Großvater-Größe

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Für viele bin ich offenbar ein ausgesprochener Vatertyp und inzwischen (wegen meines fortgeschrittenen Alters) sogar die Verkörperung des typischen Großvaters. Zum Glück reicht es aus Altersgründen zum Urgroßvater noch nicht.
Nun gut, nahezu weiße Haare auf dem Kopf und der graue Vollbart sind unübersehbar passende Attribute.
Dennoch ist es eine Last, in Familiendramen fremder Kinder und Enkelkinder mitzuspielen, denn eigentlich bin ich ein friedliebender Mensch, der aus Angst vor Konflikten einsam bleibt und zugleich liebevolle Kontakte sucht.
Wenn ich genau hinhöre, bombardieren Frauen mich mit Vorwürfen enttäuschter Töchter gegen ihre Väter oder sie halten mich für den unzweideutig Schuldigen an psychischen und sozialen Behinderungen ihrer bemitleidenswerten Mütter, obwohl ich ihre Mütter überhaupt nicht kenne, geschweige denn, kennen lernen möchte.
Aber wehe, ich behaupte, wirklich nicht ihr Vater, geschweige denn, der ihrer Mütter zu sein. Dann stutzen sie und sehen mich verständnislos an, um mich danach unbeeindruckt noch heftiger zu beschuldigen, damit ich nicht die kleinste Chance wittere, dieser Schuldfalle zu entkommen.
Und schließlich fügen sie, kurz bevor sie mich stehen lassen, lakonisch hinzu: „Natürlich weiß ich, dass Sie nicht mein Vater sind“ oder „Klar ist mein Opa anders.“
Inzwischen sind jene Damen (leider) immer häufiger über ihre Lebensmitte hinaus. Doch ihre Vorwürfe unterscheiden sich kaum von denen einst jüngerer Frauen.
Manchmal halte ich diese Zusammentreffen für schicksalhaft, da ich zur unvermeidbaren Begegnung der besonderen Art erhoben werde und dadurch offensichtlich zu einer gewissen Bedeutung im Leben jener weiblichen Wesen gelange.
Doch zumeist gehen diese Konfrontationen für mich äußerst ärgerlich aus. Und manches Mal sind die Damen so überzeugend, dass ich den Kampfplatz mit erheblichen Schuldgefühlen räume und mich nachts in meinen Träumen vergeblich gegen weitere Anwürfe wehre.
Mein Revier sind Museumscafés. Dort nähere ich mich Damen, die mir zuvor beim Rundgang durch die Ausstellungsräume als kulturinteressierte Einzelgängerinnen aufgefallen waren.
Vor einem Monat besuchte ausgerechnet eine Sonderausstellung erotischer Kunst.

