Gesellschaft mit unbeschränkter Hoffnung

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Willibald

Mitglied
Supervision II : Gesellschaft mit unbeschränkter Hoffnung

Eröffnungen

„Liebe Kollegen”, sagte Severin Melzer und blickte in die Runde. Seine Kollegen saßen im Kreis. Der Stuhl von Oberarzt Marcell Anderson war frei, Gerda Wolf saß nahe bei Sven Fürst, das war auffallend. Sandmann rechts von Wolf. Nun ja. Melzer rückte an seiner Brille.

"Wir kommen zum zweiten Teil der Supervisions-Stunde. Erosvorstellungen. Wir erinnern uns wohl alle an die Diskussion um den Katzenkönig das letzte Mal. Das kurze Geplänkel der Kollegen mit den Haikus. Etwas unfruchtbar, wenn auch nicht ohne Reiz. Heute geht es um neue Texte. Unser Bildvermögen ist gefragt, unsere Affekte sind gefragt, unsere Deutungskunst nicht minder."

Über Deutungskunst durfte man ihn nicht reden lassen. „Sie hatten doch gegenüber Joscha angedeutet, sie schrieben an einem Text, einer Erzählung, mit dem Titel ´GmuH´?” Fürst war das. „ Würde - da spreche ich sicher nicht nur für mich - interessieren. Der Titel wirkt nüchtern, stellt nicht auf Affekte ab, höchstens indirekt. Wohl eine realistische Geschichte?”

"Eine anregende, wirklich anregende Überlegung, Kollege Fürst. Der Titel, jeder Titel, skizziert mehr oder weniger bestimmt ein Feld. Entsprechende Erwartungen werden beim Leser geweckt. Ich will diesen Antizipationseffekt später ein bisschen nutzen. Ich verspreche mir eine anregende Diskussion davon, die unsere Deutungsroutinen evaluiert. Aber nun zur Exposition, zur Eröffnung der Erzählung."

Angela

Oberarzt Melzer öffnete die vor ihm liegende Mappe und begann zu lesen.
  • GmuH

    Als die zweiundzwanzigjährige Angela, braunhaarig, klug, neugierig, schlank, biegsam eines Abends den Hörsaal der Volkshochschule im dritten Stock eines Gymnasiums am Rande der Stadt betrat ....

„Das erinnert an das Chef-Poem vom Katzenfürsten.” Sven Fürsts Erinnerungsvermögen war unbestreitbar groß. „ …Schlank und biegsam, wunderbar, braune Augen, schwarz das Haar ..... Das Katzenmädchen in seiner erotischen Aura. Die Appetenz des Katzenfürsten. Warten Sie, ich habe hier das Chef-Gedicht aus der letzten Supervisionssitzung notiert:
  • Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
    maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.

    Horcht gar bang zum Gang hinaus,
    endlich kommt Sie. Ei, der Daus!

    Schlank und biegsam, wunderbar,
    braune Augen, schwarz das Haar.

    Geschmeidig, schlau … und und ..... und und ....
    „Kätzle, küss mich auf den Mund!”

    Bald schon tobt der Katzen Krieg,
    Verlierer: Keiner. Welch ein Sieg!
Aber ich wollte nicht unterbrechen.”

Melzer hielt es für gut, die letzte Bemerkung Fürsts als eine Aufforderung zur Fortsetzung der Lektüre zu interpretieren und reagierte mit einer kleinen Veränderung, die den etwas peinlichen Bezug auf das erotische Ideal des Chefs milderte:
  • GmuH

    …Als die zweiundzwanzigjährige Angela, braunhaarig, klug, neugierig, eines Abends den Hörsaal der Volkshochschule in einem Gymnasium am Rande der Stadt betrat, wo sie regel-mäßig Anselm Rieger hörte, der die Frage, warum Frauen zu sehr lieben, mit Robin Norwood, Alfred Adler und Anselm Rieger zu beantworten suchte, befremdete sie der Raum im dritten Stock doch sehr ....
„Kurze Unterbrechung, Kollege Melzer. In den ersten Zeilen, die männliche Figur, Anselm Rieger, erinnert mich von seiner ganzen Art her ein wenig an unseren Chef: An seine erotischen Präferenzen, an die von ihm verehrten Autoritäten. Kommt er heute wieder etwas später?”

