Götter

Tsibi

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Götter


Wie lange hat ES geruht? Vielleicht einen Augenblick. Und schon hat sich die Welt mal wieder so massiv verändert. ES richtet sich auf und schaut herab auf die Stadt, die zu seinen Füßen liegt. Erstaunlich, wie die Menschen innerhalb so kurzer Zeit solche Orte errichten konnten. Häuser, die hoch in den Himmel ragen und versuchen selbst die Wolken zu übertreffen. Ortschaften, die Millionen Personen eine Heimat bieten. Was haben sie sonst noch so geschaffen? ES entschließt sich eine Reise zu beginnen und die Welt von heute aus der Nähe kennenzulernen. Was hat sich alles verändert? Wie weit hat sich alles entwickelt? Um diesen Fragen nachzukommen, steigt ES von seinem Berg herab, nimmt die Gestalt der Menschen an und mischt sich unter das geschäftige Treiben der Stadt.

Kaum angekommen wird er geradezu überwältigt von Lichtern und nach Aufmerksamkeit heischenden Schildern aller Art. Überall gibt es Werbung, welche von unzähligen an ihnen vorbeiziehenden Personen größtenteils ignoriert wird. Ist das die Normalität von heute? Aufregung, der Schrei nach Aufmerksamkeit an jeder Stelle? Der Fokus auf materielle Dinge? Nein, Nein. ES darf nicht zu vorschnell urteilen. Das wäre ein großer Fehler. ES hat erst gerade seine ersten Schritte in dieser neuen Welt getan, wie kann er da erwarten, sie zu verstehen.

Ausgesprochen faszinierend sind auch die Gerätschaften, welche die Menschheit nutzt, um von A nach B zu kommen. Metallene Formen auf vier Rädern, deren Geschwindigkeiten sich mit den schnellsten Tieren der Welt messen wollen. Ab und an erscheinen auch Objekte, die Flugzeuge genannt werden und den Vögeln ihre Alleinherrschaft über den Himmel streitig machen wollen. Im Inneren von Gebäuden befinden sich Schalter, die auf geradezu magischer Weise in der Lage sind, mit nur einem Klick einen Raum zu erhellen. Überall wohin das Auge schweift, befinden sich ausgesprochen faszinierende Gegenstände, geschaffen aus dem Geist und den Ideen der Menschen. Erstaunlich, dass diese nicht in dauerhafter Bewunderung ihrer technischen Errungenschaften in Ehrfurcht erstarren.

Aber die Menschen selbst? Fesseln ihren Blick an Smartphones oder starren stur nach vorne, ohne ein Auge für die um sie herum? Große Bildschirme verbreiten die Nachrichten und auch diese zeugen immer wieder von demselben: Menschen, die andere ausnutzen, Menschen, die andere umbringen, Menschen, denen es schlecht geht, aber für die kaum jemand einsteht. Gier und Eigensinn scheint doch so viele Individuen anzutreiben. Selbst die Natur fällt dem Streben des Menschen nach immer mehr zum Opfer. Ist das die Welt von heute? Nein. Noch immer weiß ES zu wenig, noch immer kann er sich nicht leisten ein Urteil zu fällen.

Folglich entscheidet ES sich dazu, seine Reise fortzusetzen. Die Stadt war nur ein Ort von vielen. Die Welt und die Menschheit haben viel mehr zu bieten. Es zieht ES durch sämtliche Regionen der Welt. ES besucht die Dörfer und Städte, die Orte der Reichen und der Armen, der Unterdrückten und der Unterdrücker. Der Gierigen und der Leidenden. Doch trotz aller Vielfalt erkennt ES immer wieder ähnliche Muster. Die Gier scheint den Menschen sehr zu eigen zu sein. Verständlich, dass sie sich selbst erhalten wollen und nach ihrem eigenen Wohlbefinden streben. Aber warum vergessen sie alle anderen um sich herum? Schließt das eigene Wohlbefinden das aller anderen aus? Schließt das Wohlbefinden aller anderen das eigene aus? Nein. Erneut bemerkt ES, dass ES vorschnell urteilen mag. Noch lange ist ES nicht befähigt, dies wirklich zu tun. Bisher hat ES nur gesehen und beobachtet. Doch ES hat nicht gesprochen, nicht gehört.