Armgard war nicht mehr die Jüngste. Deutlich konnte ich ihr Bemühen erkennen, ihr Alter mit sorgfältig und doch ein wenig zu dick aufgetragener Schminke unkenntlich zu machen. Den Austellungskatalog versuchte sie ohne Brille mit weit aufgerissenen Augen am ausgestreckten Arm zu lesen. Diese Phase der Sehschwäche hatte ich schon lange hinter mir und mich schießlich für eine randlose Brille entschieden.
Armgard vermied jegliches Lächeln. Vermutlich, um einigen Falten um die grünblauen Augen und um den Mund keine erkennbaren Chancen zu geben.
Die Erwiderung meines unwillkürlich und freundlich vorgetragenen Grußes geriet wegen der erstarrten Mimik daher eher kühl arrogant.
Nach meinen mehr oder weniger geistreichen Aufreißer-Sprüchen, die – zugegebener Maßen - allenfalls als vorsichtige Beziehungsanbahnungssätzchen daherkamen und möglichst kunstsachverständig klingende Bemerkungen zu den Aktbildern im Katalog waren, ließ sie nach gut jedem dritten Satz ein verächtliches „Typisch Mann“ folgen. Dabei griff sie sich, scheinbar die Frisur ordnend, in ihr braun gefärbtes volles Haupthaar, ohne mir, wie sie es sicherlich in jungen Jahren versucht hätte, mit Anmut den Hals zu präsentieren. Der glich nämlich inzwischen dem einer – böse gesagt - älteren Landschildkröte.
Ihr Tonfall war unüberhörbar vorwurfsvoll.
Das Gespräch kam – mit Sicherheit von ihr bewusst gelenkt und von mir unbewusst ihrer Absicht folgend – erstaunlich schnell auf ihr Elternhaus.
„Sie hat sich ihm immer geopfert! Total!“ klagte sie und verdrehte mitfühlend die Augen.
Natürlich ahnte ich, von wem sie sprach. Als ich dennoch vorsichtig nachfragte, zischte sie, ich sei doch wohl intelligent genug, um mir das denken zu können.
Solche Angriffe gewohnt, gestand ich leise seufzend: „Von Ihrer Mutter. Und die hat sich bestimmt ihrem allzu machtsüchtigen Ehemann total unterworfen.“
Sie nickte. Natürlich. Und ich solle mir ja nicht einbilden, einer von den besseren Männern zu sein.
Weitere Vorwürfe und meine Verteidigungsversuche erspare ich mir hier, da sie ohnehin nicht meinem sonstigen geistigen Niveau entsprachen. Ihrem vermutlich auch nicht.
Jedenfalls gingen wir nach gut drei Stunden auseinander. Ich mit dem Gefühl, eine meiner üblichen Niederlagen eingesteckt zu haben.
Und ob sie sich als Siegerin fühlen konnte, wage ich zu bezweifeln.
Dabei war sie eigentlich ganz nett und sah, wenn sie mich nicht gerade mit wutverzerrtem und gegen ihren Willen zerfurchtem Gesicht beschimpfte, für ihr Alter überdurchschnittlich frisch und sympatisch aus.
Vierzehn Tage später traf ich Armgard erneut an einem der gewohnten Kampfplätze. Diesmal im Museum für Alltagskultur und angewandte Kunst an der Bar des dortigen Bistros.
Sie sah mich sofort, winkte und mühte sich, möglichst faltenfrei zu lächeln. „Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so beschimpft habe.“ Ihre Augen sahen schuldbewusst auf den Tresen und in ihren Milchkaffee.
„Ach, wissen Sie. Ich diene Frauen unbewusst immer für deren Vaterprojektionen.“
Sie zögerte. Schon drohten zwei steile tiefe Furchen auf ihrer hohen Stirn. „Aber mein Vater, der war ganz, ganz anders. Ein Bild von einem Mann, so ein Beschützertyp, dem sich Frauen gern unterwerfen…!“
Ich holte tief Luft, um sie mit aufgeblähtem Brustkorb zu beeindrucken.
Sie sah nicht einmal hin, sondern fixierte den Milchkaffee, nutzte ihn als Spiegel, hielt den Kopf ein wenig schief, wischte mit dem Zeigefinger die Augenwinkel aus und fauchte: „Anstatt meiner Mutter Beachtung zu schenken, flirtete er hinter ihrem Rücken mit anderen Frauen.“
Und da an mir vorbei gerade ein attraktives jüngeres wohl geformtes Exemplar eines wahrhaftigen Vollweibes lasziv zum Bistro-Ausgang glitt, war ich für einen Moment abgelenkt, was Armgard zu ihrer üblichen Bemerkung über das Typische aller Männer und zu einem deutlich vorwurfsvolleren Tonfall veranlasste.
Diesmal brauchten wir für unsere Vater-Tochter-Auseinandersetzung nur eine knappe Stunde, da sie bereits dann alle ihre Vorurteile bestätigt sah, um aufseufzend festzustellen, Väter seien auch nur Männer. Und nicht selten die schlimmeren. Dabei habe ihre Mutter neben so einem sympathischen Nachbarn gewohnt. So gar ledig sei er noch gewesen…
Danach rauschte sie von dannen und hinterließ mir, wie der Ober mit der lakonischen Bemerkung „Sie zahlen sicher zusammen!?“ feststellte, die Rechnung für uns beide.
Ich hatte das Gefühl, mich damit ein wenig von meiner Vaterschuld frei zu kaufen.
Armgard traf ich ein paar Wochen später im Foyer des Theaters am Dom wieder. Dort spielten sie zumeist komische oder tragikomische Beziehungsdramen.
Sie machte einen äußerst aufgeräumten Eindruck und bat mich, ihr zuliebe auf die Vorstellung zu verzichten und ihr ins Theatercafé zu folgen.
Ich zögerte. Umgehend sah Armgard mich mit dem Blick einer Tochter an, die ich keinesfalls enttäuschen durfte.
Nach dem ersten Cocktail blickte sie mir in die Augen und befand, so übel sei ich eigentlich gar nicht.
Ich verstand das Friedensangebot, legte vorsichtig meine Hand auf ihren nackten Unterarm und suchte in meinem Hirn nach einem möglichst wahrheitsgetreuen Kompliment.
Schließlich entwich mir ein fast spontanes „Tolles Kleid, dass du da anhast.“
Sie nickte. Es sei schon eines ihrer älteren. Und im übrigen sei nicht der Stoff wichtig, sondern das, was darin stecke.
Vorsichtig zog ich meine Hand von ihrem Unterarm zurück, um mich meinem Cocktail zu widmen. Schon herrschte sie mich an: „Mein Vater hat auch lieber gesoffen, als sich mit meiner Mutter abzugeben.“
„Aber ich werde doch wohl noch meinen Cocktail…“
Sie stand auf und rauschte in Richtung Toilette davon.
Mit deutlich nachgezogener Kriegsbemalung kam sie zurück. Der Mund röter, die Augenlider blauer und der Lidstrich kräftiger.
„Gut siehst du aus!“ behauptete ich.
„Das war immer der dümmste und zumeist einzigste Spruch, der meinem Vater einfiel, wenn er mit meiner Mutter ins Bett wollte.“
„Aber ich will doch gar nicht…“
„Dafür bin ich dir wohl nicht mehr attraktiv genug…“
Inzwischen drehten sich an den anderen Tischen des mäßig besetzten Theatercafés einige grinsend nach uns um.
„Kannst du nicht ein wenig leiser…“ bat ich.
„Die Leute sollen ruhig hören, was du für einer bist.“
Jetzt reichte es mir. Ich stand auf und ging zur Tür, was dazu führte, dass der Kellner mir hinterher rannte, weil er fürchtete, ich wollte mich vor dem Zahlen drücken.
Also blieb ich stehen, um ihm mit einem großzügigen „Stimmt so!“ einen Schein in die Hand zu drücken. Das Trinkgeld muss wohl mehr als ausreichend gewesen sein, denn er bedankte sich und hielt mir die Tür auf, durch die jedoch Armgard schnell vor mir her schlüpfte.
Auf dem Weg zum Taxistand blieb sie vor mir stehen und herrschte mich an, ihr Vater sei wirklich ein Ekel gewesen.
Ich zuckte mit den Schultern. „Und, was kann ich dafür?“
„Eigentlich nichts.“ Schweigend sah sie zu Boden. „Eigentlich nichts,… aber… der, der hat mich nicht einmal in die Arme genommen. Nie.“
„Also gut.“ Widerwillig breitete ich beide Arme aus.
Sie roch nach Minze, legte den Kopf an meine Schulter und schwieg ziemlich lange.
„Ja, so viel Nähe hätte der nie ausgehalten“, flüsterte sie und küsste mich behutsam auf die Wange.
 
