Silbenstaub
Mitglied
Ann erkennt ihn sofort an seiner Angewohnheit, in den ausgebeulten Sakkotaschen Unmengen von Münzen aufzubewahren. Der Taschentresor zieht die Jacke bis zu den Kniekehlen hinunter. Es klimpert bei jedem Schritt. Bestimmt sind noch alte Pfennige und Groschen dabei. Vielleicht auch ein übriggebliebener Penny von einer Reise nach England, überlegt sie.
Er schleicht über den Bahnhofsvorplatz. Ihr kommt es so vor, als ob er das rechte Bein nachzieht. Unter dem Arm trägt er einige Hefte.
Früher las Tom Sartre und Camus, trank Bourbon Whiskey, auch existentialistisch aus dem Zahnputzglas, rauchte Gitanes ohne Filter, die er im Aschenbecher nicht ausdrückte sondern nur leicht ausdrehte, sodass sie weiterglühten. Dann kippte er alles in den Papierkorb. So hatte er damals sein Zimmer in Brand gesetzt und war mit einer schweren Rauchgasvergiftung ins Krankenhaus gekommen. Verbrannt die Plattensammlung. Verbrannt auch der mit enorm vielen Büchern strapazierte Schreibtisch, der durch den Zigarettenrauch eine ledrige Haut bekommen hatte, gewissermaßen eine aromatische Lasur.
Das Abitur schaffte er trotzdem. Mit Auszeichnung.
An einem Winterabend fing es an mit ihnen. Ann trödelte auf dem Schulhof herum und lief immer wieder Kreise mit ihren Stiefeln in den Schnee. Sie reckte das Gesicht nach oben. Jede einzelne Flocke nahm sie wie eine Fingerspitze wahr. Ganz allein stand sie im Schneegestöber und kühle Finger streichelten ihre Haut.
Tom kam aus dem Gebäude als letzter wie immer und lief auf staksigen Beinen direkt auf sie zu.
„Ich mag dunkelhaarige Mädchen, die eine John-Lennon-Brille tragen und die griechische Buchstaben wie im Schlaf schreiben können.“
In ihren Ohren klang es ein bisschen auswendig gelernt und auch ein bisschen wahr.
„Aber ich trage doch gar keine runde Nickelbrille. Ich trage überhaupt keine Brille“, protestierte sie.
„Das macht nichts“, meinte er und zündete sich eine Zigarette an.
„Willst du?“ Er hielt Ann die blaue Schachtel hin.
Sie schüttelte den Kopf.
„Wollen wir Silvester auf einen Berg steigen und uns das Feuerwerk anschauen?“, fragte Tom.
„Hier gibt es doch gar keine Berge“, erwiderte sie.
„Lass dich überraschen.“
Am letzten Tag des Jahres saßen sie auf dem Dach eines Hochhauses und schauten über die Stadt. Die Lichter. Das Leuchten am Horizont. Schwirrende Strahlen. Paillettenregen. Gefunkel und das Glitzern. Der Glanz. Der Glanz in ihren Augen überstrahlte alles.
Oben war die Stadt sehr still. Sie schwiegen. Das Schweigen ging von Ann aus. Ihr ganzer Körper war Schweigen. Zusammen rauchten sie eine Gitanes ohne Filter und stießen geräuschvoll Rauchwolken aus. Dicke Qualmkringel stiegen in den Nachthimmel auf. Hinauf bis zum Mond.
Sie schwiegen auch, als Ann zwei Jahre später in den Zug stieg, der sie in eine andere Stadt brachte, hinein in ein anderes Leben. Ein völlig anderes.
Ann geht hinter ihm her. Ihre Beine in schwarzen blickdichten Strumpfhosen sind immer noch schlank, fast makellos. Die kurzgeschnittenen weißen Haare hat sie unter einer Baskenmütze versteckt.
Er bleibt stehen, hält eine Zeitschrift hoch und starrt die Leute an, die an ihm vorbeihasten und ihn nicht beachten.
Direkt vor ihm nimmt sie die Sonnenbrille ab und beobachtet ihn.
