Großhirnfaltung

T

Tabasco

Gast
Großhirnfaltung
Mein Name ist Florenz. Vom Beruf bin ich Schornsteinfeger. Ich mache Tag ein, Tag aus die selbe Arbeit. Auf Dächer klettern, putzen, Geld kassieren und nach Hause dackeln. Kein sehr erfülltes Leben. Mit dem sechzehnten Lebensjahr verließ ich die Schule um auf eigenen Füßen zu stehen. Ich hatte eine Vision. Unabhängigkeit! Jeden Menschen in meiner Umgebung wollte ich genau studieren und kennenlernen. Ich war damals der Meinung, dass es an mir selbst nichts Besonderes gäbe und es doch viel interessanter sei, andere Menschen zu kritisieren, anstatt sich selbst. Es kann auch sein, dass ich einfach nur eine Bestätigung dafür haben wollte, dass ich nicht anders bin, dass andere Menschen viel größere Macken haben als ich. Diese Bestätigung habe ich bis heute nicht bekommen. Na ja...jedenfalls bin ich deshalb Schornsteinfeger geworden.
Viele sind über die Zeit gestorben. Die alten Nachbarn und so. Neue Nachbarn kamen. Junge Nachbarn! Rabauken! So wie ich einst einer war. Mir wurde langsam bewusst, dass ich älter werde. Ich sah, wie die Neuen auf der Couch der Dahingeschiedenen tanzten und Partys feierten. Einen Tages ging ich an einem Haus vorbei, in dem gerade eine WG gegründet wurde. Sperrmüll stand vor der Tür. Müller´s alter Fernseher, Müller´s Schrankwand, Müller´s Küchen- und Wohnzimmertisch, Müller´s Garderobenleuchte und Müller´s alter Ost-Kühlschrank. Alles stand da rum, bereit für die Müllhalde, bereit um verbrannt zu werden! Am nächsten Tag stand ein Möbelwagen vor dem Haus. Alles neu. Edles Design. Modern, in aggressiven Farben. Eine Woche später war die spröde Fassade des Hauses hellgrün gestrichen, das Dach neu geziegelt und der Gartenzaun erneuert. Mir war, als würde von nun an etwas fehlen. Etwas Neues kam auf mich zu. Die Abenteuerlust packte mich. Wer waren diese neuen Leute? Wo kommen sie her? Was studieren oder arbeiten sie? Ich weiss, dass es jetzt wahrscheinlich so aussieht, als würde ich über Außerirdische vom Jupiter reden, aber genau diese Fragen, die jeden anderen nur bei der Ankunft von kleinen grünen Männchen interessieren, beschäftigten mich. Das Kleingeistige eben. Bis heute habe ich kein Wort mit ihnen gewechselt, außer: "Guten Morgen", "Ich komme zum Schornstein reinigen", "Das macht dann...DM" und "Auf Wiedersehen, bis zur nächsten Ruß-Kruste!"...
Irgendwann kam ich zu dem Entschluß, dass trotz neuer Bewohner und neuer Fassade, das Haus trotzdem immer das selbe bleibt. Die Dächer bleiben gleich, genauso wie die Schornsteine. Oft liege ich abends im Bett und denke mir was wohl wäre wenn es irgenwann keine Schornsteine mehr gibt. Wenn andere Rauchabsaugsysteme zum Standart eines jeden Hauses gehören! Was dann? Vielleicht bin ich bis dahin schon tot. Ich hoffe es... Vor zwei Wochen passierte zum ersten Mal seit drei Jahren mal wieder etwas Ungewöhnliches in meinem Leben. Etwas, dass nicht zu meinem geplanten Tagesablauf gehört. Ich wurde krank. Bauchschmerzen. Wahnsinnige Bauchschmerzen. Ich tue viel für meine Gesundheit. Gerade in meinem Beruf ist es wichtig, dass man mindestens einmal am Tag spazieren geht um frische Luft zu atmen. Deshalb ging ich auch sofort zum Arzt. Dr. Huber. Ich kenne ihn seit zwanzig Jahren. Er ist einer meiner besten Kunden, denn er hat noch eine Kohleheizung, Da entsteht der meiste Ruß. Er ist ein guter Arzt, in der ganzen Stadt bekannt. Um so mehr wundert es mich, dass er noch keine Öl- oder Gasheizung hat. Aber einen Kamin hat er. Der macht auch schön viel Ruß!


