Grabsteine

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Nick

Mitglied
"Jedenfalls", sagte Hauptkommissar Hagen Ulter, zog eine Visitenkarte aus der Brieftasche und hielt sie der kleinen Frau auf der Türschwelle hin. “Hier ist meine Nummer. Falls Ihnen irgendetwas auffällt - ganz egal, was - melden Sie sich. Jede Information kann uns helfen.”
Anna nickte und nahm die Karte. “Das mache ich”, sagte sie und zog ihren Bademantel enger. Das Schneetreiben hatte im Verlauf des Abends zugenommen. “Ich hoffe, Sie finden das Mädchen. Das hoffe ich wirklich. Es ist … unwirklich. Dass so etwas hier passiert.” Sie blies sich eine Strähne aus dem Gesicht und lachte trocken auf. “Aber das sagt jeder in so einer Situation, schätze ich. Idiotisch.”
Ulter hob die Hand, drehte sich um und stapfte durch den verschneiten Vorgarten. Vor Mitternacht wollte er zwei weitere Straßen schaffen.

Anna stand am Küchentresen und schälte Kartoffeln. Gerd lehnte mit verschränkten Armen an der Wand. “Wie alt ist das Mädchen?”, fragte er.
“Vier”, sagte Anna, ohne aufzusehen. “Sie wohnt mit ihren Eltern in der Lichtenbuschstraße, neben der Gärtnerei.”
Gerd sagte nichts. Anna schnitt die Kartoffeln in Stücke, warf sie in einen Topf voll Wasser und drehte den Herd an. Dann sammelte sie die Schalen ein und warf sie in den Biomüll.
“Wie geht’s Oliver?”
Für eine Sekunde stand Anna ganz still. Dann - als sei sie aus einem Traum erwacht - machte sie weiter, warf die übrigen Schalen fort und wischte mit einem Lappen über den Tresen. “Er war nicht in der Schule. Er sitzt den ganzen Tag in seinem Zimmer und bastelt.”

Oliver saß unter dem Lichtkegel der Schreibtischlampe und bemalte eine Modellfigur. Der Hexenmeister Calmonar trug einen weiten Umhang, ein ledernes Wams und graue Hosen. Sein Haar glänzte matt, die Augen glommen rot. Oliver saß bewegungslos da. Nur seine Augen sprangen hin und her - und der Pinsel, den er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Seine Mutter rief von unten zum Essen, aber er hatte keinen Hunger. Nach einer halben Stunde lehnte er sich zurück und betrachtete sein Werk: Calmonar stand inmitten eines verwahrlosten Friedhofs. Zwanzig kleine, fahle Grabsteine ragten aus der Erde, dazwischen wucherte dichtes Gestrüpp. Oliver lächelte zufrieden. Die Szene sah viel besser aus als heute Morgen. Die Milchzähne passten perfekt
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Nick,
das ist der Hammer. In solcher Kürze so viel Gänsehaut zu erschaffen, ist wahrlich beeindruckend.
Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 
G

Gelöschtes Mitglied 21835

Gast
Oh mein Gott! Ich habe mich echt erschrocken am Ende! Zum Glück bin ich jetzt nicht alleine zu Hause, sonst würde ich mich jetzt fürchten...
 
Hallo Nick,

ich habe ewig gebraucht, bis der Groschen gefallen ist :cool: erst dachte ich, ein "echter" Hexenmeister wäre gemeint. Kurz und gut geschrieben!

LG SilberneDelfine
 

Nick

Mitglied
Hi @Dorothea Pure und @SilberneDelfine,

vielen Dank für eure Kommentare! Es freut mich, dass die Geschichte für euch funktioniert - und, @SilberneDelfine: Mit deiner Bemerkung "Ich habe ewig gebraucht ..." beschreibst du ziemlich genau meine größte Sorge beim Schreiben und Kürzen: Einerseits wollte ich den Text so kurz machen wie möglich - andererseits wollte ich ihn nicht so brutal kürzen, dass er seinen Sinn verliert. Balanceakt ...

Vielen Dank und viele Grüße euch beiden!

Nick
 
Hallo Nick,

das meinte ich damit aber eigentlich nicht. Als "alter Hase", was das Schauen von Horrorfilmen und Lesen von Gruselgeschichten betrifft, war mir schon klar, was der Sinn ist bzw. was passiert ist - ich konnte es nur nicht in den Zusammenhang bringen, weil mir nicht klar war, dass der Hexenmeister mit der Modellfigur gemeint war. Ich dachte, Oliver wäre ein Lehrling vom Hexenmeister oder so..... Liegt aber an mir und meiner überschüssigen Fantasie, nicht an deiner Geschichte.

LG SilberneDelfine
 
G

Gelöschtes Mitglied 21835

Gast
Hallo Nick, ich möchte noch hinzufügen, ich habe auch etwas länger gebraucht um die Geschichte zu verstehen, weil ich einfach ur lange nicht verstanden habe dass die Milchzähne die Grabsteine sind... vielleicht wenn der Satz mit dem Grabstein und der mit den Milchzähnen näher aneinander wären, hätte ich den Zusammenhang leichter herstellen können... oder ich weiß nicht, du kannst ja herum experimentieren wie das klarer werden kann... ich meine nach einigem Nachdenken was der Sinn sein könnte, bin ich eh draufgekommen aber ja...
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Nick,

leider komme ich erst jetzt dazu, etwas zu diesem Text zu sagen.

