Großstadtnovelle

Esther Schwarz

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Eine junge Studentin und ein älterer Dozent begegnen sich an einem Abend in der Stadt. Ein gemeinsamer Weg, ein Zögern, ein Blick – und ein Moment, der sich zwischen zwei Lebensphasen spannt.


Großstadtnovelle


Sie war gekommen, um zu studieren, sich weiterzubilden, denn nach ihrem Abitur schloss sie eine Ausbildung ab. Auf die Frage, warum sie nicht gleich mit dem Studium begann, antwortete sie stets: „Diese Zeit habe ich benötigt, um zu wissen, in welche Richtung mein Weg gehen soll.“
Als sie vor knapp einem Jahr aus der beschaulichen Lüneburger Heide nach München zog, fühlte sie sich wie auf einem anderen Kontinent. Die hohen Häuser schienen sie einzuengen und die Miete für ihr kleines Apartment war viel zu hoch – es blieb kaum Geld zum Leben übrig. Und dann hinterließen die unfreundlichen Menschen, die mit einem kaum verständlichen Dialekt auf ihr „Guten Tag“ antworteten, ein Gefühl des Unwillkommenseins. Aber dies änderte sich schnell, als sie in das erste Semester startete. Ihre Kommilitoninnen waren aufgeschlossen und herzlich, zogen sie durch das Schwabinger Nachtleben und so fand sie schnell Anschluss. Das erste Jahr flog schnell vorüber. Sie wurde zu einer echten Münchnerin, und sie verstand, warum so viele blieben.
Zu Beginn des dritten Semesters gab ein Dozent eine Willkommensparty. Er wohnte in einem kleinen Vorort der bayerischen Landeshauptstadt und hatte von einem Bekannten ein kleines Festzelt geliehen. Gefühlt hatte sich die halbe Universität hier versammelt, brachten Grillfleisch, Salate und gute Laune mit – genug für ein fröhliches Einstandsfest für die Erstsemester.

