Grand Canyon (gelöscht)

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O

orlando

Gast
Wohl wahr, Dickes,
eine der beeindruckendsten Landschaften der Erde.
Und ein Gedicht, das dieser Schönheit angemessen scheint - ein paar Kleinigkeiten gebe ich zu bedenken:

GRAND CANYON

Gigantisch, wuchtig, kolossal,
der Erdenkruste tiefste Narbe,
höchst ungewöhnlich allemal
im Wechselspiel von Licht und Farbe.

Sie zeigt sich je nach Tageszeit
mal ocker, gülden, grün geziert,
dezent [blue]verhüllt[/blue], [blue]im blauem[/blue] Kleid.
und schließlich violett schattiert.

Der Eindruck ist so unerhört,
dass jeder [blue]in[/blue] Erstaunen fällt,
bewegt, ergriffen, ja, verstört
von imposanter Schluchtenwelt,

verwirrt vom wüsten Durcheinand,
von Chaos, Wildheit, Allgewalt -
dem Strom, der Felsen überwand,
zerschliff, zertrennte, gab Gestalt, (hieße es hier nicht "zerschleifte, trennte ...?" Hört sich komisch an ... ich weiß)

vom Seitenschluchtenlabyrinth
mit Felsentürmen, -säulen, -wänden,
die so grotesk verkantet sind,
als würde jede Ordnung enden.

Die Blicke gehn hinab, hinauf,
verfolgen Fel[blue]sen[/blue]proportionen [blue]?[/blue]
entlang des Colorados Lauf
durch diesen [blue]Erdball seit[/blue] Äonen.

Sie dringen durch die steilen Klüfte,
erfassen Kegel, Pyramiden
und stürzen in Titanengrüfte,
[blue]in dunklen[/blue] Abgrund tief danieden.

Als Feuerball die Sonne senkt
sich auf die Silhouette nieder.
Der Canyon, abendlichtgetränkt,
verändert Form und Färbung wieder.

Das Felsenreich beginnt zu glühen
für kurze Zeit in tiefstem Rot,
bis schwarze Schatten aufwärts ziehen,
wo [blue]vorher[/blue] Glanz und Glast gebot.

Jetzt meine Frage: Bedarf es wirklich einer weiteren Strophe? Wäre es nicht schöner und runder, das Gedicht mit den Schatten enden zu lassen?

[blue][Verzaubert, in Besitz genommen
wird, wer da stumm verweilen kann,
Ein Hochgefühl will überkommen,
nicht weichen Canyon’s stiller Bann.][/blue]
__________________

Ansonsten ein klingendes, farbiges Spracherlebnis - wunderschön! Mein Lieblingsströphlein:
...
vom Seitenschluchtenlabyrinth
mit Felsentürmen, -säulen, -wänden,
die so grotesk verkantet sind,
als würde jede Ordnung enden.
Toll!

orlando
 
G

Gelöschtes Mitglied 8146

Gast
Das war ein sehr gutes Gedicht. Ich war auch schon einmal am Grand Canyon und kann die Ausführungen durchaus bestätigen.
 

Drickes

Mitglied
Hallo orlando,

vielen Dank für die Bewertung und die Änderungsvorschläge.
Zu den Vorschlägen:

S2, Z3
Das werde ich so übernehmen

S3, Z2
Das werde ich auch so übernehmen

S4, Z4
Dazu habe ich im Internet folgende Ausführung gefunden:
„Schleifen im Sinne des Schärfens und Glättens wird unregelmäßig gebeugt: Er schleift, er schliff das Messer, er hat den Diamanten geschliffen. Sie hielt eine geschliffene Rede, eine glänzende, rhetorisch brillante. In der Bedeutung „über den Boden ziehen“ oder „zunichte machen“ wird schleifen hingegen regelmäßig konjugiert. Er schleifte das geschossene Wild hinter sich her. Burgen wurden geschleift, dem Erdboden gleich gemacht.“

S5,Z4
„in“ würde den Sinn verändern.
Außerdem fände ich das gleiche Wort in zwei aufeinander folgenden Zeilen nicht so prickelnd.

