonett)

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James Blond

Mitglied
Schon länger meint die Welt genau zu wissen,
dass niemand über ihren Wolken thront -
seit kein Vertrauen ihr mehr innewohnt,
hat sie die Himmel leise abgerissen.

Wozu soll man auch seine Flagge hissen,
wenn sie kein Lüftchen mehr mit Schwung belohnt?
Was ängstlich sich vor Schicksalswinden schont,
lässt früh die Anmut der Bewegung missen.

Der große Wurf, längst zum Kalkül verschlissen,
ließ alle lebensnahen Geister fliehen,
ein schwacher Hauch entströmt noch jenen Rissen,
die sich durch Planungssicherheiten ziehen.

Zergrübelt man die Dinge auch beflissen,
so ist daran noch nie das Sein gediehen.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ein sehr philosophisches Gedicht. Gut gefällt mir GeschWindigkeit. Es zeigt, dass Windigkeit Teil von Geschwindigkeit ist.

Das Gedicht zeigt (für mich) eine Entwicklung, die zu immer mehr Starre und Illusionen führt. Nur die Schäden (Risse) zeigen noch Leben, aber es gibt Hoffnung, wie die Pflanzen im gerissenen Beton alter verlassener Bahnsteige.
 

Tula

Mitglied
Hallo James
Da ich die Zitronen bereits kannte (d.h. ein gutes Gedicht, dass eben deshalb hängenblieb), ein paar Worte zu diesem.

Ein lebens-philosophisches Gedicht, durchaus "nicht allzu offensichtlich auf den Punkt gebracht", d.h. Freiraum belassend. Jeder kann seine abgeschlafften Flaggen selbst suchen und finden. Die am gelungenste Strophe für mich S2.

Dennoch haben mich viele Gedichte von dir schon weitaus mehr begeistert. So wie die sogenannten politischen Gedichte stets Gefahr laufen, einseitig verallgemeinernd zu wirken, haben die 'erkenntnis-theoretischen' den Makel des Altbackenen, dass man als Leser den Eindruck gewinnt, man säße wieder auf der Schulbank. Wir wissen, dass man dem gerade bei solchen Gedichten nur mit Humor entkommt. Du hast deinen eigenen, sehr geistreichen und auch bissigen, der mir hier irgendwie fehlt. Ich will einen leichten ironischen Unterton nicht abstreiten, aber Risse in Planungssicherheiten sind mir da etwas zu wenig. Das Leben ist tragischer und komischer zugleich, als es das Gedicht widerspiegelt.

Zum Sprachlichen: die Häufung weiblicher Kadenzen ist in der Regel bedenkenswert. Noch bedenklicher: die zweite Hälfte des Werkes benutzt darüber hinaus einen klanglich fast identischen Ton, also auf 'i/ie'. Ich vermute, dass das Absicht ist, um dem ziehenden Winde klanglich Nachdruck zu verleihen. Vielleicht. Da aber 7 der 14 Verse schon auf -issen enden, wirkt die zusätzliche weibliche Kadenz auf -iehen auf mich eher störend. Ich würde da einen Kontrast vorziehen.

LG
Tula
 

James Blond

Mitglied
Hab vielen Dank, lieber Tula, für deine eingehende und erwägende Betrachtung! Ich freue mich, wenn dies der Beginn eines fruchtbaren Dialogs werden könnte.

Ich kann gut verstehen, dass solch ein Sonett nicht gerade begeistert, sondern an quälende Schulbanksitzungen erinnert. Nicht aus sadistischen, aber immerhin aus didaktischen Gründen habe ich es hier ausgewählt, was bekanntlich eine nicht ganz unähnliche Absicht ist. ;)

Es soll neben der klassischen Form auch ein inhaltliches Beispiel für eine Sonettgestaltung bieten, in der zwei widersprechende Thesen mit einander ringen. Nebenbei habe ich in der Reimbeschränkung auf drei Reime (abba baab acac ac) die Vorgaben noch zu übertreffen gesucht - und eben auch etwas übertrieben.

Schön, dass es dir aufgefallen ist. Auf den besten Typ-a Reim habe ich allerdings verzichtet, das wäre wohl 'beschissen'. Aber er schwingt das ganze Sonett hindurch leise mit, was gut ist. So mag die Ähnlichkeit der Typ-a und Typ-c Reime einem Kaugummieffekt entsprechen, wo etwas zu sehr in die Länge gezogen wird. Nicht gerade klangschön, aber ausdrucksvoll.

