Grenzwert

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B

Burana

Gast
So gehts auch, ja.
Gegenvorschlag: für Texte in der 'grenzwertigen' Art gibts ein Forum hier: Experimentelles.
Burana
 
Es geht um "lit. Standards",

und diese sind, da es keine anderen wirklich triftigen Begründungen dafür gibt, bei "Literatur" eher Vorurteile aus Konvention.
Aus Gewohnheiten und Erziehungen heraus glaubt man zu wissen, wie "Lit." in etwa auszusehen habe, und was dazu nicht passt, wird halt unkritisch verworfen.

Schade, dass ein Text wie hier nicht nur "literarisch" abgwertet wird, sondern dass auch die möglichen literarischen Implikationen aus dem Zusammenhang nicht begriffen werden können.

Es ist ja doch sehr erstaunlich, dass wir alle auf Gedeih und Verderb in einer völlig technisierten Welt leben, von ihr gnadenlos abhängig sind, und damit auch von den mathematischen und theoretischen Grundlagen, dass diese realen Lebensbedingungen aber (in BRD) in unserer normal-Literatur (und sogar auch Philosophie) praktisch kaum vorkommen,

denn diese beiden genres sind irgendwo zwischen selbstbescheidender Scheuklappe, einem verquasten Neoromantizismus und dem Nirgendwo des Postmodernistischen und Relativistischen in einer Art von selbstzufriedenem und sich selbst stets neu-generierendem Leerlauf scheinbar "verdampft".
Damit sind dann "Literatur" (und Phil.) aber nur noch Selbstbestätigungen des StatusQuo, Drogen für Realitätsfluchten, Angstabwehren gegenüber Allem, was seit fast 250 Jahren nun Realität ist = Vernebelung statt Aufklärung.

Sprache dient dem Weltbegreifen und nicht der Weltverklärung, und zu "Welt" gehört alles, was in Lebenswelt enthalten ist, und für heute ist ganz wesentlich auch das Naturwissenschaftliche darin enthalten.

Natürlich fehlen obigem, mathematischen Text Stil- und Inhalts-Elemente verbreiteter literarischer Richtungen. Das narrative Element fehlt zB darin, und die abgehandelten Objekte sind streng-abstrakte. Der Text ist auch kaum redundant. Außerdem fehlt die Darstellung der praktischen Konsequenzen des Abgehandelten, sodass unmathematische Leser entweder nichts verstehen und ihnen die Sache deshalb als unwichtig/wertlos/uninteressant erscheinen muss, oder sie den Text als Aufforderung begreifen könnten, sich halt Mathe-kundig zu machen und somit dem Abgehandelten im Text nachzuspüren.

Ein Text wie der Obige setzt nicht nur einen Leser voraus, der in der Lage oder zumindest potentiell bereit ist, ihn verstehend zu rezipieren, sondern auch einen Leser, der genügend Interesse hat, sich die möglichen Auswirkungen, Ableitungen, Bedeutungen des Abgehandelten selbst zu erarbeiten. Der Text hat also, so gesehen, einen ganz deutlichen Aufforderungs-Charakter zur intensiven und selbst-aktiven Mitarbeit.
Und dies mag teilweise die bereits-instinktive Ablehnung erklären, da Leser gewöhnlicher Literaturen sich gewohnheitsmäßig vorkauen lassen, statt selbst zu kauen ( = der Rosamunde Pilcher Effekt).

Es handelt sich hier halt um ein Stück "Fachliteratur", welches nur mithilfe eigenen, aktiven Mitdenkens wirklich rezipierbar wird. Ohne diese Eigenleistung eines Lesers bleiben solche Texte immer streng-hermetisch.

Heutzutage ist fast alles wirklich Bewegende Fachliteratur. Und umgekehrt: Was keine Fachliteratur ist, stellt eigentlich nur noch mehr oder weniger stochastisches Hintergrundrauschen dar, welches für das weitere, reale Geschehen (Ablauf der Entwicklungen gesellschaftlicher, politischer, erkenntnismäßiger Arten) kaum eine Rolle spielt.

