Glückselige Perspektiven

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Berlin, 16.11.15., Peohfau-Straße 12, 7. Stock, 17:35
„Was ein Tag“, schnaufte Murat gesengten Hauptes vor sich hin, als er das letzte Meeting verließ. Gleich 3 Mal hatte er heute von seinen Vorgesetzten auf den Deckel bekommen. Und zwar nicht von der kumpelhaften das-nächste-Mal-wird’s-schon-besser-Art, sondern von der sie-können-von-Glück-reden-wenns-ein-nächstes-Mal-gibt-Art. Aber so lief das nun einmal im „Business“: Leistung zählte.
Murat stellte sich an die Fensterfront vor dem Raum, in dem er sich eben so schrecklich blamiert hatte und schaute theatralisch in die Ferne. Es war bereits dunkel und die unendlichen Lichter der Stadt, die so ohne Ziel und verloren da draußen wirkten, drückten seine Stimmung nur noch mehr. In diesem Moment kam er sich so unglaublich klein und bedeutungslos vor.
Plötzlich wurde sein Blick von etwas auf sich gezogen. Ein blinkendes Licht direkt in der Straße unter ihm. Doch es war nicht blau, wie die meisten blinkenden Lichter, die sonst die Aufmerksamkeit in einer Stadt auf sich lenkten. Ich muss euch also enttäuschen: kein Actionfilm-reifer Unfall mit ohrenbetäubendem Knall, gesplittertem Glas, bis zur Unkenntlichkeit verbogenen Karosserien und zerfetzen Körpern.

Es war ein wenig unscheinbarer, ein wenig alltäglicher. Es war ein Müllauto.
Murat beobachtete das kleine Männchen dort unten, wie es mit seiner dicken, hell-orangenen, reflektierenden Winterjacke immer wieder hinten auf das Müllauto sprang, ein paar Meter mitfuhr und wieder ein paar schnelle, hetzende Schritte zum nächsten Abfallcontainer machte und diesen mit wenigen, gekonnten Handgriffen entleeren lies.
„Schau dir mal diesen armen Schlucker an“, dachte Stefan. „Im eisigsten Winter, im hitzigsten Sommer, im strömendsten Regen und im fegendsten Orkan muss er da draußen mitfahren und Mülltonnen entleeren. Wie das stinken muss? In 10 Jahren wird er es von dem ganzen Geschleppe und Geziehe bestimmt derart im Rücken haben, dass er nicht mehr arbeiten kann. Und dann verdient er ja noch nicht einmal genug. Ich wette, er wohnt in einer kleinen, schäbigen Bude, alleine, ohne Familie. Die würde er ja bestimmt eh nicht ernähren können. Das muss einsam sein. Und die Sorgen ertränkt er bestimmt im Alkohol. Furchtbar! Und dann ist er ja mit Sicherheit noch ungelernt. Wenn er seinen Job verliert, wird ihn doch niemand gescheites mehr einstellen“, stellte Murat fest.

Wie gut es ihm doch im Vergleich ging. Er verdiente überdurchschnittlich, hatte ein warmes, klimatisiertes Büro, keine bandscheibenverzehrende, harte körperliche Arbeit und keine Drogensucht. Dazu kam eine liebevolle Familie, die zuhause, in dem Haus, das sie extra bauen ließen, auf ihn wartete, sowie ein akademischer Abschluss mit Berufserfahrung. Selbst wenn er seinen Job verlieren würde, würden sich die Arbeitgeber nur so um ihn schlagen. Ein zufriedenes Lächeln legte sich über Murats Gesicht, das bis eben noch mit dunkler Mine in die Ferne geblickt hatte.

Berlin, 16.11.15., Peohfau-Straße, 17:35
„Was ein Tag“, schnaufte Herr Gehlert vor sich hin, während er zur nächsten Mülltonne eilte. Sein Chef hatte ihn schon das letzte Mal zur Sau gemacht. Und dieses Mal würden sie noch viel länger brauchen. „Mach ma hinne, du Flachzange dahinten!“, gröhlte es in diesem Moment auch schon wieder aus der Fahrerkabine, „Chef macht Hackepeter aus uns!“. Aber so war das nun einmal in diesem „dreckigen Geschäft“: Leistung zählte.
Gleich würden sie wieder zur Peohfau-Straße 12 kommen. Die VAD-Versicherung hatte da ihren Hauptsitz und oh Junge, hatten die einen Papierabfall. „Bestimmt das Vierfache der anderen Gebäude hier!“, schimpfte Herr Gehlert genervt.

Nachdem er allen Müll entsorgt hatte, widmete er dem imposanten Gebäude mit seinem leuchtenden Schriftzug einen erst bewundernden und dann angewiderten Blick. Da sah er einen Mann am Fenster stehen. „Schau dir mal das arme Opfer da oben an“, knurrte Herr Gehlert bemitleidend. „Ich will wetten, der überlegt gerade, ob er nicht springen und alles beenden soll. Bei einer Versicherung … sein Gewissen muss ihn quälen. Den ganzen Tag armen Leuten am Existenzminimum überteuerte Versicherungen andrehen und verkaufen, die eh keiner braucht. Hat wahrscheinlich jahrelang studiert, nur um bald an Burnout zu erkranken und täglich 1 Gramm Koks zu ziehen, um dem utopischen Arbeitspensum seines schmierigen Chefs nachkommen zu können. Grelles Licht, stickige Büros, Rückenschmerzen vom stundenlangen Sitzen und hinterfotzige Kollegen. Und Zuhause geht der Alptraum weiter: schreiende Kinder, nicht bezahltes Haus und gelangweilte Hausfrau, die nur drauf wartet, fremd zu gehen“, stellte Herr Gehlert fest.

Er hingegen wurde für seinen Job gerade mal 4 Wochen eingelernt und könnte jederzeit etwas Anderes machen, wenn ihm danach wäre. Aber verglichen mit Murat, dachte Herr Gehlert, gefiel ihm sein Job. Er brachte ihm genug Geld für seine Miete und ein anständiges Leben. Luxus und Schnickschnack lehnte Herr Gehlert ja sowieso ab. Auch sich extra zu verschulden, nur zum Wohnen kam für Herr Gehlert nicht in Frage. Wieso sollte er sich absichtlich eine derartige Bürde auferlegen, die ihn doch nur einschränkte? Das lag hinter seinem Horizont. Hinzu kam die Ruhe, die er Zuhause so schätzte. Bei ihm bedeutete Feierabend wirklich Feierabend: Freunde und Damenbesuch einladen, wann er wollte und ab und an ohne schlechtes Gewissen genüsslich ein Feierabendbier trinken. „Herrlich!“, dachte Herr Gehlert, während sich ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht legte.
 

hein

Mitglied
Hallo Witzebri,

mal etwas Anderes.
Sonst denkt doch jeder, er selbst hätte die Arschkarte und allen anderen würde es besser gehen.

LG
hein
 
Das stimmt wohl, Hein!
Ich habe die Geschichte gerade mal spaßeshalber in meinem Kopf auf das Szenario umgestellt, das du hier ansprichst und siehe da: hat wunderbar funktioniert ;)
Ich wollte eben mal an die Wertschätzung appellieren, ist mir persönlich zumindest sehr wichtig im Leben.

Danke für deine Anregung!

Liebe Grüße
Linus
 



 
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