Greta

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An einem kalten Wintertag fuhr ein Schlitten, bespannt mit einem alten Pferd, deren dreckiges, zottiges Fell durch die Kälte noch mehr vom Körper abstand, über einen schmalen Pfad Richtung Dorf. Das Dorf , eine typische plattdeutsche Siedlung, war schon zu sehen, als der Kutscher, ein Mann deren Alter durch die dicke Winterbekleidung, nicht eindeutig einzuschätzen war, plötzlich das Fuhrwerk vom festen, gut ausgefahrenen Weg weglenkte und den nahliegenden Wald ansteuerte. Das Pferd, das den ganzen Tag in der Kälte unterwegs war und den Geruch des heimischen Stalles schon spürte, verlangsamte das Tempo, wieherte und versuchte die alte Route beizubehalten.
,,N-o-o" -brüllte der Mann und schlug mit der Peitsche über den knochigen Rücken des Tieres. Der Vierbeiner gehorchte, verließ die sichere Straße und stapfte in den losen Schnee. Eine Frau, die hinten im Schlitten saß, drehte sich um und schaute den Mann ängstlich, mit großen , dunklen Augen an. Sie sagte aber nichts. Als das Pferd sich endlich durch den bauchtiefen Schnee bis zum Waldstück durchgekämpft hatte, stieg Dunst, der sich wie eine Wolke um den Körper des Tieres gebildet hatte und stark nach Dung roch, in den kalten Himmel auf. Der Mann hielt hinter einem großen Busch, überzeugte sich, dass der Schlitten von der Straße nicht zu sehen war und kletterte vom Kutschbock. Er ging um den Schlitten herum und riss, ohne ein Wort zu sagen, die alte Pferdedecke unter der Frau weg und breitete diese auf dem Schnee aus.,, Du"- stammelte die Frau- ,, die Frauenärztin sagte wir sollten ein paar Wochen damit warten, ich bin doch eben erst niedergekommen". Der Hieb mit der Peitsche traf mit voller Kraft ihre, nur mit Baumwollstrümpfen bekleideten, Beine. Sie zuckte zusammen . ,, Und Greta ist allein mit dem Baby zu Hause" - dachte sie. Und noch bevor sie den Rock hochgeschoben hatte, packte der Mann sie am Arm und warf sie auf die Decke. Er drang mit Gewalt in sie ein, die Haut im Intimbereich, die während der Geburt aufgerissen war und langsam anfing zu heilen, sprang wieder auf und bereitete ihr große Schmerzen. Der Mann stieß immer wieder zu und bei jedem Stoß zischte er: ,,Ich entscheide wann es so weit ist und sonst niemand . Klar?" Als er dann endlich in sich zusammensackte, hoffte sie in Ruhe gelassen zu werden, wenigstens so lange bis sie zu Hause waren. Doch sobald er wieder das normale Atmen erlang, befahl er ihr sich umzudrehen und in die Knie zu gehen. Als sie fast ohnmächtig vor Schmerzen, anfing zu weinen, geilte er sich erst recht auf.
Zwei schwarze Raben, die in der Nähe auf einen Baum saßen, schauten neugierig zu und als die Frau, die Decke um den Leib geschlungen in den Schlitten stieg und das Pferd loszog, hoben sie ab, umkreisten mehrere Male den Schauplatz und erst dann ließen sie sich auf den durchwühlten Schnee nieder. Die rubinroten Flecken lockten die Aufmerksamkeit der Vogel an. Nach langem Hin und Her- dicht herangehen und wieder Abstand nehmen-wagten sie sich an die roten Perlen heran und pickten auf diese ein.

,,Gre-t-a" ein achtjähriges Mädchen eilt auf diese leise, kaum hörbare, aus der großen Stube kommende ,Stimme. Dann steht sie vor einem Bett, die Frau die darauf liegt, streckt ihre Hand aus und berührt Greta. Greta fühlt wie heiß diese Hand ist. Die Frau , die jetzt so hilflos daliegt ist ihre Mutter, der liebste und aller wichtigste Mensch für sie und ihre Geschwister und auch für das erst acht Wochen altes Schwesterchen. Wegen dem Schwesterchen hat Mama sie auch gerufen, die Kleine quengelt in der Wiege, sie will essen. Greta hebt das Bündel, das in einer warmen Decke eingepackt ist, vorsichtig aus der Wiege und trägt es zu Mama ins Bett. Das Kind umschießt, mit ihren kleinen rosigen Lippen hungrig die Brustwarze ihrer Mutter. Die Frau senkt den Blick, sie hat dunkles, welliges, zu einem Zopf geflochtenes Haar. Ihre Gesichtszüge sind ebenmäßig, die Haut schneeweiß, nur die Wangen glühen in einem ungesunden rot. Sie ist sehr hübsch. Als das Baby eingeschlafen ist, meinte die Mutter , dass Greta sich in Zukunft noch mehr um ihre Geschwister kümmern müsse, denn sie wisse nicht, was noch kommen mag. Greta verspricht ihr alles zu tun, versteht aber nicht warum ihre Mama so besorgt ist.