Als er die Musik und das Lachen der vielen Menschen aus dem Festzelt hörte, wäre er am liebsten wieder umgekehrt. Zurück nach Hause, in seine kleine Wohnung, und sich irgendeine Comedyserie aus längst vergangener Zeit ansehen. Aber er hatte jemandem versprochen, zu kommen, sich wenigstens für eine Stunde einmal nicht mit Captain Picard, Michael Knight oder dem A-Team zu beschäftigen.
Nun lebte er schon seit drei Jahren allein und es war für ihn immer noch ein Kontrast zu den zwanzig Jahren davor. Es traf ihn unerwartet wie ein Blitz, als seine Frau ihm offenbarte, dass sie einen anderen Mann liebte und zu ihm ziehen würde – raus aus dem gemeinsam gebauten Haus. Kurz darauf die Scheidung – endgültig, der nächste Schlag ins Gesicht. Aber er sank noch tiefer, als ihm sein Freund und Anwalt erzählte, dass seine Ehefrau bereits seit über fünf Jahren mit dem anderen Mann zusammen war. Oft stellte er sich die Frage, wie blind er gewesen sein musste, besonders als seine älteste Tochter wie selbstverständlich seine Lage kommentierte: „Ihr habt euch einfach auseinandergelebt.“
„Auseinandergelebt …“, grübelte er nächtelang, „wie können sich zwei Personen auseinanderleben, wenn der eine es gar nicht merkt, was direkt vor seiner Nase passiert? War ich ein schlechter Ehemann? War ich langweilig? Routiniert? Gleichgültig?“
Er betrat das Festzelt und bewegte sich langsam durch die Menge, grüßte hier ein bekanntes Gesicht, wechselte dort ein paar höfliche Worte, ohne wirklich bei sich zu sein. An der Theke reichte ihm ein Student eine Flasche Bier. Eigentlich trank er lieber Wein, doch an diesem Abend wollte er etwas anderes, etwas, das nicht nach seinem alten Leben schmeckte.
Neben ihm bestellte eine junge Frau eine Weinschorle. Sie lächelte ihn an, und er erwiderte das Lächeln, überrascht davon, wie leicht es ihm fiel. Sie erkundigte sich, ob er ebenfalls von der Universität sei, was er bestätigte und erklärte beiläufig seine Fachgebiete. Sie meinte, sie hätte sich jemanden aus den Geisteswissenschaften anders vorgestellt, weniger … bodenständig. Er merkte, wie ihn dieser kleine Seitenhieb amüsierte. Als er sich nach ihrem Lehrstuhl erkundigte, stellte sie klar, dass sie noch studierte. Für einen Moment überlegte er, ob er das Gespräch abbrechen sollte, und er spürte, dass auch sie zunächst auf Abstand bedacht war. Doch sie blieb, und nach und nach erzählte sie von den Hürden ihres Studiums, von dem, was sie beschäftigte.
Er hörte zu, erst aus Höflichkeit, dann aus echtem Interesse. Irgendwann sprach er über eine Forschungsarbeit, an der er seit Wochen festhing, und sie gab ihm einen Gedanken, auf den er selbst nie gekommen wäre. Ein kleiner Impuls, aber er spürte sofort, dass er etwas in ihm löste.
Später setzten sie sich. Er bemerkte, wie aufmerksam sie ihn betrachtete, wie sie auf seine Worte reagierte – manchmal nachdenklich, manchmal mit einem verschmitzten Lächeln. Am liebsten war ihm ihr Lachen, offen, warm, ohne Berechnung. Als er zur Theke ging, um ihr ein neues Getränk zu holen, überkam ihn der flüchtige Gedanke, sie könnte verschwunden sein, wenn er sich umdrehte, wie dumm er dann mit einer Weinschorle da stünde. Doch sie saß noch an dem Tisch und sah ihm nach. Er fühlte eine unerwartete Erleichterung.
Im Laufe des Abends eckte sie immer wieder an den kleinen Unterschieden ihrer Welten an – ein Film, den er als Klassiker bezeichnete, war für sie eine Antiquität aus grauer Vorzeit, oder eine Band der Achtziger, an der seine Jugenderinnerungen hafteten, war für sie so fern wie für ihn einst die Beatles. Der Altersunterschied blieb präsent, aber er störte die beiden nicht. Denn unerwarteterweise bereicherten diese Unterschiede ihre Gespräche.
Während sie ihm zuhörte, glitt ihr Blick zu seinen Händen, die ruhig die Flasche drehten, als würden sie versuchen, etwas in Bewegung zu setzen, das sich bereits im Fluss befand. Dabei registrierte sie scheinbar beiläufig, dass er keinen Ring trug – ein Detail, das in ihrer Generation kaum noch etwas bedeutete. Sie verfolgte seine Lippenbewegungen, seine Mimik, die kleinen Falten an den Augen, die sich bildeten, wenn er lachte, und obwohl er ihren Blick zu spüren schien, änderte es nichts an ihm.
Er fragte sich, ob er in ihrem Alter je so offen gewesen war, so unbefangen und gleichzeitig so respektvoll. Sie ließ ihn in ihre Welt blicken, ohne sich aufzudrängen, und er merkte, wie wohltuend es war, für einen Abend nicht an Schulden, Gütertrennung oder das stille Leben in seiner Wohnung denken zu müssen.
Als es längst dunkel war und das Fest sich langsam lichtete, spürte er, wie sie immer noch an seiner Seite bleiben wollte, aufmerksam und zugewandt. Irgendwann wagte er etwas, das er sich sonst nie erlaubt hätte: Er erzählte, dass er für die laufende Saison ein Theaterabo für zwei Personen besaß und dass er sich fragte, ob sie Lust hätte, ihn zur Medea zu begleiten.
Sie wirkte überrascht, wollte wissen, ob seine Begleitung verhindert sei, und er merkte, wie in ihm ein alter Reflex aufstieg – der Wunsch, nichts von dem zu erzählen, was hinter ihm lag. Doch durch diesen Moment mit ihr, in dem sie offen und vertraut miteinander sprachen, rutschte es ihm heraus, beinahe wie eine Nebensächlichkeit, dass das Abo noch aus einer Zeit stamme, die längst vorbei sei, und dass er es nach der Scheidung nie gekündigt habe.
Sie lehnte sich ein Stück zurück, als sie verstand, dass dieser Satz mehr bedeutete, als er preisgeben wollte. Für einen Augenblick fühlte sie sich ungeschickt, weil sie nachgehakt hatte, doch nahm sie diesen leisen Spott wahr, den er über sich selbst legte, und begriff, dass er nicht Mitleid suchte, sondern Abstand zu einer Geschichte, die ihn lange beschwert hatte.
Er lachte darüber – über das Abo, über die Absurdität, dass er es jahrelang weiterlaufen ließ, als könnten zwei Theaterkarten etwas festhalten, das längst verloren war. Und während er lachte, wurde ihm klar, wie sehr diese kleinen Überbleibsel ihn für Neues blockiert hatten.
Sie spürte eine Befreiung in seinem Lachen und als sie sich schließlich für den kommenden Mittwoch vor dem Residenztheater verabredeten, war es kein höfliches Versprechen, sondern ein stilles Eingestehen, dass dieser Abend etwas in Bewegung gesetzt hatte.