„dunkeln“ liest sich m. E. etwas flüssiger. Ob es sprachlich korrekt ist vermag ich nicht zu beurteilen.

S9, Z4
Das werde ich auch so übernehmen.

S10
Der Vorschlag hat mich überzeugt. Die Strophe muss nicht sein.
 

Drickes

Mitglied
GRODIDU

Hallo Tigerauge,
die Beurteilung freut mich. Habe wohl fast mit einem Tigerauge in und über den Canyon geschaut.
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo Drickes,
es geht auch anders: ich war noch nie dort, aber angesichts deiner Schilderung läuft mir der Sabber aus dem Munde.

Im Ernst: sehr schön und schwungvoll ausgeführt, der Text purzelt so vor sich hin, stockt nicht, wirkt leicht und ist doch alles andere als flüchtig hingeworfen.

Ein einziges Mal bin ich beim Lesen halbwegs ins Stolpern geraten, orlando hat die betreffende Stelle auch schon benannt: S6Z2.
Meiner Meinung nach wäre Felskonstellationen geschmeidiger.

mit montanen Grüßen
wüstenrose
 

Drickes

Mitglied
Hallo wüstenrose,

und ich dachte schon, dass ich mit "Felsproportionen" endlich den passenden Begriff gefunden hätte (Proportion = Verhältnis verschiedener Teile eines Ganzen zueinander), der zudem metrisch genau passt. Vielleicht fallen mir da mal 2 völlig neue Zeilen ein. Oder was hältst Du von "Felsensektionen" (Untergruppen, Teilbereiche)?

Deine Beurteilung ehrt mich.

Mit Dank und Grüßen
Drickes
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo Drickes,

soweit ich die Lage beurteilen kann, gestaltest du das Lesen deiner Favoriten sechssilbig und wie folgt:

Fel-sen-sek-ti-o-nen
Fels-pro-por-ti-o-nen

das klingt für mein schwäbisch geschultes Gehör eher unnatürlich, als natürlich empfinde ich die fünfsilbige Lesart (...sek-tion...). Die Betonung mag regional variieren?

Die Äonen-Wendung finde ich nicht perfekt; zwei neue Zeilen könnten meiner Meinung nach ein Gewinn sein.

lg wüstenrose
 

Drickes

Mitglied
Hallo wüstenrose,

da stehst du wohl mit deiner Ansicht ganz sicher nicht allein.
Ich selbst bin auch immer wieder neu verunsichert, welche Lesart natürlicher ist.
Aber letztlich sollte wohl mehr der Zeileninhalt ausschlaggebend sein.
Zwei neue Zeilen dafür wollen mir einfach nicht einfallen.

Mit Dank und Grüßen

Drickes
 
D

Desperado

Gast
Hallo Drickes,

gefällt mir außerordentlich. Selbst würde ich es nie wagen, diese atemberaubend Schönheit und urzeitliche Majestät mit Worten zu beschreiben, auch dann nicht, wenn ich vor Ort gewesen wär, aber als Versuch ist es Dir vortrefflich gelungen, das möcht ich mal so festhalten.

Canyongruß
Desperado
 

Drickes

Mitglied
Hallo Desperado,

es wundert mich, dass du den Canyon noch nicht besucht hast, zumal einst tausende von Desperados unweit von dort ihr Glück in den Silberminen versucht haben. Umso mehr freut es mich dir einen Eindruck vermittelt zu haben.

Mit Dank und Grüßen
 
D

Desperado

Gast
Aber klar doch,der Desperado, der ist sozusagen drin zuhause.

...

Ein Leben am Abgrund ist nicht jedermanns Sache.