(Voltaire, Heine, Tolstoi, Dostojewski, Tucholsky, Hesse, Grass, Böll, Marquéz .... waren und sind keineswegs schöngeistige Spinner, die Fantasmen literarisierten, nein, sie schreiben und schrieben über ganz reale Welt, und sie nutzten künstlerische Elemente nur zu diesem einen Zweck. Nicht erdachte Feuerwerke-um-zu-gefallen waren ihr Metier, sondern mithilfe künstlerischer Möglichkeiten herausgearbeitete Rasierklingen-scharfe Lebenswelt-bezogene Aussagen; Kritiken, Aufklärungen!)

Und wenn die uns überkommene und konventionell-verstandene "biedermeierlich"-verzwergte Literatur es zulässt, dass Fachliteraturen ihr die Inhalte wegnehmen, dann bleibt für sie selbst nichts mehr übrig, dann wird "Literatur" inhaltsleer und macht sich damit selbst entbehrlich.

Der heutige geistige Tiefstand in dieser Republik hängt genau damit ganz wesentlich zusammen. Vorbei die Zeiten, als man über Aspekte der Relativitätstheorie sich selbst an Kneipenstammtischen die Köpfe heiß grübelte, weil es Schriftsteller gab, die diese Fachliteraturen mithilfe künstlerischer Mittel in die Alltage hinein übersetzten.

Die heute betriebene vermeintlich "schöngeistige" Literatur erhitzt nicht die Gemüter, im Gegenteil, sie wird als Ablenkung vom Alltag, als Beruhigungsmittel und Schlaftablette gebraucht, ist insofern viel eher geistige Umweltverschmutzung als geistige Ernährungsmöglichkeit.

"Ich mache meine Erholungskur in den bestsellern von XY!"

Und es ist ein Irrtum zu glauben, dass man sich wenigstens doch "alt-literarisch" auf die Darstellung "des Schönen", die Bearbeitung von Ästhetiken zurückziehen könne, denn auch diese Komplexe sind längst ganz wichtige und sehr implikative Gegenstände wissenschaftlicher Bearbeitung (Sprachwiss., Semiotik, Neuro..., Verhaltensforsch., Biologie, Genetik, usw.). Die sich ständig erweiternden Kenntnisse daraus kann ein heutiger Künstler nicht einfach ignorieren, genau wie zu allen Zeiten zB Baumeister ja auch nicht die jeweils zu ihren Zeiten aktuellen Konstruktionstechniken und Materialkenntnisse ignorierten, sondern im Gegenteil, höchst aktiv nutzten und oft genug sogar an den Weiterentwicklungen selbst aktiv und bewusst mitarbeiteten.

Tolstoi, Dostojewski, Voltaire, Heine, Benn usw. literarisierten ihre realen Lebenswelten und deren Probleme, sie kamen zu Aussagen mithilfe künstlerischer Mittel als tools.
Wo aber ist bei uns hier zB die heute nach genau denselben Regeln zu erwartende und dringend benötigte Globalierungsliteratur?
ZB Voltaire übertrug Newtons Theorien ins Französische, diese literarisch gestaltend und ausgestaltend, zB mit Philosophie verknüpfend, und dies als Schriftsteller wiss.richtig und gültig.
Ein Luther eröffnete seiner Muttersprache und damit dem breiten Publikum völlig neue Weltalls geistiger Güter.
Wo sind die Literaten von heute, die Fachliteraturen mithilfe künstlerischer Mittel aufschließen, verarbeiten und so der breiten Masse zum allgemeinen Nutzen "übersetzen"?

