Glasreiniger oder als die Welt noch in Ordnung war

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Die Fenster haben das Putzen dringend nötig. Ich schnappe mir den Glasreiniger, der im Putzutensilien-Sammelsurium steht, zwischen Allesreiniger und Textilerfrischungsspray. Unwillkürlich fällt mir das Datum ein, an dem ich ihn gekauft habe. Es war vor fast zwei Monaten, damals, als die Welt noch in Ordnung war. Ehe ich diese verdammte Scheiße gebaut habe.
Ich habe in meinem Leben vielleicht einigen Mist gemacht, aber das war mit Abstand das Allerdümmste, was ich jemals gemacht habe. Ausbügeln ging nicht. Wiedergutmachen auch nicht. Nur Schadensbegrenzung. Immerhin, dazu habe ich mich durchgerungen. Nein, das ist das falsche Wort. Ich habe mich bemüht. Leider ging es durch äußere Umstände nicht so schnell, wie ich wollte.
Ich sprühe die Fenster mit dem Glasreiniger ein und fange an, wie wild zu wischen. Als ob man diese Sache wegwischen könnte. Aber gibt es nicht so etwas wie Reinwaschen von Schuld? So ein Blödsinn, denke ich, man weiß doch, dass schon Pontius Pilatus seine Hände in Unschuld waschen wollte und ihm das niemand wirklich abgekauft hat.
Andererseits: Ich habe niemanden zum Tode verurteilt oder jemanden umgebracht. Ich habe nichts Ungesetzliches gemacht.
Es ging nur um Geld.
Scheiß Geld, und jetzt reden Eltern und Geschwister nicht mehr mit mir. Wobei mich das bei letzteren nicht wirklich stört. Die haben sowieso noch nie viel mit mir geredet. Zuletzt sah ich sie auf der Beerdigung einer Tante. Ich wollte ein paar Mal erklären, warum ich alleine gekommen war. Niemand hörte mir zu. Selbst als ich meine Erklärung zum dritten Mal wiederholte. Was soll ich mit solchen Geschwistern?
Aber dass meine Eltern nicht mehr mit mir reden, das tut weh. Mehr weh, als ich jemals gedacht hätte. Obwohl ich mich eigentlich mein ganzes Leben lang über sie geärgert habe.
Ich habe wie verrückt gewischt. Die Fenster sind nicht sauber geworden. Es kommt mir vor, als würden sie sich über mich lustig machen.
Ich stelle den Glasreiniger ins Regal zurück. Und wünsche, ich könne die Zeit zurückdrehen zu dem Tag, an dem ich ihn gekauft habe.
Als die Welt noch in Ordnung war.
 
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G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Hallo @SilberneDelfine, zum Scheitern verurteilte Versuche, vertrackte Situationen mit der Familie glasklar wieder hinzubekommen, kenne ich.
Darum sind meine Fenster auch immer so sauber *flöööt*
 

Zoepfer

Mitglied
Die Situtaion kommt mir bekannt vor; der Text könnte von meiner erstgeborenen Tochter stammen. Die familiäre Spannung, die durch ihre Erbschleicherei entstanden war, löste sich schließlich dadurch, dass ihre Nichte unerwartet in unsere Familie kam - und unser aller Leben positiv veränderte.
 
Hallo Isbahan, onivido und Zoepfer,

vielen Dank für eure Kommentare und Dank an Isbahan für die Bewertung.

Die Reaktionen sehr interessant, offenbar gibt es öfter familiäre Probleme in dieser Richtung, als ich bisher dachte...

Ich bedanke mich für euer Feedback.

Liebe Grüße an alle Kommentatoren
SilberneDelfine
 
Hallo lietzensee,

vielen Dank! Der Einstieg fiel mir tatsächlich ein, als ich eine Flasche Glasreiniger in der Hand hielt... :)

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 

Vitelli

Mitglied
Hallo SD,

gefällt mir gut. Du hast Stil. Das liest sich - und das meine ich wirklich positiv - hingerotzt: Nicht aufdringlich, nicht übertrieben tiefgründig. Eine tolle Verquickung von Alltagssituation und Gefühlslage. Nur: Teils umständliche/unnötige Beschreibungen stören den Rhythmus. Wie hier:

Ich schnappe mir den Glasreiniger, der auf dem Regal mit den Putzutensilien steht, zwischen Allesreiniger und Textilerfrischungsspray.
Ich schnappe mir den Glasreiniger, der neben dem Allesreiniger und dem Textilerfrischungsspray steht.

Kommt inhaltlich auf's Gleiche hinaus, stört den Rhythmus aber nicht. Zumindest mMn.

Sehr gerne gelesen.

LG
 
Hallo Vitelli,

ja, du hast recht, die Erwähnung des Regals war zuviel - wo sollte Glasreiniger auch sonst stehen - den Satz ändere ich noch in dem Sinne um.
Danke für Lob und Kommentar!

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
Hallo @SilberneDelfine

ich muss zugeben, dass ich mit Texten, in denen es nicht viel / kaum (Rahmen-)Handlung gibt, in denen es fast nur um Gedanken oder Rückblicke geht, im Allgemeinen nicht viel anfangen kann. Liegt daran, dass ich selbst immer plotgetrieben schreibe.

Du schaffst es, den Familienkonflikt in wenig Worte zu fassen. Der Leser kann sich vieles selbst ausmalen, dafür braucht man gar nicht so viel beschreiben. Die einen schlagen gegen einen Sandsack, den anderen kommt die Putzwut :)

Hat mir gefallen.

LG, Franklyn
 
Vielen Dank, Franklyn! Ich habe mich ziemlich eingehend mit Kurzprosa schreiben beschäftigt und ein paar Bücher drüber gelesen. Ich finde solche Momentaufnahmen faszinierend. Plotgebunden zu schreiben ist mir meist zu anstrengend :cool:;) vor allem wird die Story mir dann meist selbst zu lang.

Danke für deinen Kommentar und auch danke an alle Bewerter!

LG SilberneDelfine
 
Hallo SilberneDelfine,

danke für die Tipps. Von R. P. Clark habe ich schon "50 Werkzeuge ...", was ich nur empfehlen kann, da muss dein genanntes auch gut sein. Das andere von R. Allen klingt auch gut.

Wie gesagt bin ich derzeit bei den Kurzgeschichten zuhause, kürzlich kam auch Flash Fiction hinzu. Also Short und ShortShort. (Mein Text "Schein", hier gepostet unter Kurzprosa, ist dafür ja eigentlich schon viel zu lang. Hatte aber keine passende Rubrik für diese Flash Fiction gefunden.)

Viele Texte, die ich hier unter "Kurzprosa" finde, sind ja sogar noch kürzer. Da werde ich mich mal in Ruhe umschauen und mich auch mal dran versuchen.

Schönen Wochenstart und
LG, Franklyn
 
Hallo ahorn,

danke für Kommentar und Wertung! :)

Zu deiner Frage: Naja, es gibt Familien, die sehen sich nur zu Hochzeiten, Taufen, Konfirmation/Kommunion und Beerdigungen (und manche noch nicht mal da).
Ich fand die Beerdigung für den Inhalt der Geschichte halt angemessen...

LG SilberneDelfine
 

ahorn

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,

ich meine nicht die 'Putzfee', sondern die Tante. ;)
der Beerdigung einer Tante
Klingt angemessener.

Liebe Grüße
Ahorn
 



 
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