P

Pagina

Gast
Hallo Karl,warum habe ich bloß so wenig Mitgefühl mit Lyrich?
Vaterkomplex?
Garantiert!
Und sich ab und zu mal einer winzigkleinen Projektion zur Verfügung zu stellen, ist doch Sinn&Zweck der meist unreflektierten Beziehungsdramen...
Lyrich ist sich dessen nicht bewusst, daß er Projektionen willkommen heißt, wenn er, mit Rauschebart und allen Attributen Godfathers zu lange geduldig larmoyantem weiblichem Wehklagen zuhört.
Weil er ein schlauer, alter Wolf ist.
Der das Rotkäppchen abschleppen will.
Deshalb habe ich vielleicht so wenig Mitgefühl.
Vielleicht hätte es dem Armen genutzt, sobald die Mädels auch nur anfangen, über Papi, Opi oder sonstwen herzuziehen, sich zu räuspern und zu sagen:
"Schau mir in die Augen, Kleines.
Und dann sag dreimal ganz laut:
NICHT der Papa, NICHT der Papa, NICHT der Papa!"
Fröhliche Grüsse, Pagina
 
Liebe Pagina,
echtes Mitgefühl verdient er ja auch nicht, der Schwerenöter...
Danke für deinen ausführlichen Kommentar.
Herzliche Grüße
Karl
 

Hagen

Mitglied
Hallo Karl,
das hast Du sehr, sehr gut gemacht!
Aber warum hört die Geschichte an der Stelle auf, an der sie anfängt, richtig spannend zu werden?
Ich habe mein 'Kopfkino' angeworfen, und da ging ganz schön was ab!
Irgendein kluger Mann hat mal gesagt:
"In der Liebe ist es wie im Krieg; -
letztenendes entscheidet der Nahkampf!"

Weiter so!