„Nein. Als er hörte, dass Kollege Sandmann für seinen sechzigsten Geburtstag ein Lied geschrieben hat, das wir nachher proben wollen, meinte er, sein Beisein sei doch wohl eher nicht tunlich. Ich darf fortfahren, liebe Kollegen?” "Möglichst weit", murmelte Fürst.
  • ....befremdete sie der Raum im dritten Stock doch sehr, in dem die Anhänger des Dozenten und Psychotherapeuten sich zu sammeln pflegten. Dort, wo sonst eifrig die vielen Zuhörerinnen den Kopf über Robin Norwoods Buch beugten, um dann um so intensiver den Augenkontakt mit dem Dozenten aufzunehmen, der mit jovialer Grandezza seine Worte zelebrierte, dort also gähnten leere Tische ....
„Diese Sätze!” Fürst war das, natürlich wieder Fürst. Severin lächelte ein wenig gequält und hörte sich Fürsts Kommentar an. "Man ist so gespannt auf das Ende eines Satzes, dass man fast vergisst, was am Anfang stand. Wenn man sich allerdings konzentriert, hat man jede Chance zum Sinn der Sätze und wohl auch zum Sinn der Geschichte vorzudringen …"


Konrad


Melzer blieb souverän und fuhr fort:

  • .... Angela überprüfte die Situation: Heute war doch Freitag, Ferien waren keine und sie träumte auch nicht, wie ihr ein schnelles, herzhaftes Zwicken in den Unterarm verriet. Sei es aus einer gewissen Erschöpfung heraus, sei es aus bleiernem Unvermögen, die unwirkliche Situation zu klären, sank Angela in einen Sessel, von dem sie den Blick auf die gegenüberliegende Wand richtete, wo Gymnasiasten in chinesischer Tuschmanier auf ein großes Plakat eine Schlange gemalt hatten, welche sich durch Gras schlängelte. Im Hintergrund des Bildes wartete eine hochaufgerichtete Schlange auf sie. Wohl ein Partner …
„Ich hätte da einen Haiku.” Manuel Sandmann hob den Kopf von seinem Schreibblock. „Dieses Bild in Ihrer Geschichte hat stimulierendes Potential.
  • Die Schlange schlich fort.
    Die Augen, die mich ansahn,
    Sie blieben im Gras.”
Sven Fürst schloss die Augen, wiegte bei der letzten Zeile Sandmanns schon ein wenig den Oberkörper, hob dann die Hand und sagte in die entstandene Stille hinein:
  • Es röhrte wieder,
    Auf dass man ihn vernehme,
    Der Haiku-Hirsch."
Manuel Sandmann versuchte die Silben in Svens letzter Zeile zu rekonstruieren. Es schienen nur vier zu sein, wenn man "Haiku" zweisilbig sprach. Hatte Fürst "Ha-i-ku" gesagt? Man konnte nicht sicher sein.

Melzer nutzte Sandmanns Schweigen und fuhr fort.
  • .... Angela schloss die Augen und vor ihrem inneren Auge erschien die Schlange im Vordergrund und die Schlange weit hinten. Und es überkam sie Wehmut, da sie allein war.

    Ein Geräusch von Sandalen rief sie in die Außenwelt zurück. Vor dem Bild stand Konrad, die Linke etwas verkrampft, das blonde Haar glatt zurückgekämmt. Konrad, gezaust von Misserfolgen in Freundschaft, Freizeit und Liebe.

    Er nestelte an seiner Tasche, die einen Schreibblock im DIN-A-4-Format enthielt, holte ein Federmäppchen hervor und aus dem Federmäppchen einen Radiergummi von blauer Farbe, den er eine Weile unschlüssig betrachtete.

    Dann klemmte er Norwoods „Wenn Frauen zu sehr lieben” unter seine Achsel, schritt auf Angela zu und zeigte ihr, was er in der Hand hatte. Der Radiergummi war herzförmig geschnitten. Konrad hatte ihn gesehen und gekauft, in Gedanken bei jenem Mädchen, das so oft im Hörsaal aufgetaucht war, immer allein, feingliedrig und alle Sensibilität versprechend, die man sich nur wünschen kann.

    Angela erkannte an dem Geschenk, das so trivial wie rührend war, sogleich, dass sie sich in einem Grenzraum befanden. Das Glück, das einfache Glück war da. So nahm sie den Radiergummi, reichte ihm die Rechte und ....

Das Leerstellenexperiment

Severin Melzer brach ab, rieb sich die Stirn und schaute in die Runde: "Jetzt ein kleines Experiment zu Antizipation und Leerstellen. Bitte setzen Sie, liebe Kollegen, in drei bis vier Sätzen die bisher gehörte Geschichte fort. Sie antizipieren einfach den möglichen Textverlauf der Geschichte. Da schießt dann die textuelle Vorgabe und unser Eigenanteil ... Ja, Kollegin Wolf?