Was glaubt ihr, was alle die oben genannten Herren heute für epochale "Werke" schreiben würden!
Und nicht einer davon würde sich damit zufrieden geben:

"Ach Ilsebill du bist so schön,
wie traurig,
alle Liebe muss vergehn"

und einen solchen Mist dann auch noch als "Kunst" behaupten.
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Waldemar, wie bekommst du das in der Kürze der Zeit so brillant hin? Ich staune wirklich.

Meine Zeit ist knapp, du hast ohnehin die wesentlichen Punkte exakt formuliert. Ich will nur noch an eins erinnern: Nach dem Ende der überwiegend von theologischen Perspektiven/Aspekten geprägten Geisteswissenschafterei übernahm die Literatur das Zepter in den diversen "Diskussionsrunden" der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Leider arteten diese Runden oft genug zu ermüdenden, einschläfernden, kirre machenden Schlafstunden aus...
Vielleicht kann man also den Satz, Religion sei Opium fürs Volk, aktualisieren: nun ward es die Literatur...

Ich schlage auch gleich noch eine Umbenennung der "Schöngeistigen Literatur" vor: Ich nenne sie eh seit je "dummgeistige".

LG

P.
 

NewDawnK

Mitglied
Was glaubt ihr, was alle die oben genannten Herren heute für epochale "Werke" schreiben würden!
Es ist nicht anzunehmen, dass sich die oben genannten Herren und ihre weiblichen Kolleginnen hinter angelesenem Schulwissen verschanzen würden.
Ich nehme an, die schlichte Absicht des Autors war, uns Leserinnen und Leser zu provozieren. Das dürfte ihm gelungen sein.

Schöne Grüße, NDK
 

Inu

Mitglied
Waldemar bist Du sicher, dass diese Formeln überhaupt Hand und Fuß haben oder braucht's das, Deiner Meinung nach, in diesem besonderen Fall auch nicht?

Ist bestimmt eine blonde Frage, aber ich hab da null Wissen und keine Ambitionen. Hab die restlichen Kommentare, auch Deine, übersprungen. :)

Gruß
Inu
 

Vera-Lena

Mitglied
Die Mathematik ist keine Naturwissenschaft. Man kann nichts unters Mikroskop legen und aus den besichtigten Dingen Schlüsse ziehen.
Die Mathematik ist mithilfe menschlicher Denkfähigkeit konstruiert und mit unumstößlichen Gesetzmäßigkeiten unterfüttert. Alles, was in diese Gesetzmäßigkeiten nach mehrfacher Überprüfung hineinpasst, gehört dann zu den mathematischen Formeln.
Etwas Neues in der Mathematihk entdeckt zu haben im PC-Zeitalter, ist ein Labsal für die Seele, ein wirklich erhebender Augenblick.

In der Literatur weiß der Autor nicht, welche Gesetzmäßigkeiten ihm einen Text suggeriert haben. Hat er nicht vor, etwas zu konstruieren, wogegen nichts einzuwenden wäre, sondern sagen wir mal, seine Seele sendet ihm Bilder oder Worte und gönnt ihm keinerlei Sendepause, bis er endlich ein literarisches Machwerk hervorgebracht hat, dann eröffnet sich die Frage: Was steht da eigentlich drin, welche Form hat er für welchen Inhalt gewählt und gehen Inhalt und Form gut miteinander zusammen, so dass diese Nähe eine Interpretation und ein Verständnis erleichtern? Diese Fragen können sich für den vom Text überraschten Autor genauso stellen wie für seinen Leser.
Hinzu kommt die Frage, vermag der Text im Leser etwas auszulösen? Ist man fasziniert, löst er Emotionen aus, sendet er durch den Wechsel von Konsonanten und Vokalen eine Melodie aus, macht er eine Mitteilung, die einen gerade betrifft oder sogar von großer Weite und Bedeutung getragen ist?

Für mich erschließt sich dieser Text von malashon folgendermaßen. Hier hat jemand die denkbar nüchternste Form gewählt, um einer Emotion einen Ausdruck zu geben.