Viele Grüße
Hagen
 
Liebe Hagen,
danke für deinen lobenden Kommentar.
Ich schreibe Geschichten gern so, dass sie das Kopfkino beim Leser in Gang setzen. Und es freut mich, dass mir das bei dir gelungen ist...
Herzliche Grüße
Karl
 
A

Architheutis

Gast
Lieber Karl,

ein unterhaltsames Thema gekonnt vorgetragen.

Dass mit dem Alter auch eine gewisse Weisheit einhergeht, dafür legt dieser Text sein Zeugnis ab.

Ich habe einzelne, starke Sätze ausfindig machen können:

der aus Angst vor Konflikten einsam bleibt und zugleich liebevolle Kontakte sucht.
Ja hört das denn nie auf, nichtmal im Alter?

Und manches Mal sind die Damen so überzeugend, dass ich den Kampfplatz mit erheblichen Schuldgefühlen räume und mich nachts in meinen Träumen vergeblich gegen weitere Anwürfe wehre.
Selten genug, dass man Worte findet, die anderen aus der Seele zu reden scheinen. Du hast es hier sicher geschafft.

Mein Revier sind Museumscafés. Dort nähere ich mich Damen, die mir zuvor beim Rundgang durch die Ausstellungsräume als kulturinteressierte Einzelgängerinnen aufgefallen waren.
Vor einem Monat besuchte ausgerechnet eine Sonderausstellung erotischer Kunst.
Wir sehen dich, Karl, wir sehen dich! Herrlich anschaulich geschildert. Man kauft dir jedes einzelne Wort ab. Stark!

Diese Phase der Sehschwäche hatte ich schon lange hinter mir und mich schießlich für eine randlose Brille entschieden.
Köstlich. :)

Ein paar Kleinigkeiten, die ich änderte:

Die Erwiderung meines unwillkürlich und freundlich vorgetragenen Grußes geriet wegen der erstarrten Mimik daher eher kühl arrogant.
Nach meinen mehr oder weniger geistreichen Aufreißer-Sprüchen, die – zugegebener Maßen - allenfalls als vorsichtige Beziehungsanbahnungssätzchen daherkamen und möglichst kunstsachverständig klingende Bemerkungen zu den Aktbildern im Katalog waren, ließ sie nach gut jedem dritten Satz ein verächtliches „Typisch Mann“ folgen. Dabei griff sie sich, scheinbar die Frisur ordnend, in ihr braun gefärbtes volles Haupthaar, ohne mir, wie sie es sicherlich in jungen Jahren versucht hätte, mit Anmut den Hals zu präsentieren.
Hier wählst du für meinen Geschmack einen arg aufgeblähten Satzbau. Ein, zwei kurze Hauptsätze eingeschoben, schon liest es sich flüssiger. Ich hakte jedenfalls an dieser Stelle. Da der Rest in einem Guß geschrieben ist, sticht dies hier so sehr ab.

Der glich nämlich inzwischen dem einer – böse gesagt - älteren Landschildkröte.
Ich streichte hier die Parenthese. Warum diese Entschuldigungsgeste, warum nicht volles Rohr? :)

Ich überlege auch, ob eine Straffung der Geschichte nicht dienlich wäre. Ein erstes Treffen im Museum mit anschließendem Cafébesuch und der finalen Taxiszene. Die beiden anderen, erneuten Treffen wiederholen mir zu sehr das eingangs so bildhaft dargestellte Grundproblem des Erzählers. Der Leser braucht diese erneuten Erklärungen mittels zwischenmenschlicher Anschauung nicht zwingend. Dafür hast du das Thema zu gut vorbereitet, es zieht sich als roter Faden hindurch.

Ich empfand es eher als störend, aber das ist nur meine Sicht.

Große Anerkennung deiner Sprachwahl! Hier ist soviel scharfe Beobachtungsgabe mit herrlich-subtilem Witz vereint, dass es eine helle Freude war, dies gelesen zu haben.