Was dachte er sich nur dabei, dieses junge Ding einzuladen? Sie war halb so alt wie er, schätzte er. Man würde sie für Vater und Tochter halten, wenn sie zusammen unterwegs waren.
„Sie ist ein reizendes Mädchen, das an Kultur interessiert ist. Ich freue mich auf ihre Begleitung“, sagte er sich, vielleicht um sich zu beruhigen, vielleicht um sich zu entschuldigen.
Mit einer Studentin ausgehen – er hätte nie gedacht, dass er einmal zu denen gehören würde.
„Aber ich habe doch gar keine Hintergedanken, die irgendwie unsittlich wären“, murmelte er, während er sich im Spiegel betrachtete, das Gesicht voller Rasierschaum. Doch statt des jungen, energiegeladenen Mannes, den er zu sehen hoffte, blickte ihm jemand entgegen, der durch den weißen Schaum noch älter wirkte.
Vielleicht sollte er sich gar nicht rasieren, damit es nicht so wirkte, als würde er sich für sie herausputzen. Aber ins Theater konnte man auch nicht ungepflegt gehen. Also setzte er die Klinge an.
Ob sie überhaupt ahnte, was sie in ihm ausgelöst hatte? Dieser Gedanke traf ihn unvermittelt.
„Also doch Hintergedanken“, stellte er fest und sah sich resigniert im Spiegel an.
„Ja mei, dann ist es halt so.“
Der Gedanke machte ihn seltsam leicht. Er musste sich nicht verstecken, schon gar nicht vor sich selbst. Was war denn schon dabei? Warum sollte ein Mann sich nicht in eine junge Frau verlieben dürfen?
„Alles nur Getue.“ Bestärkte er sich, als er das Gesicht abtrocknete.
In den fünf Tagen bis zu ihrem Treffen hatte ihn eine stille Unruhe begleitet. Keine fiebrige Vorfreude, eher dieses leise Ziehen, das jeden Gedanken durchdringt.
„War es richtig, sie einzuladen?“, fragte er sich mit gefalteten Händen vor dem Mund.
„Wie konnte ich nur?“, schüttelte er den Kopf.
„Das wird ein wundervoller Abend werden!“, freute er sich, als er sein Hemd bügelte, und dabei stellte er sich immer wieder vor, wie sie aussehen würde, ob sie noch dieselbe Wärme ausstrahlte wie an jenem Abend im Festzelt.
Er nahm sich vor, nichts zu erwarten, nichts zu planen, den Abend einfach geschehen zu lassen. Doch immer wieder schwelte die Angst, ob sie überhaupt kommen würde. Ob sie es sich anders überlegt hatte.
„Ich mach mich doch lächerlich.“
Als er die Wohnungstür hinter sich schloss, zögerte er. „Jetzt geh halt“, sagte er leise zu sich selbst. „Mehr als schiefgehen kann’s nicht.“
Und trotzdem hoffte er.