Na ja, auf jeden Fall besuchte ich ihn dann mit meinen Magenkrämpfen in seiner Praxis.Da er mich gut leiden kann, musste ich überhaupt nicht lange warten, obwohl das Wartezimmer gerammelt voll war.
Tja, Beziehungen muss man haben.
Er untersuchte mich. Von Kopf bis Fuß. Dann stellte er ein intellektuelles "hmmm..." in den Raum. Er bat mich, noch ein wenig im Wartezimmer zu verweilen bis die Röntgenaufnahmen fertig seien. Zehn Minuten später rief er mich wieder zu sich. In diesen zehn Minuten hatte ich in einem Magazin geblättert. Ein Wissenschaftsmagazin. Dort wurde von sogenannten "Macro-Sonden" berichtet, die im Leib eines Menschen heranwachsen wenn die richtigen Bedingungen gegeben sind. Wenn man also sein Leben völlig ruhig dahin lebt, ohne Stress und Hektik und man sehr gesund lebt, dann kann es passieren, dass sich einzelne Chromosomen so verbinden, dass einige kleine ungebetene Untermieter im Körper heranwachsen. Diese "Macro-Sonden" sind nicht etwa gefährlich. Im Gegenteil. Sie wollen dir nur Gutes tun. Sie lassen dich Sachen sehen , die du dir wünschst, lassen dich Sachen hören die du willst, lassen dich Dinge riechen so wie du sie riechen möchtest und lassen dich Sachen so schmecken wie du sie am liebsten magst. Sie passen sich deinen Stimmungen an. Ob du traurig, glücklich, müde, hyperaktiv oder mies drauf bist, die "Macro-Sonden" lassen dich alles so wahrnehmen wie du dich fühlst. Sehr beängstigend. Weiter stand da, dass man, wenn "Macro-Sonden" entstehen, starke Magenbeschwerden bekommen kann. Im Ausnahmefall Durchfall mit Blut. Igitt! Blödsinn, war mein erster Gedanke aber ein kleines Kribbeln spürte ich schon, als ich dann zum zweiten Mal aufgerufen wurde. Der Artikel ging eigentlich noch weiter aber da hörte ich schon meinen Namen durch die Lautsprecheranlage des Wartezimmers schallen. Im Lesen war ich sowieso nie der Schnellste, obwohl ich mir zu Hause oft mal ein Buch schnappe und ein bisschen darin lese. Nie allzu viel. Immer so zwei bis drei Seiten. Wenn ich das konkret jeden Abend durchziehe habe ich ein Buch in zwei bis drei Monaten ausgelesen...
Na ja, ich wurde also wieder aufgerufen um die Röntgenaufnahmen zu begutachten, gemeinsam mit Dr. Huber. Die Tür zum Sprechzimmer stand offen, also spazierte ich hinein. "Und Herr Doktor, wie sieht´s aus?", fragte ich leicht verschmitzt, besorgt und gespannt zugleich. "Sie? Sie sind doch noch gar nicht dran. Ich hatte Frau Gülde aufgerufen. Nicht Sie! Bitte gedulden Sie sich noch zwei Minuten. Die Aufnahmen sind sowieso noch nicht fertig!"... Was ging hier vor? Ich hatte eben doch wohl ausdrücklich meinen Namen im Lautsprecher gehört! Hundert prozentig! Ich hatte keine Erklärung dafür. Und taub war ich ja nun wirklich noch nicht. Ich gebe zu, dass die Namen immer etwas knackend durch die Boxen kamen, aber man versteht eigentlich immer ganz gut. Schließlich hörte ich ja auch bestens worüber sich das Ehepaar zwei Plätze weiter unterhielt. "Wieso das wohl so schnell ging...? Wird aufgerufen, geht rein, is zwei Sekunden drin und kommt wieder raus", hörte ich es tuscheln. Redeten die beiden etwa über mich? Sehe ich etwa aus wie eine Frau? Man hätte sich doch wohl denken können, dass ich den Namen falsch verstanden habe. "Ist doch egal Liebling. Dann müssten wir doch jetzt bald dran sein!", erwiderte ihr Ehemann. Ich kannte die Beiden irgendwo her. Ich dachte scharf nach bis ich drauf kam! Die beiden waren neu eingezogen, in das Haus von gegenüber. Das Haus das früher mal Familie Dekner gehörte. Wie die Neuen heißen, wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht. Es wollte mir einfach nicht einfallen. "Ich und mein Namengedächtnis", dachte ich mir als der Lautsprecher zu knacken begann. Der gesamte Warteraum starrte auf die Box in der linken Ecke der Decke. Die Box aus der eben noch irgendein bescheuertes Lied aus den 80´ern rauschte.