Grüße
JB
 
G

Gelöschtes Mitglied 21900

Gast
Mit Verlaub, JB,
deine Intelligenz steht dir beim Dichten hier im Wege. Mal schlicht abgesehen von Reim-Typen-Spielen und Silbenzählereien: Inhaltlich hakt es bei diesem Sonett! Und deswegen bleibt nichts davon bei mir «hängen». Du bringst die abgedudelsten Trivialitäten auf den Markt. Kann man ja machen, aber wenn, dann doch bitteschön dazu eine originelle Sichtweise! Selbst, wenn du hier die grünen Sterne zulassen wolltest, ich würde keine geben.

Gruß Klaus
 
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James Blond

Mitglied
Hmm, trotz allem meinen Dank für deine Worte. :)
Doch ganz so abgedudelt und unoriginell scheint mir diese Sicht auf die GeschWindigkeit des Seins nicht zu sein. Ich weiß jedenfalls nicht, wer schon alles dafür eine Flaggenmetapher verwendete.

Grüße
JB
 

James Blond

Mitglied
Danke, Bernd. Hatte ich auch so verstanden.

Ich würde aber gern einmal erfahren, wo diese Thematik lyrisch behandelt wurde: Die Verarmung des Leben durch das perfektionierte Ausschließen seiner Risiken, metaphorisch unterlegt durch Wind und Luft.

Zur Zeit übrigens ein ziemlich aktuelles Thema ...

Grüße
JB
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Das Thema des Abreißens des Himmels, des Entthronen der Götter zieht sich durch die Jahrhunderte.
Es begann schon mit Prometheus, der dabei aber (zumindest scheinbar) scheiterte. Bestraft wurde er.
Auch Ikaros Flug in den Himmel scheiterte.

Ein bekanntes Bild, das zeigt, wie ein Mensch durch den Himmel schaut (durch das Himmelszelt) ist sehr anschaulich und stammt von Flammarion. Fälschlich wird es oft als mittelalterliches Weltbild bezeichnet.

Quelle:
Die Erbsünde hat uns vom Himmel abgerissen.
Wir haben uns hier in einem anderen Sinne vom Himmel abgerissen, obwohl eine enge Verwandtschaft zum Gedicht besteht. Wir haben nicht uns - noch dazu unabsichtlich - vom Himmel abgerissen, sondern absichtlich den Himmel selbst abgerissen, bildhaft als Symbol der Religion, Gott oder Götter.

Angesprochen ist auch der Fatalismus, der das Schicksal verkörpert und den das Schicksal verkörpert.

Es zieht sich durch Jahrhunderte. Auch die Romantik entthronte bereits den Himmel als Pantheon der Götter. Quelle: Jahrbücher des deutschen National-Vereins für Musik und ihre Wissenschaft von Deutscher National-Verein für Musik und ihre Wissenschaft

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Das Gedicht greift verschiedene Strömungen auf, die zusammenwirken, und es enthält eine sanfte Trauer über den Verlust.

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Letztlich entstand eine neue Religion, die einer Scheinwissenschaft, die die Welt erstarren ließ. Scheinwissenschaft, weil alles erklärbar schien und alles wissenschaftlich vorgeschrieben werden sollte. Es ist wahr, weil es die Wahrheit ist. Und es war zu schön, um wahr zu sein. Eine Illusion.
 

James Blond

Mitglied
Ja, Bernd, das Thema ist natürlich uralt. Danke für deine Gedanken dazu. Allerdings war Prometheus gewiss kein Himmelseinreißer (wie seinerzeit Darwin), sondern ein Dieb, der mit seinem Diebstahl göttlichen Wissens und der nachfolgenden Strafe die Evidenz der Götter eindrucksvoll unter Beweis stellte.

Auch die Romantiker würde ich - im Unterschied zu den Aufklärern - hier nicht als Abrissbirnen sehen. Sie suchten die in der Aufklärung gerissene Verbindung zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Gott und der Welt in ihrer vertieften Natursicht wieder herzustellen, doch die Blaue Blume blieb verschwunden. Stattdessen durchzieht bereits ihre Werke eine sanfte Trauer über den unwiederbringlichen Verlust. Als durch die lange Kette entsetzlicher Ereignisse im 20. Jahrhundert dem Gottvertrauen vollends der Garaus gemacht wurde, begann die Suche nach neuen Sicherheiten. Sie ließ die Naturwissenschaften ebenso erblühen, wie auch die Türme der Versicherungen anstelle der Kathedralen nun in den Himmel wuchsen.
Doch je mehr wir planen, desto heftiger bestraft uns bekanntlich das Leben. Zwar reden wir in diesem Zusammenhang noch von unerwarteten Schicksalsschlägen, meinen damit aber vorrangig ungünstige Zufälle.

Dieses Sonett will nicht belehren, wenn es auch schulmeisterliche Klänge entwickelt. Es will zum eigenen Nachdenken anregen. Humoreinlagen würden ihm dabei nicht helfen.