Zunächst: Er gefällt mir sehr gut, und Du schaffst es, trotz der Kürze ein Gruseln hervorzurufen.

Allerdings habe ich eine Weile gebraucht, um zu erkennen, wer Oliver ist – die Frage „Wie geht's Oliver?“ steht für mich zu plötzlich im Raum. Vielleicht wäre es besser verständlich, wenn Du einen kleinen Hinweis darauf gäbest, z. B. „Was macht eigentlich unser Sohn?“ Oder Du beginnst den nächsten Absatz mit: Im Nebenzimmer saß Oliver … Du hast zwar in der neuesten Version auf die Mutter hingewiesen, die zum Essen ruft, aber das kommt hier eigentlich zu spät.

Noch eine Frage zu meinem Verständnis: Weiß die Mutter, was der Sohnemann da treibt? Oder warum reagiert sie so merkwürdig auf die Frage ihres Mannes? (Entschuldige, wenn ich hier ein wenig begriffsstutzig bin.):rolleyes:

Gruß, Ciconia
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Entschuldige, Nick, dass ich hier eine dumme Frage gestellt habe. Du musst sie nicht beantworten.
 

Nick

Mitglied
Hi @Ciconia,

gar nicht — ich muss mich entschuldigen! Ich bin gerade nicht in Deutschland und komme nur übers Handy ins Internet, deshalb bin ich zurzeit weniger aktiv, das ist alles.

Oliver ist - wahrscheinlich - der Sohn, zumindest verstehe ich die Story so, aber du hast recht, es ist ziemlich vage.

Weiß die Mutter, was Oliver in seinem Zimmer treibt? Mmh. Der Text lässt das ziemlich offen. Ich finde, dass ihr Erstarren in der Küche andeutet, dass sie zumindest eine Angst oder eine Befürchtung hat.

Viele Grüße — und nochmal sorry wegen der Verspätung!

Nick
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Danke, Nick! Dann lag ich ja nicht so falsch mit meiner Deutung. Ist ja in Ordnung, dass du es bei Andeutungen belässt.

Gruß, Ciconia
 

Nick

Mitglied
Hi @Ciconia,

ja, du bist auf der richtigen Spur, denke ich. Ich habe den Text natürlich mit einer Idee im Kopf geschrieben — aber ich finde es immer interessant, wenn sich dann auch alternative Lesarten ergeben. Deshalb lege ich mich selbst nicht so recht fest — es kann sein, dass die Mutter ihren Sohn schützt, es kann aber auch sein, dass sie einfach nur eine böse Ahnung hat.

Viele Grüße!

Nick
 

Kosmonaut

Mitglied
Hi @Nick,

coole Story! Habe ich sehr gerne gelesen. Da erzählst du in wenigen Zeilen eine atmosphärische Geschichte mit einem überraschenden und schockierenden Ende. Gefällt mir echt gut!

Ein paar Details sind mir aufgefallen:

"Jedenfalls", sagte Hauptkommissar Hagen Ulter, zog eine Visitenkarte aus der Brieftasche und hielt sie der kleinen Frau auf der Türschwelle hin.
Ich denke den Vornamen brauchst du hier nicht zwingend, denn normalerweise stellen sich Polizeibeamte nur mit dem Nachnamen vor (und im vorletzten Satz des ersten Abschnitts nennst du ihn auch nur beim Nachnamen). Unsicher bin ich auch, ob es die "kleine Frau" tatsächlich braucht … Weitere Aussagen über das Aussehen deiner Figuren machst du nicht, darum ging ich davon aus, dass Annas Körpergröße irgendwie relevant sein müsste. Ist sie aber nicht.

Anna nickte und nahm die Karte. “Das mache ich”, sagte sie und zog ihren Bademantel enger.
Dass Anna den Bademantel enger zieht, ergibt eigentlich erst dann einen Sinn, wenn man weiß, dass das Schneetreiben zugenommen hat, diese Info erhalte ich aber erst im nächsten Satz. Vielleicht ein einfaches "…, sagte sie." und dann das Schneetreiben und den Bademantel in einem neuen Satz kombinieren?

“Wie geht’s Oliver?”
Dass da ein eher kühles und beklemmendes Verhältnis zwischen den Eltern und Oliver besteht, merkt man hier sehr schön, das hast du toll umgesetzt. Dennoch wirkt Gerds Frage etwas gar distanziert auf mich, denn so wie ich das gelesen habe, ist er Olivers Vater … Stimmt das? Diese Frage würde eher zu einem Besucher oder einer von Annas Freundinnen passen, aber zum Vater … Da bin ich noch unschlüßig.

Die Szene sah viel besser aus als heute Morgen. Die Milchzähne passten perfekt
Irgendwie lese ich das so, dass Oliver das Mädchen am gleichen Tag entführt und ermordet haben muss, denn am Morgen sah die Modell-Szene noch nicht so gut aus. Da frage ich mich natürlich, wie er das alles an einem Tag geschafft hat und wie seine Mutter nichts davon mitbekommen hat. Aber vielleicht lese ich das auch einfach falsch … Aber du siehst: Durch die Reduktion in deiner Geschichte läuft da so einiges im Kopf deiner Leser, und dadurch bleibt die Geschichte auch noch viel besser haften. Super!

Eine tolle Story, die du da geschrieben hast, ich freue mich schon auf deine anderen Beiträge.

Grüße,
Kosmonaut
 



 
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