„Wollen Sie ein Exemplar kaufen? Es sind auch mehrere Zeichnungen drin.“
Sie zögert und fragt mit belegter Stimme:
„Sind die von Ihnen?“
Nickend zupft er sich am Ohrläppchen.
„Ich nehme eins.“
„Zwei Euro.“
Sie reicht ihm einen Fünfeuroschein und schaut ihm noch einmal direkt ins Gesicht.
Gelbe Haut und lächelnde Falten. Grüne Augen. Es sind wirklich richtig grüne Augen. Wechselt die Augenfarbe im Laufe des Lebens? Ann runzelt die Stirn.
In der Jackentasche kramt er nach Wechselgeld.
„Passt schon“, murmelt sie.
Er zieht die Augenbrauen zusammen, aber blickt durch Ann hindurch, und sie schaut weg.
Ein Auto hält am Straßenrand, eine junge Frau lacht und winkt.
„Ruben, was machst du hier? Ich hab dich überall gesucht. Komm, steig ein, wir fahren jetzt zum Schwimmen, so wie jeden Mittwochnachmittag.“
Er eilt zu ihr, nein, er humpelt nicht, und lässt sich auf den Beifahrersitz fallen. Der Wagen braust davon.
Ann macht sich auf den Weg zum Bahnhofsgebäude, sieht sich noch ein paar Mal um. Für sie läuft alles in Zeitlupe ab. Sie spürt kaum den aufkommenden Wind und auch nicht den Nieselregen, die feinen Tropfen aus hustenden Wolken.
Auf dem Bahnsteig auf einer Bank blättert sie in der Monatsschrift.
‚Rauchzeichen. Grafiken und Aphorismen von Ruben Mahler‘.
Seite für Seite entfaltet sich eine Welt aus zarten Bleistiftstrichen, Strukturen und Schattierungen, Netzen, Mustern wie zerknittertes Papier. Sie erkennt Hügel, mäandernde Wasserläufe, Wölfe und Schafe.
Der Boden vibriert durch einfahrende Eisenbahnen auf den Nachbargleisen, und sie zittert auch. Ein leichter Schwindel überfällt sie, und sie lässt das Heft fallen. Sie sitzt auf der Bank wie festgewachsen. Fast verpasst sie ihren Zug. In letzter Minute steigt sie ein mit kraftlosen Schritten. Zurück auf ihren verzauberten Berg.
Er schleicht über den Bahnhofsvorplatz. Ihr kommt es so vor, als ob er das rechte Bein nachzieht. Unter dem Arm trägt er einige Hefte.
Früher las Tom Sartre und Camus, trank Bourbon Whiskey, auch existentialistisch aus dem Zahnputzglas, rauchte Gitanes ohne Filter, die er im Aschenbecher nicht ausdrückte sondern nur leicht ausdrehte, sodass sie weiterglühten. Dann kippte er alles in den Papierkorb. So hatte er damals sein Zimmer in Brand gesetzt und war mit einer schweren Rauchgasvergiftung ins Krankenhaus gekommen. Verbrannt die Plattensammlung. Verbrannt auch der mit enorm vielen Büchern strapazierte Schreibtisch, der durch den Zigarettenrauch eine ledrige Haut bekommen hatte, gewissermaßen eine aromatische Lasur.
Das Abitur schaffte er trotzdem. Mit Auszeichnung.
An einem Winterabend fing es an mit ihnen. Ann trödelte auf dem Schulhof herum und lief immer wieder Kreise mit ihren Stiefeln in den Schnee. Sie reckte das Gesicht nach oben. Jede einzelne Flocke nahm sie wie eine Fingerspitze wahr. Ganz allein stand sie im Schneegestöber und kühle Finger streichelten ihre Haut.
Tom kam aus dem Gebäude als letzter wie immer und lief auf staksigen Beinen direkt auf sie zu.
„Ich mag dunkelhaarige Mädchen, die eine John-Lennon-Brille tragen und die griechische Buchstaben wie im Schlaf schreiben können.“
In ihren Ohren klang es ein bisschen auswendig gelernt und auch ein bisschen wahr.
„Aber ich trage doch gar keine runde Nickelbrille. Ich trage überhaupt keine Brille“, protestierte sie.