Was Wunder, welcher vernünftige Mensch baut sich hier schon ein Haus, lässt da seine Kinder spielen oder seine Schafe weiden. Kaum eine Gegend ist so zuverlässig menschenleer wie dieser Landstrich ehemaliger Uferstreifen, der sich wie eine gewaltige Schlange durchs Land zieht. Wohl zählen die Havasupai, die seit Menschengedenken tief unten in ihrem Bauch leben und in den wenigen bewohnbaren Flecken ihre Lager haben, auch den Karst hier oben zu ihrer angestammten Heimat, aber in diesem unwirtlich blanken Niemandsland bekommst du so gut wie nie einen der Ihren zu Gesicht. Was sollen sie auch damit?

Niemandsland. Seltsam eigentlich, dass ich ihm hier noch nie begegnet bin, dem Nobody, dem Mann, der sich Niemand nennt. Ein pfiffiger Vogel, von Berufs wegen Kunstschütze, der schießt die Flamme aus der Kerze, ohne dass die einen Kratzer abbekommt, ja sie auch nur bewegt, und das in atemberaubender Geschwindigkeit. Ruhm und Ruf eilen ihm voraus, wo immer er auftaucht, sogar Revolverhelden und Banditen fürchten seine Schießkunst und erstarren bei seinem Anblick zur Salzsäule, so viel ich weiß, musste er darob noch nie einen Mann erschießen, beneidenswert. Wir sind nicht miteinander in die Schule gegangen, denn der Bursche hat eine Schattenseite, nun, eine solche haben alle Menschen, aber die seine behagt mir nicht so besonders. Ich möchte ihn deshalb jetzt nicht gleich einen Spitzel nennen, aber die Sheriffs scheinen ihn alle gut zu kennen, von denen hörst du immer „Niemand hat was gehört oder gesehen, Niemand will dir was sagen, wie immer weiß Niemand Bescheid“.

Wohingegen alle für gewöhnlich Nichts gesehen haben, ich bin nie so recht dahintergekommen, in welchem Verhältnis und ob der unvorsichtige Kerl überhaupt in einem steht zu Niemand, wohl werden die Beiden oft in einem Atemzug genannt, Nichts und Niemand, was aber nichts heißen muss, das ist auch so mit Tod und Teufel, und obwohl man diese Zwei manchmal wirklich nur schwer voneinander unterscheiden kann, sind sie doch Zweierlei und haben nicht zwingend etwas miteinander zu tun. Sei wie es sei, hier oben ist nichts und niemand zu sehen, die einzige Menschenseele, der ich am Abgrund über den Weg reite, bin ich selber. Da kann es dann auch schon mal vorkommen, dass ich mich an der gegenüberliegenden Kante erspähe und mal eben die Seiten wechsle, es ist immer gut, die Dinge aus der entgegengesetzten Perspektive zu betrachten, und weil ich hier sowieso der Einzige bin weit und breit, bin ich es auch ganz allein, der damit klarkommen muss, was mir denn auch keinerlei Mühe bereitet. Wär ich hier mit einer Gruppe unterwegs, gäb's sofort jede Menge Ärger, da wäre ich ein abtrünniger Überläufer und Verräter, urplötzlich zum gefährlichen Feind geworden und zum entschiedenen Gegner, die haben da alle einen Knick in der Optik, diese Gruppen, der Rand des Canyon ist gleichzeitig auch ihr Tellerrand, über den sie nie hinaus schauen. Auch einer der Gründe, weshalb ich seit ewigen Zeiten allein reite, vor mir selbst muss ich mich nicht erklären und werde von mir nicht angefeindet wegen einer Lappalie, die nicht einmal eine ist.

Der alte Geier, der über mir kreist, wundert sich. Neugierig schielt er herunter. Passiert ja auch nicht alle Tage, dass Einer versonnen auf dem Bauch am Boden liegt, den Kopf über den Abgrund geschoben, Steine in die Tiefe fallen lässt und diesen nachschaut, bis sie weit unten zum Liegen kommen, dort, wo der alte Fluss sich wie eine noch ältere Schlange durch den kargen Boden windet.

Stein für Stein für Stein für Stein.