Greta ist im Stall, sie will Eier einsammeln. Seit dem Mama tot ist, kommt Oma jeden Tag vorbei und übernimmt für ein paar Stunden den Haushalt. Meistens kocht sie das Mittagessen und backt Brot. Heute kommt Oma nicht, heute muss Greta selbst kochen. Rührei soll es geben, Mama hatte ihr beigebracht wie man Kartoffeln brät, Rührei macht und Milchreis kocht.
Überall sind Fliegen, dicke Brummer surren und paaren sich an der Fensterscheibe. Das Fensterglas ist schmutzig und mit Fliegenkot überseht. Im Stall türmt sich der Mist, Papa hat hier schon lange nicht mehr saubergemacht. Er hat sich, nach dem Tod der Mutter verändert, wünscht sich , dass sie bei ihm auf den Schoß sitzt, streichelt ihre Beine, wobei er sie sonst immer wegstieß, so wie jetzt ihren kleinen Bruder. Das Baby Lili wohnt bei ihrer Tante, die Tante hat auch einen Säugling und genug Milch um auch Lili zu stillen.
Oma hat gesagt , dass Papa bald eine neue Mama ins Haus bringt, sie will aber keine neue Mama, sie will ihre Mama zurück haben. ,,Vom Himmel führt kein Weg auf die Erde"- sagt Oma. ,,Ob Baby Lili dann wohl auch wieder Heim kommen könnte?"-überlegt Greta.
Sie will gerade den Stall verlassen, da steht ihr Vater plötzlich vor ihr. Sein glasiger Blick mach Greta Angst, sie möchte bloß noch fliehen, er hält sie fest.
Und am Fenster surren und paaren sich die Fliegen.

Sabine hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Normalerweise geht es in der Spätschicht etwas ruhiger, als im Frühdienst zu, aber heute war alles anders gewesen. Zwei Notaufnahmen, zwei alte Heimbewohner mit Knochenbrüchen wurden eingeliefert, dann wurde Schwester Jutta plötzlich schlecht und Sabine musste sie, mit Verdacht auf Magen- Darm Infektion, nach Hause entlassen. Und so hatte sie ganz allein die Abendrunde auf der Station meistern müssen. Zwar war noch eine Auszubildende aus der Chirurgie zur Hilfe gekommen, aber viel konnte diese auch nicht bestreiten. Sie ist dann mit der Schülerin zu den ,,schweren Fällen" , dieser Begriff wird im Krankenhaus nicht gern gehört, aber er war so treffend vor zig Jahren formuliert worden, dass er immer noch Bestand hatte, gegangen. Bloß in die Sieben, zu der zeitweise verwirrten Patientin, ist sie dann doch lieber allein gegangen. In das Einzelzimmer Nummer Sieben wurden immer schwer kranke, aus therapierte Patienten untergebracht. Die Frau , die jetzt da lag, hatte einen Gehirntumor und bekam starke Schmerzmittel, Morphium, und war von Zeit zur Zeit nicht ansprechbar. Heute hatte sie anfangs einen voll orientierten Eindruck auf Sabine gemacht, aber als Sabine die Bettdecke der Frau zur Seite schieben wollte, um ihr bei der Körperpflege zu unterstützen, schrie die Kranke laut auf, packte das Oberbett und deckte sich damit bis zum Kopf hin zu. Später, als Sabine mit den Schmerztropfen zu ihr ins Zimmer kam, lag die Frau mit geschlossenen Augen da und bat sie doch endlich in Ruhe zu lassen. Erst dachte Sabine , dass diese Bitte ihr galt, aber als die Patientin mit großer Angst in der Stimme, anfing zu flehen:,, Papa, bitte nicht"-wusste Sabine , dass die Frau eine imaginäre Person vor sich hatte.
,,Vermutlich eine schwere Kindheit"- zeigte die Nachtschwester, die unbemerkt ins Zimmer gekommen war, auf die weinende Frau. ,, Nachts ruft sie oft jemand solle doch die Fliegen vom Fenster verscheuchen" fügte sie hinzu.
,, Lass uns mit der Übergabe beginnen, es gibt viel zu tun" schlug die Nachtwache vor, nahm Sabine beim Arm und führte sie ins Dienstzimmer.
Sabine stieg auf dem Wagen, sie hatte den ganzen Weg über die Frau aus der Sieben nachdenken müssen und war überrascht jetzt schon zu Hause angekommen zu sein. Sie schloss die Haustür auf, laute Musik dröhnte ihr entgegen. ,, Was für einen Wochentag haben wir heute?" überlegte sie. Durch den ständigen Wechseldienst von Früh auf Spät und umgekehrt war ihr das Gefühl für Freizeit etwas abhanden gekommen.
,,Freitag? Freitagabend vor dem freien Wochenende?"- Sabines Herz machte einen gewaltigen Sprung- "Hurra! drei Tage frei!"
,,Schatz" -rief Daniel aus der Küche- "wir kriegen gleich Besuch, ich hab schon alles fertig".
Sabine eilte ins Haus und für die Frau aus der Sieben war kein Platz mehr in ihren Gedanken.
 

Hans Dotterich

Mitglied
Sehr gelungen! Toll erzählt, die Bedrückung wird spürbar,wie das Ungeheuerliche in den ganz verschiedenen Zeiten und Erzählperspektiven immer wieder neu zu wirken beginnt, so, als könne man es niemals aus der Welt schaffen.

Grüße

Hans
 



 
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