Gespräch auf einer Bank im Park

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Boston, Ende der 70er-Jahre

„Kannst du dich noch erinnern? Sammy hieß er, nein, ich glaube, er hieß anders, aber jedenfalls nannten ihn alle so. War ein nettes kleines Kerlchen, soweit ich mich erinnere, und was ist aus ihm geworden?“ Der alte Mann seufzte.
„Hat seine Großmutter umgebracht, nicht wahr?“, fragte der andere alte Mann, der neben ihm auf einer Bank im Park saß, und der erste nickte. „Hat sie einfach abgemurkst, mit dem Messer erstochen, und für was? Für ein paar Dollar, für ein paar läppische Dollar. War wohl drogensüchtig, und nicht mehr Herr seiner Sinne. Wie kann man sonst seine eigene Großmutter abstechen? Sie haben ihn gehängt, oder?“
„Nein, sie haben ihn ja gar nicht gekriegt." Der erste schaute in den Himmel, der azurblau über ihnen beiden und der Parkbank hing. „Er ist abgehauen, niemand hat ihn je wieder gesehen."
„Vielleicht war er es gar nicht", sinnierte der andere, „vielleicht wurde sie von einem ganz anderen umgebracht? Welche Beweise gab es?"
„Keine", sagte der erste, „es gab keine Beweise. Jedenfalls keine richtigen. Aber der Junge war drogensüchtig und hat Geld für die Drogen gebraucht und ist nach dem Mord abgehauen, also hatte er doch ein Motiv? Und Fingerabdrücke von ihm haben sie doch damals auch gefunden."
„Fingerabdrücke, das war ein Beweis? Ich meine, es war seine Großmutter, da wird er öfters bei ihr gewesen sein? Wieso sind da Fingerabdrücke ein Beweis?"
„Das habe ich auch gedacht damals", sagte der erste wieder, „wieso ist das ein Beweis? Aber es hat gereicht, dass er abgehauen ist, damit hat er sich verdächtig gemacht."
„Ja, aber...", der andere fing an zu kichern, „wenn er sich gestellt hätte und seine Unschuld bewiesen hätte, wäre alles in Ordnung gewesen. Stattdessen ist er jetzt seit über 40 Jahren auf der Flucht. 40 Jahre auf der Flucht, ist das nicht lächerlich?"
„Wenn er noch lebt", sagte der erste, „wenn er noch lebt. Das kann niemand wissen, ob er noch lebt."
„Der Polizeipräsident damals hatte keine Ahnung", platzte der andere mit seiner Meinung heraus. „Er war neu in seinem Job, ganz frisch und hatte noch keine Erfahrung."
„Ach hör doch auf", sagte der erste, „er hat völlig versagt, da beißt die Maus keinen Faden ab. Willst du das etwa bestreiten?"
„Ich will gar nichts bestreiten", sagte der andere, „da ist viel schief gelaufen."
Und dann schwiegen beide und schauten in den Himmel, der anfing, sich von azurblau in weiß zu verfärben.
„Bald wird die Sonne untergehen", bemerkte der einer, und der andere stimmte ihm zu.
„Ja, bald wird die Sonne untergehen."
Danach warteten sie, bis es dunkel wurde und als die Nacht endlich da war und am Himmel die Sterne funkelten, verabschiedeten sich der Polizeikommissar a. D. und derjenige, den in seiner Jugend alle Sammy genannt hatten, voneinander.
 
Zuletzt bearbeitet:

Ji Rina

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,
Das Ende, auch wenn es möglich wäre, lässt mich ein wenig ratlos zurück. Gut gefallen hat mir aber, wie du es geschrieben hast.

Vielleicht könnte man an dieser Stelle noch etwas kürzen?

""Der erste schaute in den Himmel, der azurblau über ihnen beiden und der Parkbank hing. """

Liebe Grüße, Ji
 
Hallo Ji Rina,

danke für deinen Kommentar und die Bewertung!

Das Ende, auch wenn es möglich wäre, lässt mich ein wenig ratlos zurück
Warum? Findest du es nicht so gut oder ist es unverständlich?

Vielleicht könnte man an dieser Stelle noch etwas kürzen?

""Der erste schaute in den Himmel, der azurblau über ihnen beiden und der Parkbank hing. """
Ja, könnte man kürzen. Aber ausnahmsweise gefällt es mir hier ungekürzt besser :)

LG SilberneDelfine
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo SilberneDelfine,

was mir gefällt an der Kurzprosa ist, dass du es offen lässt, ob der Kommissar weiß, dass der andere Sammy ist. Die Vorstellung, dass er es weiß, würde mir gefallen.

Liebe Grüße
Manfred
 
Hallo Manfred,

das wird nicht verraten :) ;) obwohl ich eigentlich dachte, der Schluss wäre offensichtlich.
Vielen Dank auch an dich und Inge B. für die Bewertung!

LG SilberneDelfine
 
Hallo SilberneDelfine,

das ist eine nette Geschichte. Schon beim Lesen kam mir recht früh der Verdacht, dass zumindest einer von beiden dieser Sammy sein müsse. Dass der andere Mann eventuell ein Ordnungshüter jener Zeit gewesen war, kommt dann später auch noch durch. Ich finde es okay, dass beide nicht voneinander wissen, wer sie sind. Andererseits frage ich mich wie Manfred, was wohl wäre, wenn sie es nach so langer Zeit nun erfahren würden.

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 



 
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