Noch ein Knacken. Dann folgte die Stimme der Schwester: "Frau Gülde bitte Raum 3. Frau Gülde bitte!" Das junge Ehepaar neben mir erhob sich. "Komm Schatz wir sind dran!" Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Wie war das möglich? Hatte Dr. Huber mich völlig vergessen? Gab es zwei Frau Güldes´s hier? So hieße also die neuen Nachbarn! Ich wurde bleich und musste plötzlich wieder an die Macro-Sonden denken. Es musste eine logische Erklärung dafür geben. Das beste wäre, dachte ich mir, wenn ich einfach ins Sprechzimmer gehen und nachfragen würde. Dazu gehörte Mut. Vielleicht würde ich mich völlig lächerlich machen. Ich atmete tief durch. Noch einmal. Und noch einmal. Ohne weiter darüber nachzudenken stand ich auf und bewegte mich in Richtung Sprechzimmer. Mindestens fünfzehn Augen starrten auf mich. Im schnellen Schritte schreitete ich ander Repzeption vorbei und sauste den Gang hinunter, als ich am Ende einen Mann erblickte der mir entgegen kam. Er lief im gleichen Tempo wie ich. Er kam näher auf mich zu, genau so wie ich auf ihn. Ich schaute auf den Boden, um ihm nicht ins Gesicht gucken zu müssen. Klock, klock...ich hörte seine Schritte..oder meine?...oder beide? Ich sah seinen Schatten am Boden...oder meinen?...oder beide?
Der Gang war schmal. Wohl oder übel musste ich meinen leichenblassen Kopf heben um ihn nicht umzurempeln. Ich hob also schnell den Kopf und wollte an ihm vorbei gucken. Doch mein Blick blieb an seinen Klamotten, an seinen Schuhen, an seinem Gesicht und seinen Augen kleben. Es war ein genaues Abbild meiner selbst! Ich riss die Augen mundweit auf. Er auch. Ich brachte kein Wort über die Lippen. Er auch nicht. Ich drehte mich um und rannte schnell wie nie den Gang wieder hinauf. Er rannte wieder abwärts. Ich riss die Tür auf und warf sie knallend hinter mir zu. "Hallo,...Sie..Sie haben ihre Jacke vergessen!"... Ich rannte bis nach Hause! Ohne Pause. Es sind maximal 800 Meter, aber für mich ist das schon ein ganz heftiges Stück zu rennen. Ich legte mich ins Bett und wartete auf den sicheren Schock-Tod. Aber er trat nicht ein... Auch jetzt noch, fast zwei Wochen später liege ich immer noch im Bett. Ich stehe nur noch auf um zu Pinkeln oder was zu Essen. In den letzten zwei Wochen hat sich mein Bett sieben Mal verändert. Mal habe ich ein Himmelbett, mal ein sperriges Holzbett, mal eine übergroße Babywiege und manchmal auch ein königliches Gemach, je nach Wetter und Temperatur. Immer wenn ich vom Pinkeln zurückkomme, muss ich damit rechnen ein anderes Schlafzimmer vorzufinden. Das macht mir Angst. Mir bleibt nichts weiter übrig als hier zu liegen und alles aufzuschreiben während ein Wort permanent durch meinen Kopf schwirrt:
"Macro-Sonden"!!!

Tabasco (1999)


(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
Kommentare und Aufrufzähler beginnen wieder mit NULL.)
 



 
Oben Unten