Faszinierend, wie sie im Fallen gegen die Schwerkraft anzukämpfen versuchen, jedes Mal wenn sie gegen die Steilwand klatschen in hohem Bogen hinausgeschleudert werden, als wollten sie sich in die Lüfte erheben, nach oben zurück segeln an ihren gewohnten Platz, wo sie seit Ewigkeiten in der glühenden Sonne ausharrten. Doch unerbittlich zieht sie die Schwerkraft nach unten, eine Umkehr gibt es nicht im freien Fall. Erst wenn sie im Ufergeröll des Flusses landen und nach kurzem Auspurzeln zum Ruhen kommen, merken sie, dass dieser neue Aufenthaltsort nicht besser oder schlechter ist als der vorherige, nur einfach anders. Manche schaffen es sogar bis in die Fluten, wo sie platschend verschluckt werden, um wirbelnd auf den Grund hinunter zu sinken in ein feuchtes „Woanders“, ein nasses und prickelnd kühles Anderswo.

So ist es mit den Hoffnungslosen.

Ist es eine schlechte Nachricht, den Steinen zu sagen, dass das Dasein dort unten nicht schlechter ist als das hier oben? Nur eben verändert und nicht mehr wie zuvor? Dafür aber neu, zwar überschattet, aber bei weitem nicht lebensunwert? Früher oder später straft die Verwitterung die Stimme der Hoffnung Lügen, die da den Steinen, die am Rande des Abgrunds driften, zuruft: Haltet euch gut fest, so werdet ihr nicht fallen! Der nächste Regen, der die Wüste in einen Paradiesgarten blühender Pracht verwandelt, wird sie nach unten spülen, ebenso diejenigen von ihnen, die unterwegs auf einem Felsvorsprung zum liegen kamen und seitdem posaunen: Seht her, wir haben es geschafft! Ist nun die gute Botschaft, die da tröstend beschwichtigend im Grunde zur Notlüge greift wirklich besser als die schlechte, die zwar bedrohlich und entmutigend klingen mag, dafür aber sagt was Sache ist und die Wahrheit spricht? Es erfüllt sich das Sprichwort vom Wicked Messenger: „Wenn du keine gute Nachricht hast für uns, dann bring uns lieber gar keine“. Die schlechte Neuigkeit muss die frohe vertrieben haben, und ob das wirklich stimmt oder einfach nur eine Zufallsbegegnung steten Kommen und Gehens war, danach fragt keiner mehr. Es muss einfach so gewesen sein. Vermutlich hat es damit zu tun, dass die weitaus überwiegende Mehrheit der Steine ein Dasein in Bewegungslosigkeit gewohnt ist, was zwangsläufig einen beschränkten Horizont mit sich bringt.

Der Rabe ist ein großer Lehrmeister der Lebenskunst.

Sein Dasein ist pure Lebenslust, kopfüber stürzt er sich in den Abgrund, dreht sich um die eigene Achse, schießt wieder nach oben, zieht Kreise und schlägt Räder, zu zweit und zu dritt im Einklang gleichförmiger Bewegungen, und haben ihn die akrobatischen Kunststücke und atemberaubenden Kapriolen müde gemacht, die er mit Seinesgleichen in der windbewegten Luft vollführt, steht er mit ausgebreiteten Flügeln reglos über der Tiefe und späht umher, bevor er sich auf der höchsten Zinne niederlässt und sein Reich überschaut. Bald hat er den Fischadler ausgemacht, der im Sturzflug in die Fluten hinabsticht mit ausgefahrenen Klauen und einen zappelnden Brocken aus dem Wasser zerrt. Seelenruhig wartet er ab, bis sich der erfolgreiche Jäger auf einem Felsen einen guten Platz gesucht hat, um dort ungestört seine Beute zu verspeisen, und schon schwingt er sich zu ihm hinab, schießt wie ein Pfeil auf den Überraschten hinunter und stößt ihn mit dem bloßen Luftdruck seiner Flügel von der gedeckten Tafel. Ist aber der Fischadler erst einmal zum Fliegen gezwungen, hat er gegen die Wendigkeit und Schnelligkeit des etwa gleichgroßen Raben nicht den Hauch einer Chance, mag er auch ein kühner Flieger sein, der Luftkampf ist alsbald zu dessen Gunsten entschieden und der um seinen Fang Geprellte macht sich notgedrungen auf, einen neuen zu machen. Der Rabe aber kehrt hochzufrieden zum wartenden Fisch zurück und lässt es sich schmecken. Allein gegen den kalifornischen Kondor mit einer Flügelspannweite von gut drei Metern kommt auch er nicht an, wenn dieser sich in Scharen am Aas eines Dickhornschafs gütlich tut, doch lässt er es sich nicht nehmen, die streitenden Nacktköpfe zu nerven und zu ärgern, lauernd um sie herumzuhüpfen, sie an den Schwanzfedern zu zupfen und bei ihrem Festmahl daran zu erinnern, wer eigentlich der wahre König des Grand Canyon ist.

