Grüne Dienstage und eckige Braten

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VeraL

Mitglied
Samstag

Die längste Achterbahn der Welt ist der Steel Dragon 2000 in Japan mit 2479 Metern. Ich gehe nicht gerne in Freizeitparks, aber ich liebe Listen. Ich scrolle mich langsam durch die Website. Vom Steel Dragon 2000 über Fury 325 bis zu Desperado in den USA. Die Liste baut sich um mich herum auf. Ich sehe die Zahlen in meinem Zimmer so klar wie den Schreibtisch oder das Bett. Sie sehen selber aus wie eine Achterbahn. Ein wohliges Kribbeln läuft meine Wirbelsäule entlang. Weiter geht es mit den schnellsten Bahnen und den höchsten. Das könnte ich den ganzen Tag machen.

Sonntag

Gerade hatte ich einen riesigen Krach mit meiner Mutter. Ich wollte ihren tollen Sonntagsbraten nicht essen. Mama ist stolz auf diesen Braten, aber er schmeckt eckig. Sie versteht nicht, dass ein guter Braten rund schmecken muss. Sie denkt, ich bin verrückt. Mein Trost ist die Musik. Ich lasse meine Playlist laufen und beobachte die Farben, die das Zimmer in Wellen füllen.

Montag

Papa wollte, dass ich einkaufen gehe. Das habe ich gemacht. Ich habe alles mitgebracht, was auf dem Zettel stand. Trotzdem ist er ausgeflippt. „Ella, hast du noch nicht kapiert, dass wir sparen müssen? Warum kaufst du von allem das Teuerste? Es ist doch wohl nicht zu viel verlangt, etwas auf die Preise zu achten.“
Blablabla. Natürlich kann ich rechnen. Aber das Wort „Joghurt“ zum Beispiel. Es klingt grün. Dann kaufe ich den Joghurt in der grünen Verpackung. Welcher Idiot würde Joghurt aus einem blauen Becher essen? Das würde ich genauso wenig machen wie Kekse in einer gelben Packung oder Waschmittel in einer lila Flasche zu kaufen. Manchmal habe ich das Gefühl, von einem anderen Stern zu sein.
Egal, morgen ist die Geburtstagsfeier von Nele. Darauf freue ich mich seit Wochen. Sie hat ihre Eltern überredet, dass wir einen Schminkkurs bei einer richtigen Visagistin machen dürfen. Ich habe ihr die Ohrringe gekauft, die sie so süß fand. Das war mein letztes Taschengeld. Aber meine beste Freundin ist mir das wert.

Dienstag

Verdammter Mist! Der Tag hatte so gut angefangen. Die Sieben ist grün, Dienstag ist grün und April ist auch grün. Ein perfekter Tag. Und heute Nachmittag die Feier von Nele. Ich hatte ihr einen kleinen Cupcake gebacken. Aber als ich in die Klasse kam, wollte sie nicht mir mir reden.
Lara hat mit ihrer fiesen, hochnäsigen Stimme gesagt: „Du hättest halt gestern zu ihrer Feier kommen sollen. Nichtmal abgesagt hast du. Das kannst du mit so einem mickrigen Cupcake auch nicht mehr gut machen.“
Blöde Kuh. Ich habe tausendmal versucht, mich bei Nele zu entschuldigen. Sie hat nur gesagt: „Das ist zu oft passiert, Ella. Wenn dir mein Geburtstag nicht wichtig ist, bin ich dir auch nicht wichtig. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“
Nach der Schule habe ich versucht, ihr die Ohrringe zu geben. Sie hat das Päckchen nicht mal aufgemacht. In den Müll geworfen hat sie es. Überall hat sie mich auf die Ignore List gesetzt. Was soll ich denn jetzt machen? Sie war die Einzige, die immer zu mir gehalten hat.
Aber sie hat Recht. Ich bringe Daten oft durcheinander. Der Montag ist rot, das passt nicht zum Datum. Außerdem sind Dienstag und sieben beide hinten links und der Montag vorne. Deswegen habe ich mir die Feier am falschen Tag eingetragen. Warum passiert das immer nur mir?