„Entschuldigen Sie. Möchten Sie mir sagen, wie die Welt ist?“, stellt ES seine Frage an einen Passanten.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“, erhält ES als Antwort.

Bevor ES antworten kann, ist die Person schnellen Schrittes davongeeilt. Aber ES gibt nicht auf. Immer und immer wieder stellt er ein und dieselbe Frage: „Möchten Sie mir sagen, wie die Welt ist?“

Verschiedenste Antworten und Reaktionen wird ES teil.

„Wie bitte? Wovon reden Sie?“

„Ist bei dir eine Schraube locker? Alles OK bei dir?“

„Lassen Sie mich in Ruhe!“

Manche erweisen ES nicht einmal die Gunst, ihre Stimme zu vernehmen. Jedoch erhält ES auch ganz andere Antworten, mit welchen ES viel mehr anfangen kann.

„Langweilig, Alter. Super langweilig.“

„Hmm. Ich weiß nicht, ob ich etwas über die Welt sagen kann. Aber ich mag mein Leben in der Ruhe und Abgeschiedenheit.“

„Viel zu laut und schnell.“

„Ich wünschte alles würde bleiben, wie es ist.“

„Früher war alles besser.“

„Es lebt sich.“

„Ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben.“

„Grausam und kalt. Haben Sie die Nachrichten gesehen? Schon wieder gibt es zig Tote in irgendeinem Konflikt und das sind nur die, die erwähnt werden.“

„Ich wünschte, ich wäre tot.“

„Ungerecht, einfach nur ungerecht.“

„Wunderschön. Voller Farbe und Freuden.“

„Ich habe mein Haus verloren! Meine Liebsten verloren! Und alles nur wegen einem Krieg um Land!“



ES wird gewahr wie vielfältig die Wahrnehmungen und die Einstellungen der Menschen sind. Wie hat ES auch nur daran denken können, zu urteilen, ohne mit den Menschen gesprochen zu haben. Als nächstes macht ES sich daran Individuen auf ihre Probleme anzusprechen. Immer wieder erfährt ES Unhöflichkeiten und Abweisung, doch es gibt auch solche, die sich ES offenbaren und mit denen er tiefe Gespräche führen kann. Bei all diesen Konversationen stellt ES fest, wie einzigartig ein jeder ist und dass jeder seine eigenen Probleme zu bekämpfen hat, unabhängig, aber auch abhängig von all ihren jeweiligen Merkmalen. Mit der Zeit versammeln sich solche um ES, die von SEINEM Tun gehört haben und ES als Propheten, manch andere gar als zu Erde gestiegener Gott bezeichnen. Denn er hört einem jedem zu und nimmt sich die Zeit für sie. Nie verlangt ES etwas, nie will ES etwas. Nie drängt ES. ES ist für alle da.

Eines Tages, ES weilt gerade in einer kleinen Stadt, durchsticht ein Messer SEIN Herz. Kalt spürt ES den Stahl in seinem Körper.

„Warum mein Lieber? Warum richtest du deine Waffe gegen mich und willst mich niederschlagen?“, richtet ES seine Stimme an den Übeltäter.

„Warum? Manche bezeichnen dich als Gott, als Propheten! Das ist Gotteslästerung! Und der werde ich ein Ende bereiten!“

Doch anstatt schmerzerfüllt zu Boden zu gehen, schreitet ES vor seinen Mörder und legt ihm beruhigend die Hand auf den Kopf.