Ein echter Karl, dank Chappie *lach*

Lieben Gruß,
Archi
 
Lieber Archi,
herzlichen Dank für deine anerkennenden Worte.
Mit deiner Kritik kann ich durchaus etwas anfangen. Ich werde sehen, was ich daraus machen kann.
Liebe Grüße
Karl
 
Für viele bin ich offenbar ein ausgesprochener Vatertyp und inzwischen (wegen meines fortgeschrittenen Alters) sogar die Verkörperung des typischen Großvaters. Zum Glück reicht es aus Altersgründen zum Urgroßvater noch nicht.
Nun gut, nahezu weiße Haare auf dem Kopf und der graue Vollbart sind unübersehbar passende Attribute.
Dennoch ist es eine Last, in Familiendramen fremder Kinder und Enkelkinder mitzuspielen, denn eigentlich bin ich ein friedliebender Mensch, der aus Angst vor Konflikten einsam bleibt und zugleich liebevolle Kontakte sucht.
Wenn ich genau hinhöre, bombardieren Frauen mich mit Vorwürfen enttäuschter Töchter gegen ihre Väter oder sie halten mich für den unzweideutig Schuldigen an psychischen und sozialen Behinderungen ihrer bemitleidenswerten Mütter, obwohl ich ihre Mütter überhaupt nicht kenne, geschweige denn, kennen lernen möchte.
Aber wehe, ich behaupte, wirklich nicht ihr Vater, geschweige denn, der ihrer Mütter zu sein. Dann stutzen sie und sehen mich verständnislos an, um mich danach unbeeindruckt noch heftiger zu beschuldigen, damit ich nicht die kleinste Chance wittere, dieser Schuldfalle zu entkommen.
Und schließlich fügen sie, kurz bevor sie mich stehen lassen, lakonisch hinzu: „Natürlich weiß ich, dass Sie nicht mein Vater sind“ oder „Klar ist mein Opa anders.“
Inzwischen sind jene Damen (leider) immer häufiger über ihre Lebensmitte hinaus. Doch ihre Vorwürfe unterscheiden sich kaum von denen einst jüngerer Frauen.
Manchmal halte ich diese Zusammentreffen für schicksalhaft, da ich zur unvermeidbaren Begegnung der besonderen Art erhoben werde und dadurch offensichtlich zu einer gewissen Bedeutung im Leben jener weiblichen Wesen gelange.
Doch zumeist gehen diese Konfrontationen für mich äußerst ärgerlich aus. Und manches Mal sind die Damen so überzeugend, dass ich den Kampfplatz mit erheblichen Schuldgefühlen räume und mich nachts in meinen Träumen vergeblich gegen weitere Anwürfe wehre.
Mein Revier sind Museumscafés. Dort nähere ich mich Damen, die mir zuvor beim Rundgang durch die Ausstellungsräume als kulturinteressierte Einzelgängerinnen aufgefallen waren.
Vor einem Monat besuchte ausgerechnet eine Sonderausstellung erotischer Kunst.

Armgard war nicht mehr die Jüngste. Deutlich konnte ich ihr Bemühen erkennen, ihr Alter mit sorgfältig und doch ein wenig zu dick aufgetragener Schminke unkenntlich zu machen. Den Austellungskatalog versuchte sie ohne Brille mit weit aufgerissenen Augen am ausgestreckten Arm zu lesen. Diese Phase der Sehschwäche hatte ich schon lange hinter mir und mich schießlich für eine randlose Brille entschieden.
Armgard vermied jegliches Lächeln. Vermutlich, um einigen Falten um die grünblauen Augen und um den Mund keine erkennbaren Chancen zu geben.
Die Erwiderung meines unwillkürlich und freundlich vorgetragenen Grußes geriet wegen der erstarrten Mimik daher eher kühl arrogant.
Meine mehr oder weniger geistreichen Aufreißer-Sprüchen kamen – zugegebener Maßen - höchstens als vorsichtige Beziehungsanbahnungssätzchen daher und waren möglichst kunstsachverständig klingende Bemerkungen zu den Aktbildern im Katalog. Die veranlassten sie nach gut jedem dritten Satz zu einem verächtlichen „Typisch Mann“. Dabei griff sie, scheinbar die Frisur ordnend, in ihr braun gefärbtes volles Haupthaar, ohne mir, wie sie es sicherlich in jungen Jahren versucht hätte, mit Anmut den Hals zu präsentieren. Der glich nämlich inzwischen dem einer älteren Landschildkröte.
Ihr Tonfall war unüberhörbar vorwurfsvoll.
Das Gespräch kam – mit Sicherheit von ihr bewusst gelenkt und von mir unbewusst ihrer Absicht folgend – erstaunlich schnell auf ihr Elternhaus.
„Sie hat sich ihm immer geopfert! Total!“ klagte sie und verdrehte mitfühlend die Augen.
Natürlich ahnte ich, von wem sie sprach. Als ich dennoch vorsichtig nachfragte, zischte sie, ich sei doch wohl intelligent genug, um mir das denken zu können.
Solche Angriffe gewohnt, gestand ich leise seufzend: „Von Ihrer Mutter. Und die hat sich bestimmt ihrem allzu machtsüchtigen Ehemann total unterworfen.“
Sie nickte. Natürlich. Und ich solle mir ja nicht einbilden, einer von den besseren Männern zu sein.
Weitere Vorwürfe und meine Verteidigungsversuche erspare ich mir hier, da sie ohnehin nicht meinem sonstigen geistigen Niveau entsprachen. Ihrem vermutlich auch nicht.
Jedenfalls gingen wir nach gut drei Stunden auseinander. Ich mit dem Gefühl, eine meiner üblichen Niederlagen eingesteckt zu haben.
Und ob sie sich als Siegerin fühlen konnte, wage ich zu bezweifeln.
Dabei war sie eigentlich ganz nett und sah, wenn sie mich nicht gerade mit wutverzerrtem und gegen ihren Willen zerfurchtem Gesicht beschimpfte, für ihr Alter überdurchschnittlich frisch und sympatisch aus.