Mittwoch

Der Tag heute war so grau wie der Mittwoch klingt. Ein trister, langweiliger Tag ganz unten in der Ecke. Niklas, mein Bruder, hat mir gesteckt, dass meine Eltern darüber nachdenken, mich zum Psychodoc zu schicken. Nichtmal auf meine Listen konnte ich mich heute konzentrieren.

Donnerstag

Nein, ich hab mich getäuscht. Es geht noch weiter nach unten. Ich habe Hausarrest. Meine Eltern wollten, dass ich Oma im Krankenhaus besuche. Oma tut mir echt Leid, dass sie da sein muss und sie langweilt sich bestimmt, aber ich ertrage Krankenhäuser nicht. Mama meint, dass niemand Krankenhäuser mag und ich mich nicht so anstellen soll. Ich kann einfach nicht. Ich halte die Schmerzen nicht aus. Wenn ich Nadeln sehe, die in Leuten stecken, Menschen die stöhnen oder sich übergeben müssen, ich spüre alles an mir selbst. Komischerweise alles spiegelverkehrt. Als Niklas sich letzten Sommer den rechten Arm gebrochen hat, tat mir die ganze Zeit der linke Arm weh. Mama und Papa haben kein Verständnis für meine Ticks, wie sie es nennen.


Freitag

Ich bin nicht verrückt! Ich weiß, was mit mir los ist und es ist das großartigste Gefühl, das ich je hatte. Noch viel schöner als alle Listen der Welt zusammen. Wir haben ein neues Mädchen in der Klasse, Leonie. Sie sitzt jetzt neben mir und als ich unseren Streit und das mit den farbigen Wochentagen erklärt habe, hat sie nur gesagt: „Cool, du hast auch Synästhesie?“ Sie hat auch gesagt. Ihr geht es nämlich genauso, obwohl der Dienstag bei ihr blau ist. Sogar für das Gefühl, die Schmerzen von anderen zu spüren, gibt es einen Namen: Mirror Touch.
Es gibt tatsächlich einen Eintrag bei Wikipedia dazu. Ich habe noch nicht genau verstanden, wie das funktioniert, irgendwie sind in meinem Kopf verschiedene Sinne miteinander verbunden. Das Wichtigste ist, dass es andere gibt, die so sind wie ich. Leonie meint, viele berühmte Musiker und Künstler sind Synästhesisten. Lady Gaga gehört dazu. Wie cool ist das denn?
Für morgen hat Leonie mich zu einer Überraschung eingeladen. Für meine Eltern hab ich einen Artikel über Synästhesie von einer fancy Uni aus Amerika ausgedruckt, damit sie mir glauben und den Hausarrest aufheben. Ich wünschte, ich könnte das Nele erzählen.


Samstag

Leonie ist unglaublich. Sie hat eine Party für mich organisiert. Da waren nicht nur Leute aus der Schule sondern auch andere Synästhesisten, die sie über eine Facebook-Gruppe gefunden hat. Es gab Musik die speziell für uns komponiert ist und tolle Farben erzeugt. Und das allerschönste war, dass Nele da war. Leonie hat sie eingeladen und sie hat mir einen Cupcake gebacken, auf dem „sorry“ stand. Er hat wunderbar rund geschmeckt.
 

GerRey

Mitglied
Ehrlich gesagt, wollte ich den Text nicht lesen, weil mich die Wochentags-Blöcke optisch abstoßen. Man denkt, dass es sich um Notizen handelt. Aber der Titel befindet sich auf meiner Wellenlänge, und schon nach den ersten Zeilen war ich über die Leichtigkeit des Textes überrascht. Es liest sich einfach wunderbar! Wer braucht da noch Nele?
 

VeraL

Mitglied
Hallo GerRey,
vielen Dank für deinen positiven Kommentar. Ich verstehe, was du mit der Optik meinst. Ich dachte, dass zu einem Mädchen in diesem alter am besten ein Tagebucheintrag passt und da ist mir optisch nichts anderes eingefallen.
Viele Grüße
Vera
 



 
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