Goldene, goldene Freiheit

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sohalt

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Das ist ein Gesang in der Brust, ich kann mich noch genau an ihn erinnern. Der letzte Schultag. Die großen Ferien. Früher.


Das Licht durch die Blätter, das Spiel ihrer Schatten auf dem Bierdeckel im Gastgarten im Klosterhof. Verbrüderung mit den Lehrern. An so einem Tag ist alles ganz leicht.

Noch früher: Alkohol im Park. Zur Feier des Tages. Vielleicht schon an der Bimhaltestelle, Sekt entkorken geht natürlich schief, alle werden angespritzt, Kreischen und Kichern, wir sind überdreht und ausgerechnet jetzt kommt eine Lehrerin vorbei, noch ist sie der Feind und sie schaut so komisch. Aber es ist egal, sich zusammenreißen ist vorbei, es ist aus, wir sind ausgelassen. In der Straßenbahn "Nie mehr Schule" gröhlen, was Wunschdenken ist, weil die Matura noch Ewigkeiten entfernt ist und hoffen, dass einem irgendwer den Vogel zeigt. Soll er bitte: dieser Tag gehört uns, so ist das nämlich! Sich die Beine in den Bauch stehen vor dem Lokal, in dem jedes Jahr die große School's-out-Party steigt, wo alle hingehn, nachher, wirklich alle Schüler der Stadt, um auf den Tischen zu tanzen, wo an ein Reinkommen gar nicht mehr zu denken ist, als wir endlich dort sind. Stattdessen lieber in den gegenüberliegenden Park. Endlich der Park. Alle Viere von sich strecken. Ist sowieso viel besser. Und was die, die dann doch reingekommen sind, erzählen ist aufregend genug - nicht zu glauben, wer an solchen Tagen aller betrunken ist und sich aufführt! Aufführen, ja! Und selber betrunken sein, wenn auch in Wahrheit mehr von einer Überdosis Rumkugeln und der plötzlichen Freiheit, als vom – wichtig, wichtig – daheim liebvoll zusammengepanschten Cappi-Malibu in der Apfelsaftflasche und vom Sekt an der Bimhaltestelle, der doch ohnehin zu größeren Teilen auf der Kleidung gelandet ist als in der Kehle. Überhaupt: sich betrunkener benehmen, als man wirklich ist.

Noch früher: Eis essen. Zur Feier des Tages. Nachher die Geschäfte abklappern und alle Geschenke absahnen, die man im Zug diverser Werbeaktionen an so einem Tag für so und so viel Einser bekommt, einen Sonnenhut, einen Wasserball, einen Müsli-Riegel, auf alle Zeiten ungeschlagen an der Spitze: der Jahresvorrat Hanf-Schokolade vom Viva-Sativa; tja, ich hatte nur einen Zweier, in Turnen. Aber am wichtigsten: die Zeugnisbelohnungsbücher aussuchen. Die Bücher für den Sommer. Mein Ritual.

Und dann: Von der Bushaltestelle nach Hause, die Dorfstraße hinunter. Sträucher und Bäume und Wiesen und Himmel grüßen einen wie Freunde, die man gerade in den letzten Wochen zu oft weg schicken musste, wenn sie spätnachmittags kamen, um einen zum Spielen zu holen – ich hab noch zu lernen – aber jetzt, jetzt gehöre ich euch, jetzt gehört ihr mir. Man kann ganz gemächlich schlendern, man muss gar nicht springen, auch wenn man fast zerspringt von diesem Gefühl in der Brust, jenem eingangs erwähnten. Man muss nicht hüpfen, das hüpft in einem.

Die Dorfstraße. Der Himmel. Dieser Moment. Goldene, goldene Freiheit, dachte ich. (Ich war ein Kind mit Hang zur schwülstigen Ausdrucksweise). Ich kann mich noch genau an den Wortlaut erinnern. An das Gefühl. Ich hab es nie wieder so intensiv empfunden.

Mit den Jahren gibt sich das schleichend, das mit dem Glücksrausch zu Beginn der großen Ferien. Die Ausgelassenheit, ja. Ein Karneval. Saturnalien. Die gesunde Portion Exzess. Geht nicht mehr so gänzlich ohne Hineinsteigern. Freiheit? Selbst wenn - und weiter? Gar nicht so ohne, die Freiheit. Freiheit ist nicht die Antwort, Freiheit ist die Frage. Fragen findet man auch nicht mehr so toll wie früher, also man noch glaubte, dass man tatsächlich Antworten finden kann. Wir denken das vielleicht nicht, mit dem Cappi-Malibu im Park, aber ein bisschen spüren wir es schon.

Ich habe heute meine letzte Klausur für dieses Semester geschrieben. Eigentlich dachte ich, wir würden nachher noch alle gemeinsam was trinken gehen, wie sonst auch, aber es war nicht wirklich was ausgemacht und dann musste die eine den Zug erwischen und die andere zu einem Vorstellungsgespräch und die nächste traf sich schon mit jemand anderem und so weiter. Ich ging allein essen. Und dann nachhause und legte mich schlafen. Als ich erwachte, war ich immer noch müde. Und werde es bleiben. Das Lernen-Müssen hat die Müdigkeit nicht verursacht. Und Nicht-Mehr-Lernen-Müssen wird sie nicht heilen. Augen zu und durch, hab ich mir gesagt. Und jetzt bin ich durch und wage nicht, die Augen wieder auf zu machen, denn da ist kein Himmel mehr, der mich zurückbegrüßt.

Den restlichen Tag habe ich ferngesehen
 

rocketboy

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mir gefällt deine kurze knappe ausdrucksweise. wirkt irgendwie atemlos, passt aber in dem fall, weil sie mir das gefühl von erinnerungsfetzen sehr gut vermittelt. auch gut, die details, die du beschreibst (cappi-malibu, liebevoll zusammengepanscht, in der apfelsaftflasche, sehr schön!). obwohl ich den schulabschluss selbst eher selten so erlebt hab, fühlte ich beim lesen mit und kam mir fast so vor, als würd ich das alles aus meiner eigenen vergangenheit kennen.

nicht so gut: das ende. (jaja...) kommt so komisch. du wirst irgendwie zu philosophisch - denke, es ist okay, wenn du zum abschluss die freiheit andiskutierst, aber sätze wie "freiheit ist nicht die antwort, freiheit ist die frage" haben eher einen eigenen text verdient, als hier am ende unterzugehen. außerdem stockte auch mein lesen, weil du auf einmal solche sätze reinhaust - mir gings ungefähr so: vorher noch *jöööö, schulabschluss, yeah*, dann auf einmal *hääää?? kapier ich nicht, was hat das fürn zusammenhang??*

lg, rocketboy
 

sohalt

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Zugegeben: Freiheit ist nicht die Antwort, usw. - schon ein bisschen pseudo. Aber "Jöööö, Schulabschluss, yeah!" - war auch nicht wirklich das Thema das Textes.

Ursprünglich war da noch ein Absatz, ich häng den jetzt wieder an, vielleicht wird es dann klarer.

lg
sohalt
 



 
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