Ob er wohl bemerken würde, dass sie sich extra neu eingekleidet hatte?
„Wahrscheinlich nicht“, sagte sie, während sie sich das neue Oberteil an den Körper hielt und sich im Spiegel betrachtete. Er kannte ihre Garderobe ja nicht – woher sollte er wissen, dass alles neu war und sie ein kleines Vermögen gekostet hatte.
„Hoffentlich ist es nicht zu aufdringlich“, murmelte sie, während sie vorsichtig die Etiketten entfernte. „Hoffentlich bin ich nicht zu aufdringlich.“
Sie ertappte sich bei Gedanken, die ihr selbst so pubertär vorkamen. Immer wieder sah sie vor sich, wie er ihr gegenüber gesessen hatte – die feinen Lachfalten um seine Augen, die Art, wie er die Flasche gehalten hatte, fest und doch ruhig, als wäre ihm nichts so schnell aus der Hand zu nehmen. Diese kleinen Details hatten sich in ihr festgesetzt, stärker, als sie zugeben wollte.
Vielleicht lag es daran, dass alles neu war – nicht die Situation oder die Aufregung vor einem Date, sondern die Möglichkeit, dass dieser Abend etwas verändern könnte. Und doch war ihr klar, dass er nie etwas Ernstes mit ihr anfangen würde.
„Ich bin doch viel zu jung für ihn“, sagte sie leise und versuchte, den Gedanken an eine gemeinsame Zeit wieder aus dem Kopf zu schlagen.
Seit Sonntag war sie damit beschäftigt gewesen, ihre kleine Wohnung auf Hochglanz zu bringen. Frische Bettwäsche, neue Handtücher, alles sauber – sauberer, als wenn ihre Eltern zu Besuch kamen. Sie wusste selbst nicht, ob sie das für ihn tat oder für sich; vielleicht für das Gefühl, vorbereitet zu sein, falls der Abend sie näher zueinander führte, als sie sich eingestehen wollte.
Unzählige Szenarien gingen ihr durch den Kopf, wie der Abend verlaufen könnte. Ein Händeschütteln nach der Aufführung und jeder ging seines Weges. Oder vielleicht noch ein Glas Wein, um den Abend ausklingen zu lassen. Doch manche Vorstellungen kamen ihrem Körper so nah, dass sie verschämt wegsah, obwohl niemand im Raum war. Sie fand ihn anziehend, wollte ihm nahe sein, hoffte auf eine kurze Berührung.
Dienstags konnte sie die Verabredung kaum noch abwarten, und mittwochs überfielen sie plötzlich Zweifel, ob sie nicht zu viel in diesen Abend hineinlegte.
„Es wird eh nichts passieren“, versuchte sie sich einzureden, als könne sie die eigene Enttäuschung damit dämpfen, falls doch alles ganz harmlos bliebe.
Als sie aus der Straßenbahn stieg, dämmerte es bereits. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen über das holprige Pflaster zum Theatereingang hin. Und dann sah sie ihn. Er stand schon da.
Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihr, dass sie nicht zu spät war. Fünf vor halb. Er war zu früh. Sie auch.