Groß ist der Canyon und unüberwindlich.

Den großen Graben hat der rauschende Fluss dort unten in den Fels gegraben. Wie soll jemand auf der anderen Seite des Abgrunds denen auf der einen verständlich machen, wie er da hinüber gekommen ist, wenn er es selbst nicht so genau sagen kann? Er weiß lediglich, dass er drüben ist und sie hüben geblieben, und das genügt ihm vollauf, um sie zu lassen wo sie sind und das neue weite Land zu erkunden. In der Wüste gibt es keinen Unterschied zwischen einer Minute und einer Ewigkeit. Die glückliche alte Sonne zieht ihre Bahnen und erledigt, worauf du keinen Einfluss hast, dein Zeitgefühl geht indessen nicht verloren, es verändert sich, du bist nicht mehr Sklave der Stunden, sondern ihr Herr, ja, du allein bist der Herr der Zeit. Vom Greis zum Kind kannst du werden und umgekehrt im selben Atemzug, Zeitloch und Zeitsprung sind dir vertraute Begleiter, du kannst die Zeit anhalten und überspringen frei nach Belieben, und du kannst sie verlassen, wann immer du willst. Ein Augenblick kann eine Ewigkeit währen und ein paar Jahre zur Sekunde schrumpfen, Quelle und Mündung sind ein und dasselbe im ewigen Zeitstrom der nagenden Fluten dort unten, die niemals die selben sind und doch immer die gleichen.

Ich liege träumend am Abgrund und lasse Steine in die Tiefe fallen, einen nach dem andern, vergesse Zeit und Raum, mein ganzes Leben zieht in lebendigen Bildern an mir vorbei. Als ich mich erhebe, finde ich mich mir selbst gegenüber wieder, mein Gaul äst in meinem Rücken auf grünen Auen, die ich nie zuvor gesehen, und wo ich kauerte, bleibt mein feuchter Abdruck eine kleine Weile haften und verpufft in der Sonnenglut, als wäre ich nie gewesen. Ob ich nun wie ein Stein in die Tiefe geschossen bin oder wie ein Blatt getaumelt, ob ich wie ein Schmetterling wieder nach oben gaukelte oder wie eine Eidechse die Steilwand hochkletterte, ob ich auf den Schwingen eines Adlers hinüber glitt oder auf Infinis fliegendem Rücken schwebte, auf dem Regenbogen geritten bin oder mit den Wolken des Morgennebels geflogen, vermutlich alles zusammen oder hintereinander - vielleicht jeweils nur ein Teil von mir, bis ich in meiner Gesamtheit drüben angekommen war - alles was ich weiß ist, dass es kein Zurück mehr gibt. Der große Canyon trennt zwei Welten ohne Wiederkehr, keine steinerne Regenbogenbrücke verbindet die urzeitlichen Ufer, er ist unüberwindlich wie der Abgrund zwischen dem armen Lazarus und dem reichen Prasser. Keine Fingerspitze wird einen Wassertropfen an eine dürstende Zunge führen können, wenn der Brunnen einmal versiegt ist, wenn der Desperado das rettende Nass aus den Kakteen pressen wird, wie die Indianer es ihn gelehrt haben.

Dann mögen die Steine schreien.