„Ich beabsichtige nicht, deinen Glauben zu nehmen oder zu schaden. Ich bin nur hier, um meine eigene Neugier zu stillen. Es besteht keine Notwendigkeit für eine solche Grobheit.“

Erschrocken stolpert der Gewalttäter zurück. Ohne zu Zögern zieht ES die Waffe aus SEINEM Körper und lässt die saubere Klinge zu Boden fallen. Augenblicklich versammelt sich eine Menge um ES und verfällt in Ehrfurcht.

„Der Gesandte Gottes!“

„Der Prophet!“

„Die Verkünderin des Wortes Gottes!“

„Es ist wahr! Er ist ein Gott!“

„Du meinst, sie ist ein Gott!“

Erst jetzt werden die Menschen gewahr, dass sie alle ein anderes Bild von ES haben, was sie wiederum nur in ihrem Glauben an die Göttlichkeit von ES bestärkt. Es dauert nicht lange und ES wird zum Ziel wahrhafter Verehrung weit und breit, während sich auf der anderen Seite immer mehr Feindseligkeit aufbaut. Nie war auch nur irgendetwas dieser Art in der Absicht von ES. Noch ist es seine Absicht jetzt. Weiterhin will ES einfach nur die Welt kennenlernen. Doch es dauert nicht lange und die Absichten von ES fallen dem Ansturm an Anfragen zum Opfer. Alle wollen etwas von ES. Sei es eine Berührung, ein Segen, eine Antwort oder Führung. ES hat kein Problem damit, mit allen zu sprechen, aber das ist gar nicht mehr möglich. Niemand hört ES mehr zu, niemand beantwortet die Fragen von ES mehr. Alles ist nur noch Flehen und Verlangen.

Schließlich kommen aus aller Welt Menschen, sterbenskrank und auf ein Wunder hoffend. Jedoch ist ES gar nicht in der Lage, Wunder zu wirken.

„Bitte! Oh bitte! Heilt mein Kind, oh erhabenes Wesen! Es gibt keine andere Rettung mehr für ihn. Ich flehe euch an!“, ereilt ES das erste Gebet.

„Ich bin nicht in der Lage, dein Kind oder irgendjemand anderes zu retten“, antwortet ES den Leuten.

„Aber Ihr seid doch unser Gott!“

„Euer Gott? Bin ich das? In der Tat bin ich euer Schöpfer. Ich bin das Wesen, dass das Leben, die Formen und die Ideen erschaffen hat. Ich bin der Anfang und das Ende von allem. Auch die Menschheit schuf ich, auf dass sie die Welt bevölkere, wie all die anderen Wesen, die ich formte und denen ich Leben schenkte. Doch für alles, das ich erschuf, gab ich einen Teil meiner Kraft auf. Nun bin ich nicht mehr als ein unsterblicher Beobachter des sich frei entfalteten Laufes des Wandels und des Lebens. Ich vermag nicht, euch zu retten“, offenbart ES seine wahre Natur.

„Dann nehmt mein Leben! Mein Leben im Tausch für mein Kind!“

„Tag für Tag sterben unzählige Kinder, während gleichzeitig viele andere das Leben erblicken. Ich vermag nicht, ein Leben zu transferieren. Dein Leben genügt nicht, um mir die Macht dafür zu geben. Dafür ist das Leben eines einzelnen Lebewesens zu klein, verglichen mit der Größe des Kosmos.“

Diese Worte lösen in allen Umherstehenden Angst und Unglauben aus.

„Ich flehe euch an! Bitte tut etwas!“

Aber ES stellt fest, dass ein weiteres Verbleiben nur Schaden anrichten würde. ES erhebt sich und macht sich daran, all die Menschen, die ES gefolgt sind, zu verlassen. Mit ein paar letzten Worten verabschiedet ES sich von all jenen, die hier anwesend sind.

„Richtet euer Flehen, euer Verlangen nicht an andere. Ich bin der Schöpfer dieser Welt. Aus diesem Grund nennt ihr mich Gott. Doch ihr seid ich und ich bin ihr. Also geht hinaus und seid eure eigenen Götter, genau wie ich es jedem anderen Wesen auch ermöglicht habe.“
 



 
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