Armgard traf ich ein paar Wochen später im Foyer des Theaters am Dom wieder. Dort spielten sie zumeist komische oder tragikomische Beziehungsdramen.
Sie machte einen äußerst aufgeräumten Eindruck und bat mich, ihr zuliebe auf die Vorstellung zu verzichten und ihr ins Theatercafé zu folgen.
Ich zögerte. Umgehend sah Armgard mich mit dem Blick einer Tochter an, die ich keinesfalls enttäuschen durfte.
Nach dem ersten Cocktail blickte sie mir in die Augen und befand, so übel sei ich eigentlich gar nicht.
Ich verstand das Friedensangebot, legte vorsichtig meine Hand auf ihren nackten Unterarm und suchte in meinem Hirn nach einem möglichst wahrheitsgetreuen Kompliment.
Schließlich entwich mir ein fast spontanes „Tolles Kleid, dass du da anhast.“
Sie nickte. Es sei schon eines ihrer älteren. Und im übrigen sei nicht der Stoff wichtig, sondern das, was darin stecke.
Vorsichtig zog ich meine Hand von ihrem Unterarm zurück, um mich meinem Cocktail zu widmen. Schon herrschte sie mich an: „Mein Vater hat auch lieber gesoffen, als sich mit meiner Mutter abzugeben.“
„Aber ich werde doch wohl noch meinen Cocktail…“
Sie stand auf und rauschte in Richtung Toilette davon.
Mit deutlich nachgezogener Kriegsbemalung kam sie zurück. Der Mund röter, die Augenlider blauer und der Lidstrich kräftiger.
„Gut siehst du aus!“ behauptete ich.
„Das war immer der dümmste und zumeist einzigste Spruch, der meinem Vater einfiel, wenn er mit meiner Mutter ins Bett wollte.“
„Aber ich will doch gar nicht…“
„Dafür bin ich dir wohl nicht mehr attraktiv genug…“
Inzwischen drehten sich an den anderen Tischen des mäßig besetzten Theatercafés einige grinsend nach uns um.
„Kannst du nicht ein wenig leiser…“ bat ich.
„Die Leute sollen ruhig hören, was du für einer bist.“
Jetzt reichte es mir. Ich stand auf und ging zur Tür, was dazu führte, dass der Kellner mir hinterher rannte, weil er fürchtete, ich wollte mich vor dem Zahlen drücken.
Also blieb ich stehen, um ihm mit einem großzügigen „Stimmt so!“ einen Schein in die Hand zu drücken. Das Trinkgeld muss wohl mehr als ausreichend gewesen sein, denn er bedankte sich und hielt mir die Tür auf, durch die jedoch Armgard schnell vor mir her schlüpfte.
Auf dem Weg zum Taxistand blieb sie vor mir stehen und herrschte mich an, ihr Vater sei wirklich ein Ekel gewesen.
Ich zuckte mit den Schultern. „Und, was kann ich dafür?“
„Eigentlich nichts.“ Schweigend sah sie zu Boden. „Eigentlich nichts,… aber… der, der hat mich nicht einmal in die Arme genommen. Nie.“
„Also gut.“ Widerwillig breitete ich beide Arme aus.
Sie roch nach Minze, legte den Kopf an meine Schulter und schwieg ziemlich lange.
„Ja, so viel Nähe hätte der nie ausgehalten“, flüsterte sie und küsste mich behutsam auf die Wange.
 



 
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