Hier unten sind die Steine stumm. Staunen verwundert, dass ihr Dasein wider Erwarten weitergeht, sogar ganz friedlich und erträglich. Das Rauschen des Flusses, das von den Wänden widerhallt, während weit oben der Sandsturm über die Spalte heult, durch die ansonsten ein ferner Himmel späht, beruhigt ihr angeschlagenes Gemüt. Feiner Tröpfchennebel kühlt mein müdes Gesicht. Das behutsame Hufgetrappel meines schlendernden Pferdes ist kaum zu hören, hier unten spricht nur das ewig fließende Wasser, das fröhlich über Felsen und Klippen springt und sich verspielt über selbst angestaute und gebaute Dämme in schäumende Tiefe fallen lässt. Die beperlten Moose auf den Ufersteinen, die girlandenförmigen wurzellosen Flechten an den feuchten Felswänden, die seltsamen Blüten der Nachtschattengewächse, die urzeitlich bizarren Fischchen, die augenlosen Krebstierchen im glasklaren Wasser, die Wucherungen der Muschelkolonien an den wenigen Plätzen, in die sich um die Mittagszeit ein paar Sonnenstrahlen verirren - sie alle fragen nicht, wie es da oben aussehen könnte, ob es dort heller ist, schöner, wärmer und abwechslungsreicher, sie sind hier im klammen Halbdunkel zuhause und fühlen sich pudelwohl und genau am rechten Ort.

Und ich und mein Pferd, wir tun es ihnen gleich. Mein Pferd trottet nicht, es schlendert. Es passt sich dem Herumstromern meiner Gedankengänge an, ihr Rhythmus überträgt sich auf seine Gangart. Wir sind miteinander verwachsen. Wie ich so schnell von weit oben nach ganz unten gekommen bin? Nichts leichter als das, ja geradezu kinderleicht. Wer lange genug in den Abgrund schaut, in den schaut der Abgrund, so tief in einen hinein, bis er sich –quasi kopfüber - in den Betrachter hineinstürzt bis auf seinen untersten Grund. Und schon bin ich da. Alter Indianertrick. Wenn du vor einer Mauer ohne Tür stehst, musst du selbst zur Tür werden und durch dich hindurchgehen. Wenn dich ein schwarzes Loch zu verschlingen droht, musst du selbst zum schwarzen Loch werden, zu Antimaterie, die sich selbst nicht schlucken kann. Bevor du in den Abgrund fällst, musst du den Abgrund in dich fallen lassen, in einer Art Umkehrung der Erdanziehungskraft deinen Sturz verhindern, indem du die Erde anziehst und in dich stürzen lässt. Kinderleicht, man muss es nur wissen. Sicher, wenn du nicht hinunter sausen willst wie ein Stein, dann mach dich zur Feder. Auch eine Möglichkeit, kostet weniger Kraft, dauert dafür etwas länger, und ich wollte einfach nur so schnell wie möglich nach unten. Wie ich wieder raus komme von hier? Immer gemütlich stromabwärts, bis der Canyon niedriger wird und breiter, seine Uferschluchten zu sanften Hügeln schrumpfen, schließlich ganz verschwinden und den Blick in das weite Tal freigeben, durch das der glitzernde Fluss mäandert. Aber das hat Zeit, viel Zeit. Locker Zeit genug, um ein Handbuch für Geisterreiter zu schreiben. Ich werde mich hüten, am Schluss wimmelt es plötzlich von Möchtegerns hier unten am Fluss watership down wie von Kaninchen. Als sich oben mexikanische, spanische und Unionstruppen gegenseitig die Köpfe vom Rumpf schossen und schlugen, die Wüstenluft geschwängert war von Blei und der rissige Boden gierig Blutströme trank, war ich die ganze Zeit hier in der ruhigen Tiefe.

Ich bin doch nicht verrückt.