Als er den Himmel betrachtete, der langsam in die Dämmerung glitt, spürte er ein Ziehen in der Brust. Angst – aber wovor? Davor, dass sie kommt? Oder davor, dass sie nicht kommt? Würde er allein ins Theater gehen? Und wenn ihn jemand sähe – allein? Und wenn er nicht allein wäre?
Er wusste selbst nicht, wovor er sich mehr fürchtete.
Dann sah er sie. Nur noch ein paar Schritte entfernt. Ihr Lächeln traf ihn wie ein warmer Stoß Luft. In diesem Moment wusste er, warum er solche Ängste gehabt hatte: Sie war schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Und er ahnte, dass es ihm schwerfallen würde, sich nicht hinreißen zu lassen, wenn sie ihm näher sein wollte.

Sie hingegen sah einen Mann im Anzug, der plötzlich völlig verändert wirkte – stattlicher als auf dem Fest, eleganter, mit einer aristokratischen Ruhe, die sie einschüchterte. Für einen Moment fragte sie sich, ob er nicht viel zu schön für sie war, zu sicher, zu sehr in seiner Welt. Vielleicht war es für ihn wirklich nur ein Theaterabend. Für sie fühlte es sich nach mehr an und die Angst vor einer Enttäuschung drängte sich wieder in den Vordergrund.

Als er ihr seinen Arm anbot, nahm sie ihn ohne Zögern. Es war nur eine kleine Bewegung, kaum mehr als eine höfliche Geste – und doch fühlte es sich an wie der Beginn von etwas, das sich bereits so leise angekündigt hatte wie der erste Akt des Stücks.
Eben noch hatte er sich auf der Treppe nervös nach Bekannten umgesehen, doch jetzt galt seine ganze Aufmerksamkeit der Frau, die neben ihm Platz genommen hatte. Alles andere, selbst die Aufführung, rückte mit einem Mal in den Hintergrund.
In der Pause reichte er ihr ein Glas Prosecco und sie sprachen über das griechische Drama. Sie meinte, dass sie klassische Inszenierungen bevorzugte, aber auch modernere Interpretationen reizvoll fand. Dabei erwähnte sie, fast nebenbei, dass sie Senecas Medea erst im vergangenen Semester für ein Seminar bearbeitet hatte. Während sie das sagte, wurde ihr plötzlich der kleine Stich bewusst, der sie an den Abstand zwischen ihren Lebenswelten erinnerte.
Er nahm eine kleine Regung in ihrer Haltung wahr, ein kaum merkliches Zurückweichen – die Angst, dass der Altersunterschied eine Grenze sein könnte, die sie nicht überschreiten durfte. Auch in ihm schwankte noch alles zwischen Zurückhaltung und Zulassen, zwischen dem Schutz vor alten Wunden und dem Mut für eine neue Möglichkeit. Doch seine größte Sorge galt längst nicht mehr ihm selbst, sondern ihr: Wenn er sich da in etwas verrannte, würde er ihr etwas nehmen, das sie später bereuen könnte?

Als der zweite Teil begann, saßen sie wieder nebeneinander. Er spürte ihre Nähe, eine leise Wärme an seinem Arm. Mehrmals wollte er seine Hand bewegen, doch er traute sich nicht. Bis er schließlich doch den Mut fand – oder die Unruhe zu groß wurde.
Seine Finger berührten ihre, nur ein Hauch.
Doch sie erwiderte den Druck, langsam, fast zögerlich, als wolle sie ihm Zeit lassen, sich sicher zu fühlen.
Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er atmete tiefer, um nicht rot zu werden.
Sie sah kurz zu ihm, lächelte kaum merklich – ein kleines Zeichen, dass diese Berührung willkommen war.
Und während Medea ihre Kinder fraß und auf der Bühne alles zertrümmert wurde, was sie und Jason sich einst aufgebaut hatten, spürte er, wie eine Last von ihm abfiel. Das Schlimmste lag hinter ihm. Und plötzlich war da nur noch die Wärme ihrer Nähe, nur die Hände, die sich berührten – ein winziger Punkt Kontakt, der die leise Möglichkeit versprach, dass dieser Abend mehr sein durfte als eine einmalige Begegnung.