Um die Grenzen geht es. Da ist jemand an eine Grenze gestoßen, und das wird schmerzhaft gewesen sein. Nun fragt er sich, wenn das, was jetzt folgt, mir sogar zwei Grenzen bescheren sollte, wie werde ich das überstehen. Vielleicht kann ich mir aber im vorhinein ausrechnen, dass es gar keine zwei Grenzen geben kann. Aber sieh, er konnte es nicht. Er kam zu dem Schluss, im Folgenden wird es sogar zwei Grenzen geben. Auf diese Weise hat er mit literarischen Mitteln seiner Angst einen Ausdruck verliehen.


Liebe Grüße von Vera-Lena
 

malashon

Mitglied
Das ganz oben ist ein Beweis. Und ich habe ihn hier veröffentlicht, weil ich ganz naiv glaubte, er könnte von der Meinung abbringen, in der Mathematik sei alles bloß Rechnen, Hintun und ein kühles etwas.
Dort ist eine Definition, was eine Folge überhaupt für ein Objekt ist, daraus wird eine Behauptung - mehr oder weniger - geschlußfolgert, wenigstens zum Ende bewiesen. Ganz sehr an den behandelten Objekten. Und eben, immer wieder, unter gewißer Hinsicht steht in diesem Text die Wahrheit. Es ist müßig irgendeine Arroganz an den Tag zu legen. Aber die Schönheit der Mathematik: Ich habe irgendwann dies von Ortega y Gasset gefunden:
" Man kann den Menschen nicht verstehen, wenn man nicht erkennt, daß die Mathematik aus derselben Wurzel entspringt wie die Poesie: aus der Gabe der Imagination."

Ich wollte niemanden provozieren oder vor seine Grenzen führen. Auch wenn es mich erstaunt, mit welcher Härte in diesem Forum ganz allgemein ein Urteil gefällt wird, so, als hätten manche eine Mauer gezogen, hinter der etwas Literatur ist und vor der alles in einen Abgrund stürzt.

Ein paar Tage zurück las ich eine Novelle. Die drei Falken von Bergengruen. Nein! Ich las sie meiner Freundin vor. Vielleicht ist das ja eine Bedeutung von Literatur.

Viele Grüße.

malashon

Nachschrift: Manche nicht-mathematische Auslegung ist wundervoll.
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo malashon,

danke für das Zitat von Ortega Y Gasset! Ja so ist es, ohne Vorstellung, ohne Vision, wird man in der Mathematik nichts entdecken und auch die Musik, dieses wundervolle Geschenk, wäre ohne Mathematik unvorstellbar.

Von Werner Bergengruen kann ich Dir noch "Das Buch Rodenstein" empfehlen, falls Du es noch nicht kennen solltest.Es sind Märchen, ich habe es als junges Mädchen gelesen. Irgendwann war es aus meinem Bücherschrank verschwunden, und ich habe es mir vor 2 Jahren noch einmal gekauft. "Die drei Falken" stehen da nicht drin, obgleich sich der Titel auch nach einem Märchen anhört.

Inzwischen habe ich das Buch bei amazon aufgestöbert. Danke!

Liebe Grüße und ein schönes Wochenende!
Vera-Lena
 
Dem kann ich mich nur anschließen:

Ich habe irgendwann dies von Ortega y Gasset gefunden:

" Man kann den Menschen nicht verstehen, wenn man nicht erkennt, daß die Mathematik aus derselben Wurzel entspringt wie die Poesie: aus der Gabe der Imagination."

Es ist sogar noch schlimmer, als er ahnen konnte, indem für einen Konstruktivisten wie mich ALLES aus der Imagination entspringt, wobei wir K. die "Imagination" ganz schlicht unter dem umfassenderen und seit Maturana/Varela auch technisch beschreibbaren Begriff "Autopoiese" subsummieren.
 



 
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