Die Gesteinsschichten hier unten im Grund des Grand Canyon sollen aus grauer Vorzeit stammen - das verkünden jedenfalls die Forscher-, in der es noch nicht einmal Pflanzen geschweige denn Tiere gab auf Erden, mag ja sein, deshalb sind sie auch nicht weniger schroff und abweisend als die ganz oben, wo der Abgrund gähnend in die Tiefe stürzt, und diese wiederum um nichts weniger fantastisch und überwältigend anzuschauen als ihre Brüder und Schwestern ganz unten. Die Gesteinsleser wollen außerdem wissen, dass die Zeitspanne der Menschheitsgeschichte in der unermüdlichen Spül- Wühl- und Schleifarbeit des alten Colorado durch sein steinernes Bett grade mal an einer Handbreit seitdem gewonnener Tiefe abgemessen werden kann - oder so ähnlich, die Kerle sprechen ihre eigene Sprache -, das allerdings wundert mich mitnichten, mal sehen, ob der Fluss noch eine zweite Handbreite durchs Urgestein schafft, bevor die Menschheit vom Erdball verschwunden ist. Zu den Anfängen des Lebens hinab gedrungen, vielmehr zurückgekehrt ist sie auf diesem Wasserwege ja bereits. Also könnte der Kreis ebenso gut geschlossen werden.

Versuche die atemberaubende Schönheit und überwältigende Erhabenheit des Grand Canyon mit Worten auszudrücken, und du wirst zum lächerlichen Schwätzer. Also versuch auch ich es nicht, egal ob ich nun ein solcher bin oder nicht, er lässt sich ganz einfach nicht beschreiben.

Sein tiefes Flusstal, das die Grenze bildet zwischen dem großen Becken und der zerklüfteten Weite des Südwestens, zählen auch die Stämme des Kojotenvaters noch zu ihren Jagdgründen, dort befindet sich ihr wichtigstes Heiligtum. Wenige Meilen bevor der Colorado sich in einem rauschenden und stäubenden Wasserfall in die Tiefe stürzt, umspülen seine Fluten seit Urzeiten einen in die Sohle der ungeheuerlichen und überwältigenden Rinne des gewaltigen Flussbettes gebetteten gigantischen Vulkanbrocken, wie es keinen zweiten seinesgleichen gibt in der gesamtem Länge der unermesslichen Canyonschlucht. Warum der da rumliegt und woher er gekommen ist, weiß niemand zu sagen, er lag da schon immer und unendlich lange Zeiten vor den ersten Beutelwichten. Man darf den Vulkanstein ohne Umschweife als bedeutende indianische Pilgerstätte bezeichnen, in seiner nächsten Umgebung finden sich einige Opferhöhlen, in denen Pilgergruppen ihre Mitbringsel hinterlassen können, meist in Form von Tabak und Kräutern, es gibt etliche Schwitzhütten für das reinigende und vorbereitende Schweißbaden, aus den Canyonwänden sprudeln mineralische Heilquellen für innen und außen, Leib und Seele, zum Trinken ebenso geeignet wie zu heilbringenden Waschungen, das uralte Gestein birgt seltene kostbare Mineralfarbstoffe zum Zwecke ritueller Bemalungen sowie der Schaffung sakraler Bildnisse, und noch viel anderes mir unbekanntes mehr an geheimnisvollen Dingen umflort und heiligt den magischen Ort.

Ein törichtes Bleichgesicht, das diese Kultstätte durch sein frevelhaftes Betreten entweiht, es wird auf der Stelle mit dem Todesbann belegt und für alle Zeit und Ewigkeit verflucht, oder, was noch besser ist, sicherheitshalber gleich an Ort und Stelle umgebracht. Mein Ritt durch den Canyon führt mich aber nun mal an dem unantastbaren Koloss vorbei, und weil Infini den faszinierenden Klumpen natürlich nicht einfach links liegen lassen kann, ohne wie eine Gämse seinen Gipfel zu erstürmen und von hoch oben herab das überwältigende Panorama des Canyons zu genießen, finde ich mich flugs auf dessen Kuppe wieder, bevor es mir noch richtig klar geworden ist.

...

Nur ich, ich war noch nie da. Leider.

Lieben Gruß von
mir
 
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