„Sie reichte ihm die Rechte und … holte ihn mit der Linken so nahe an sich heran, dass sich seine randlose Brille mit ihrer beider Atem beschlug …”

„Hei! Das, was Gerda gesagt hat, bringt Schwung in die Story! Drei kurze Sätze hätte ich da, man könnte sie direkt an Gerdas Sätze anschließen …”, rief Fürst. „Die randlose Brille beschlug sich mit ihrer beider Atem. Und Konrad und Angela wandten wie in stiller Absprache dem Bild den Rücken zu. Sie stiegen aus dem dritten Stock hinab in das singende Tal der Stadt. Dort erwartete sie das Glück, jenseits von Anselm Rieger…”

„Und dort im singenden Tal der Stadt…” Severin nahm den Ball auf, er überlegte kurz, ob der Fürsts "jenseits von Anselm Rieger" integrieren sollte. Schließlich hatte Fürst ja eine gewisse Überheblichkeit der Textfigur Rieger angedeutet und Anderson als Parallelfigur skizziert. Besser man ließ das "Glück jenseits von Anselm Rieger" weg: „Und dort im singenden Tal der Stadt...., dort gründeten sie eine GmuH, eine Gesellschaft mit unbeschränkter Hoffnung.”

Nachdenkliche Stille.

Sandmann räusperte sich: „Ich denke, der Titel hat sehr viel für sich. Aber: Wer die Menschen so kennt wie wir, der kennt die Rangeleien des Alltags, der kennt die Aggressionen des Berufslebens, des Zusammenlebens. Eros und Sexualität, das Dominanzverhalten in der Kleinstgruppe. Die Alpha- und die Beta-Tiere. Wir kennen die Neurosen, welche aus allzu hohen Erwartungen an den Partner entstehen. Partnerschaft ist zumindest Abnützungsprozessen unterworfen. All das spricht für eine GmbH mit beschränkter Hoffnung.”

„Dann kommt es darauf an, die Realität mit der Hoffnung abzugleichen. Hoffnung und Bodenhaftung.” Fürst wirkte recht ernsthaft, aber das konnte täuschen. „Lächelnde Aufklärung. Ich bin für einen Doppeltitel, für GmbH/GmuH.”

Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung/Gesellschaft mit unbeschränkter Hoffnung. Das trifft es!” Gerda Wolf klopfte Beifall. „Jetzt aber, Sandmann, ans Klavier. Das Geburtstagslied für Marcell! Wir haben nicht unbeschränkt Zeit.”


Hymne auf den Chef

Melzer lächelte zustimmend, es war eine lebendige Sitzung geworden. Die produktive Phase hatte durchaus stimuliert. Das würde jetzt in ihm nachklingen. Er wollte sich wohlig dehnen, beherrschte sich aber. Besser, man genoss den Erfolg im Geheimen.

Sandmann nahm auf dem Klavierhocker Platz. Sven stellte sich neben ihn. Man sah sich erstaunt an. Ein Zusammenspiel. "Bitte, Kollegen, hier der Text für alle. Ich singe bei jeder Strophe die ersten vier Zeilen. Die Restzeilen der Strophe bitte ich im Chor zu sprechen, je nach Anweisung.
  • Hymne auf Marcell

    O Marcell, Geburtstagskind,
    nein, wie schnell die Zeit verrinnt!
    Will nicht in meinen Kopf hinein:
    60 sollst Du jetzt schon sein?!
Jetzt bitte alle!
  • Hast Dich wahrlich gut gehalten,
    zählst noch lang nicht zu den Alten.
    Allen ist es offenbar,
    Du wirst sicher hundert Jahr!
Nun wieder ich:
  • O Marcell, Geburtstagskind,
    ja, ja, die Zeit verrinnt geschwind!
    60 Jahre sind vertan,
    und das sieht man Dir auch an.
Jetzt, Melzer, du:
  • Dein Antlitz männlich und apart,
    Es macht Dich reif und wirkt nicht hart.
    Kühn die Nase, scharf der Blick,
    stolz das Haupt auf dem Genick,
    im Gesicht noch straffe Haut,
    und das Haar dezent ergraut.
fade out
 

Montgelas

Mitglied
lieber willibald,

geschichten, die das leben schreiben, sind immer amüsant
und lassen einen in den spiegel schauen.
ich habe herzlich gelacht.


meint

montgelas
 

Willibald

Mitglied
Salute

so schreibt dann das Leben Geschichtengeschichtengeschichten.

Und die Komödie des Lebens ist produktiv.

arrivederci

willi
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Hallo Willibald,

ich sehe situative Komik, globale Ironie und schreibtechnische Präzision! Überzeugt mich...

P.
 

Willibald

Mitglied
Komik

Salute, penelopeia!

Lauschten sie die Texte und Geschichten dem einfachen Volke ab? Willibald meinte: nein.

Das war die Wahrheit, leider: Denn im Volke, in den untersten, den einfachsten, den ärmsten Schichten, war wenig zu holen. Da war man beschäftigt mit dem Kampf ums Überleben, mit der Brotration für den Abend, mit dem Stopfen vor Hunger schreiender Kindermäulchen...

Aber dort, im Kreise der psychiatrischen und psychoanalytischen Kapzitäten, dort konnte man auf eine eierköpfige Weise zwar, aber doch immerhin fündikg werden.

Und penelopeia fand ihren Wohlgefallen an der Funden.
 



 
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