„Das macht nichts“, meinte er und zündete sich eine Zigarette an.
„Willst du?“ Er hielt Ann die blaue Schachtel hin.
Sie schüttelte den Kopf.
„Wollen wir Silvester auf einen Berg steigen und uns das Feuerwerk anschauen?“, fragte Tom.
„Hier gibt es doch gar keine Berge“, erwiderte sie.
„Lass dich überraschen.“
Am letzten Tag des Jahres saßen sie auf dem Dach eines Hochhauses und schauten über die Stadt. Die Lichter. Das Leuchten am Horizont. Schwirrende Strahlen. Paillettenregen. Gefunkel und das Glitzern. Der Glanz. Der Glanz in ihren Augen überstrahlte alles.
Oben war die Stadt sehr still. Sie schwiegen. Das Schweigen ging von Ann aus. Ihr ganzer Körper war Schweigen. Zusammen rauchten sie eine Gitanes ohne Filter und stießen geräuschvoll Rauchwolken aus. Dicke Qualmkringel stiegen in den Nachthimmel auf. Hinauf bis zum Mond.
Sie schwiegen auch, als Ann zwei Jahre später in den Zug stieg, der sie in eine andere Stadt brachte, hinein in ein anderes Leben. Ein völlig anderes.
Ann geht hinter ihm her. Ihre Beine in schwarzen blickdichten Strumpfhosen sind immer noch schlank, fast makellos. Die kurzgeschnittenen weißen Haare hat sie unter einer Baskenmütze versteckt.
Er bleibt stehen, hält eine Zeitschrift hoch und starrt die Leute an, die an ihm vorbeihasten und ihn nicht beachten.
Direkt vor ihm nimmt sie die Sonnenbrille ab und beobachtet ihn.
„Wollen Sie ein Exemplar kaufen? Es sind auch mehrere Zeichnungen drin.“
Sie zögert und fragt mit belegter Stimme:
„Sind die von Ihnen?“
Nickend zupft er sich am Ohrläppchen.
„Ich nehme eins.“
„Zwei Euro.“
Sie reicht ihm einen Fünfeuroschein und schaut ihm noch einmal direkt ins Gesicht.
Gelbe Haut und lächelnde Falten. Grüne Augen. Es sind wirklich richtig grüne Augen. Wechselt die Augenfarbe im Laufe des Lebens? Ann runzelt die Stirn.
In der Jackentasche kramt er nach Wechselgeld.
„Passt schon“, murmelt sie.
Er zieht die Augenbrauen zusammen, aber blickt durch Ann hindurch, und sie schaut weg.
Ein Auto hält am Straßenrand, eine junge Frau lacht und winkt.
„Ruben, was machst du hier? Ich hab dich überall gesucht. Komm, steig ein, wir fahren jetzt zum Schwimmen, so wie jeden Mittwochnachmittag.“
Er eilt zu ihr, nein, er humpelt nicht, und lässt sich auf den Beifahrersitz fallen. Der Wagen braust davon.
Ann macht sich auf den Weg zum Bahnhofsgebäude, sieht sich noch ein paar Mal um. Für sie läuft alles in Zeitlupe ab. Sie spürt kaum den aufkommenden Wind und auch nicht den Nieselregen, die feinen Tropfen aus hustenden Wolken.
Auf dem Bahnsteig auf einer Bank blättert sie in der Monatsschrift.
‚Rauchzeichen. Grafiken und Aphorismen von Ruben Mahler‘.
Seite für Seite entfaltet sich eine Welt aus zarten Bleistiftstrichen, Strukturen und Schattierungen, Netzen, Mustern wie zerknittertes Papier. Sie erkennt Hügel, mäandernde Wasserläufe, Wölfe und Schafe.
Der Boden vibriert durch einfahrende Eisenbahnen auf den Nachbargleisen, und sie zittert auch. Ein leichter Schwindel überfällt sie, und sie lässt das Heft fallen. Sie sitzt auf der Bank wie festgewachsen. Fast verpasst sie ihren Zug. In letzter Minute steigt sie ein mit kraftlosen Schritten. Zurück auf ihren verzauberten Berg.