Grüße
JB
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Auch die Romantiker würde ich - im Unterschied zu den Aufklärern - hier nicht als Abrissbirnen sehen. Sie suchten die in der Aufklärung gerissene Verbindung zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Gott und der Welt in ihrer vertieften Natursicht wieder herzustellen, doch die Blaue Blume blieb verschwunden.
Ich hatte hierzu Literatur gesucht, aber nur ein Beispiel angegeben. Natürlich ging es nicht in erster Linie darum, Himmel abzureißen.

Jedenfalls hast Du in dem Gedicht alles sehr schön auf den Punkt gebracht.
Zur Kyrielle hatte ich in alten Büchern etwas gefunden - und im englischsprachigen Bereich.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Die Planungssicherheiten, James,

Deiner Sonettfügung müßten eigentlich selbstanwendend ein paar Risse haben. Die Reime auf "-iehen" sollen laut Tula weiblich enden ("Reiminnen"), aber das Schwa der beiden Infinitiv-Endungen und des Partizips in der letzten Klausel ist so schwach, daß es gerade mal so einen I-Schwa-Diphthong wie in den Personalpronomina "wir", "ihr" und "mir" ausklingen läßt. Die Glättungen "fliehn" und "gediehn" in die starkbetonten Schlußsilben zu ziehn - - konntest Du so gesehen leicht vermeiden.

Ich sehe in der Planungssicherheit der formalen Gestaltung keine Risse (außer der nachlässigen Wiederholung der "Risse"). - und wenn, dann sind sie zu dünn für den "schwachen Hauch".

Ich habe ein paar inhaltliche oder logische Schwierigkeiten, mein Verstehen hapert.

1. Beim Sprung vom Himmelsverlust (1. Strophe) zur ausgezeichneten "Flaggen"-Metapher (2. Strophe).
2. "alle lebensnahen Geister" - klingt hohl, unlebendig, davon abgesehen, daß ein "großer Wurf" nicht einmal den Preisrichter beim Kugelstoßen fliehen ließe, wenn der Wurf sich nicht zuvor schon zu einem "Kalkül" errechnet hätte. Was er aber doch hat. Der Geist ist ein von schwachen Hauchen schlotterndes Laken-Gespenst.
3. Das "Sein"? was ist denn das denn?

grusz, hansz
 

James Blond

Mitglied
Boah, lieber Hansz, vielen Dank,

nun habe ich erst mal tief Luft holen müssen, um deinen weit ausholenden Fragen und Hinweisen überhaupt folgen zu können. Ich bin im Hebräischen noch im Phonetischen leider nicht bewandert genug, um den ersten Absatz auch nur ansatzweise zu verstehen. So doch wenigstens die empfohlene Geschlechtsumwandlung der weiblichen Reime (fliehen / ziehen / gediehen zu fliehn / ziehn / gediehn), um den typischen Wechsel männlich/weiblicher Kadenzen aufrecht zu erhalten. Das geht natürlich leicht und ich hatte es ja auch stets mir so vorgesprochen. Es bleibt dort allerdings noch immer der ständige Wechsel vom unbetonten zum betonten 'i', (ich nenne es den Kaugummieffekt) der spätestens nach 3 Versen zu nerven beginnt.

Auf deine logischen Verständnisprobleme einzugehen, erscheint mir etwas unkomplizierter:

1. Dieser Sprung ergibt sich aus der Tatsache des Himmels als Ort der Winde. Banal gesprochen: Wer seine Himmel abreißt, darf sich nicht über die innere Flaute wundern. Der Wind als göttlicher Odem wird ausbleiben.

2. Der 'Geist' braucht kein schlotterndes Lakengespenst zu sein. Denkst du an beGEISTern, an Beseelen, BeHAUCHen, ans Inspirieren also, dann zeigt sich eine Brücke zu 1. Das 'Kalkül', hier als Platzhalter für berechnendes, planendes, taktisches Vorgehen verwendet, wird dabei einer ergebnisoffenen, auf Zufälliges setzenden Kreativität gegenübergestellt.

3.Tja, was ist das Sein? ;) Ich mach's hier mal ganz kurz & knapp: Mit dem 'gedeihenden Sein' ist hier ein Erfahrungsraum gemeint, der alle Möglichkeiten der Existenz ausschöpft. Während das strategische Handeln den Zufall als störende Größe (v)erachtet, der seinen Planungen zuwider läuft, sieht das schöpferische Handeln hierin eine unentbehrliche Kraft, um überhaupt zu lebensbezogenen (lebensnahen) Ergebnissen zu gelangen - die Gefahr des Scheiterns dabei bewusst in Kauf nehmend: No risk - no fun! :)

Gruß
JB
 



 
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