Die Luft war kühl geworden, der Himmel sternenklar. Schweigend verließen sie das Theater, lösten sich nur langsam aus der Menge, die es ihnen mit ihren Blicken nicht gestattete, sich wieder an den Händen zu nehmen.
Als ihre Tram vorbeifuhr, stöhnte sie leise, aber hörbar auf.
„War das … deine?“, fragte er und war gleichzeitig erschrocken, dass er sie duzte – durfte er dies?
„Ja. Die nächste kommt erst in zwanzig Minuten.“ Vielleicht lag in ihrer Stimme ein Hauch Wehklagen – die leise Angst, dass dieser Abend nun zu Ende ging.
„Wir können ja ein Stück vorlaufen, wenn du willst.“
Sie nickte, ein wenig zu schnell. „Gern.“
Sie gingen nebeneinander her, langsam, fast wie im Gleichschritt.
Immer wieder streiften seine Finger ihre, ob absichtlich oder nicht, konnte sie nicht sagen. Schließlich verhakten sich ihre Hände, erst zögerlich, dann fester. Ihr Lächeln bestätigte ihm, dass es richtig war.
Die nächste Haltestelle ließen sie hinter sich.
Vor ihnen lag das Maximilianeum. Still und hell erleuchtet hob es sich gegen den dunklen Himmel ab, als wollte es nicht Teil dieser modernen Welt sein. In der Nacht wirkte der monumentale Bau wie ein antikes Relikt, dessen Bögen schwarze Schatten über die Fenster legten – wie ein Vorhang am Ende jener Tragödie, deren Zuschauer sie gewesen waren.
„Gespenstisch“, sagte sie leise und hielt kurz inne.
Dabei löste er seine Hand aus ihrer und legte den Arm um ihre Schulter, eine schützende, beinahe selbstverständliche Geste.
Sie zögerte kurz, hob den Blick zu ihm – flüchtig, vielleicht prüfend –, dann legte sie ihren Arm um seine Taille und rückte näher an ihn heran.
Für einen Moment begegneten sich ihre Augen, kaum länger als ein Herzschlag, aber eindeutig. Sie gingen weiter, enger als zuvor, ohne dass es einer von beiden bewusst gewollt hätte.
Auf der Brücke blieben sie stehen. Der goldene Friedensengel leuchtete über den Baumkronen zu ihnen wie ein Wegweiser in der Dunkelheit. Sie sahen schweigend hinüber. Er spürte, wie ihr Kopf sich an seine Brust lehnte, wie ihr Arm sich langsam um ihn schloss. Er erwiderte die Umarmung, erst vorsichtig, dann fester.
Die Isar floss leise unter ihnen und für einen Atemzug lang schien die ganze Stadt eingefroren zu sein, um ihnen einen Moment für sich zu geben.
Vor ihrem Haus blieb sie stehen, als hätte der Weg sie ganz von selbst hierher geführt. Er wusste, dass dies der Punkt war, an dem sich ihre Wege trennen mussten, und doch durchzuckte ihn der Wunsch, einfach weiterzugehen – mit ihr, wohin auch immer. Er wäre mit ihr einmal um die Welt gelaufen, wenn er sie nur nicht loslassen müsste.
Leise, als ob ihr der Mut fehlte, fragte sie ihn: „Wenn du willst, kannst du oben auf ein Taxi warten … Es ist kalt … und es dauert sonst ewig.“
Er nickte, dankbar für den Vorwand, der keiner war. „Gern.“
Sie stiegen die Treppe hinauf, und in ihrer Wohnung führte sie ihn in ihr kleines Wohnzimmer. Ein altes Sofa war mit einem roten Tuch überworfen. Für sie war es ein liebgewonnenes Erbstück, ein Stück Vergangenheit, das sie „retro“ nannte. Für ihn wirkte es einfach alt – und gerade dieser Unterschied brachte beide zum Lächeln, ohne dass einer von ihnen etwas sagte.
„Ich mach uns einen heißen Kakao“, sagte sie, schon auf dem Weg in die Küche.
Ein Kindergetränk, dachte er. Etwas zum Aufwärmen, dachte sie. Vielleicht beides.
Kurz studierte er das Zimmer, flog mit seinem Blick über die Bücher im Regal, die Bilder der Familie an der Wand, dann kehrte sie zurück und setzte sich neben ihn. Die Tassen dampften, ihre Knie berührten sich, erst zufällig, dann nicht mehr. Sie tranken schweigend, sahen sich an, sahen wieder weg, fanden sich erneut im Blick des anderen. Etwas in der Luft verdichtete sich, warm und unsicher zugleich.
Er stellte seine Tasse ab, rückte ein wenig vor, dann wieder zurück. Seine Finger spielten am Rand des Sofas, als wüssten sie nicht, wohin. Sie beobachtete ihn, spürte sein Zögern, und plötzlich verstand sie nicht mehr, worauf er noch wartete.
Was für ein Signal braucht er denn noch? Er sitzt doch längst in meiner Wohnung.“
„Sie stellte ihre Tasse ab, atmete einmal ruhig ein und griff dann nach seiner Krawatte – langsam, aber entschlossen. Er hob den Blick, überrascht, doch nicht erschrocken. Einen Atemzug lang sahen sie sich an, bevor sich ihre Augen schlossen.

Der Kuss war warm und weich und schmeckte ein wenig nach Schokolade.
 
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petrasmiles

Mitglied
Liebe Esther Schwarz,

willkommen auf der Leselupe!

Ich muss gestehen, dass ich Deine Geschichte nicht komplett gelesen habe, weil die großen Absätze ständiges Scrollen bei mir verlangen und das ermüdet dann doch sehr, zumal natürlich schnell klar wird, worum es geht.

Ich finde aber, dass Du dieses Behutsame, Schüchterne, Ungewisse sehr schön in Worte gefasst hast, die eine Handlung vor dem inneren Auge entstehen lassen.

Hier will mir scheinen, dass Du die Sprechposition änderst,
Er sitzt doch längst in meiner Wohnung.
Sollte es nicht 'ihrer' sein?

Liebe Grüße
Petra
 

Esther Schwarz

Mitglied
Liebe Esther Schwarz,

willkommen auf der Leselupe!

Ich muss gestehen, dass ich Deine Geschichte nicht komplett gelesen habe, weil die großen Absätze ständiges Scrollen bei mir verlangen und das ermüdet dann doch sehr, zumal natürlich schnell klar wird, worum es geht.

Ich finde aber, dass Du dieses Behutsame, Schüchterne, Ungewisse sehr schön in Worte gefasst hast, die eine Handlung vor dem inneren Auge entstehen lassen.

Hier will mir scheinen, dass Du die Sprechposition änderst,

Sollte es nicht 'ihrer' sein?

Liebe Grüße
Petra

Hallo Petra,
vielen Dank für den Hinweis mit den großen Abständen. Da ich nicht wusste, wie das ganze dann in diesem Forum wirkt, habe ich den 1,5er Zeilenabstand übernommen, daher zieht sich das etwas arg. Ich versuche es zu korrigieren.

Und vielen Dank, für Deine lobende Kritik.

Schöne Grüße,
Esther
 

Shallow

Mitglied
Hallo @Esther Schwarz,

auch von mir ein herzliches Willkommen. Da das hier keine Textwerkstatt ist, lasse ich Einzelheiten beiseite und darf anmerken, dass du einen sehr einfühlsamen, sensiblen Stil hast, der mir sehr gefallen hat. Es gibt keine Pointe, aber eine schöne, behutsame Annäherung an eine beginnende Affäre, die du gut beschreibst, nicht überhastet, sondern in einem ruhigen Fluss. Sehr gern gelesen! Einen schönen Abend wünscht

Shallow
 



 
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