Grund genug

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Blässliche Sonnenstrahlen drangen wie lange, schmale Klingen schlanker Schwerter bis zu ihm auf den Grund.
Heute, wo es an der Oberfläche windstill war, tanzten sie nur sachte hin und her und zauberten einen kronenlosen, sanft wogenden Wald aus dünnen Lichtstämmen in das dumpfe Blaugrün der Umgebung. Nur für ihn. Aus seinem Versteck zwischen dem Schilf beobachtete er wie immer tief im Verborgenen das anregende Schauspiel.

An Tagen mit stärkerem Wind oder wenn viele Badegäste die Oberfläche des kleinen Waldsees aufwirbelten, gaukelten die schlanken Strahlen ihm die Kurven ihres milchigweißen Körpers vor. Als würde sie vor ihm tanzen, ihn necken, meinte er einmal den anmutigen Schwung ihrer Hüften vor sich zu sehen, ein andermal ihre atemberaubende Silhouette im Halbprofil. Eingebrannt in sein visuelles Gedächtnis. Niemals so recht greifbar und stets flüchtig – ganz so, wie sie damals vor ihm geflohen war. In seinen mit der Zeit hier unten trüb gewordenen Augen spiegelten sich diese schwebenden, sich windenden Lichtkonturen. Doch niemals überkam ihn dabei die leisteste Regung von Gefühl oder Erkennen.

Wie hatte sie ihn damals vom ersten Moment an, in dem er ihrer ansichtig wurde, gefesselt, sich all seiner Sinne bemächtigt! Der blasse, helle Teint ihrer zarten, weichen Haut unter dem hauchdünnen Stoff ihres Sommerkleidchens, ihre unschuldig mädchenhafte Anmut, als sie an jenem lauen Sommerabend allein, sich unbeobachtet fühlend ihr Kleid über den Kopf gezogen hatte und ins Wasser gewatet war.

Die erfrischende Kühle hatte ihr eine Gänsehaut übergestreift; von den Schenkeln über ihre Hüften und das Gesäß bis hin zu ihren perfekten Brüsten, deren Knospen sofort fest geworden waren und sich keck aufgerichtet hatten. Das Mondlicht damals hatte ein ähnlich milchiges Licht über sie gegossen, wie es nun die Sonnenstrahlen unter der Wasseroberfläche mit seinem Körper taten, wenn sie über seine vor sich ausgestreckten, sacht in der Strömung hin- und herwiegenden Arme glitten. So, wie der Mond es vermutlich auch mit dem Rest seines Körpers tat. Doch er hätte den Kopf wenden müssen, um darüber Gewissheit zu erlangen. Das hatte er aber nicht ein einziges Mal getan, seit er hier war. Er war kein Mensch, der jemals zurückblickte.

Regungslos musste er mit den Aussichten vorlieb nehmen, die sein Blickfeld kreuzten – ganz wie es diesen gefiel. Oft starrte er tage- und nächtelang in die gleiche leere, undurchdringliche, so beengende und zugleich quälend endlose Weite vor ihm. Ohne mit einer Wimper zu zucken. Lediglich die Düsternis der Szenerie vor ihm wechselte je nach Wetter und Tageszeit von semitransparentem Dunkelblaugrün bis hin zu tiefstem Schwarz. Wären nicht die großen Flusskiesel in seiner Kleidung gewesen, die ihn am Grund hielten, hätte er sich in solchen Momenten beinahe vorgaukeln können, zu schweben. Doch sie hatte ihn zurück auf den Boden der Realität geholt – und dann noch ein Stück tiefer.

Wie damals.

Auch da meinte er, zu schweben. Er erinnerte sich nur zu gut an jedes Detail.
Das Geräusch der brechenden Äste, auf der Jagd durch das Gestrüpp, fort vom Wasser in den vermeintlich schützenden Wald. Ihre panischen Hilferufe, die in hysterisches Schreien und schließlich flehendes Wimmern übergegangen waren, als er sie letztendlich überwältigt und zu Boden gerungen hatte. Die beinah unbändige Kraft ihres verzweifelten Widerstands, der in diesen so göttlich zarten Gliedern wohnte, mobilisiert einzig vom Überlebenswillen. Davor schon ihr heftiges Keuchen und der Geruch von Angstschweiß. Das Geräusch brechender Zweige auf dem sich windenden Trampelfad. Dazu das unregelmäßige Aufblitzen ihrer kreidebleichen, makellosen Haut, wenn während der Verfolgungsjagd das weiße Mondlicht durch die Äste und Zweige der Baumkronen auf sie fiel.

Niemals zuvor hatte er in sich eine solche Lebendigkeit, eine solche Kraft verspürt!
Er hatte die Macht, sich zu nehmen, was auch immer er wollte. Sie war nur noch eine Armeslänge von ihm entfernt. Dann plötzlich gestrauchelt und zu Boden gegangen. Vermutlich gestolpert. Das Schicksal hatte sie also für ihn bestimmt!

All diese Eindrücke hatten sich in ihm wie eine riesige Welle aufgetürmt, um ihn schließlich mit aller Gewalt mit sich zu reißen - an einen Punkt der Erregung, der ihm mit absolut nichts, was er je gekannt hatte, vergleichbar schien und ihn die Welt um sich, so wie sie war, vergessen hatte lassen.
Sich zu nehmen, was sein war, würde der absolute Höhepunkt seines bisherigen Lebens sein. Er war dicht davor! Und scheinbar hatte sie ihr Schicksal akzeptiert und sich gefügt. Sie leistete keinen weiteren Widerstand mehr. Er war beinah ein wenig enttäuscht. Andererseits ließ ihre Gefügigkeit das Allmachtsgefühl in ihm nur noch mehr anschwellen.

Beinah dankbar war er schließlich zwischen ihren Schenkeln auf die Knie gefallen. Er war sich der Gnade dieser himmlischen Fügung zutiefst bewusst - sie war ein Geschenk Gottes! Seine Hosen hingen bereits auf Halbmast, als der schwere Stein ihn an der Schläfe traf.

Plötzlich war nichts mehr erhebend.
Sein erster und einziger Gedanke, bereits im Hinübergleiten, war, dass sie ihn hinterhältig in eine Falle gelockt haben musste. Er war von ihr zutiefst enttäuscht. Wie konnte ein derartiges Maß an Niedertracht in einem dermaßen elfenhaften Wesen zu finden sein?! Der gezielte Fußtritt, mit dem sie ihm schließlich sein Nasenbein in sein Gehirn geschoben hatte, hatte ihm weitere Enttäuschungen erspart und ihn in eine seltsam friedvolle Stille gehüllt.

Mittlerweile hatte er sich über endlose Monate - vielleicht auch schon Jahre? - an diese Stille gewohnt. So ganz ihr Freund war er jedoch nie geworden. Bis heute nicht. Nur wenn sich Kinder beim Baden in die Nähe seines Verstecks im Schilfgürtel verirrten, drangen manchmal verzerrte Geräusche zu ihm auf den düsteren, schlammigen Boden. Dumpf, wie von weit her, und dennoch viel zu lebendig für sein Empfinden. Dann und wann suchten auch verschreckte Jungfische Zuflucht in seinem immer noch fassungslos offenstehenden Mund. Ergriffen Besitz von seinem Körper. Drangen in ihn ein, ohne zu fragen. Respektlos, wie er fand. Ihn grausam in seiner Hilflosigkeit demütigend.

So wie sie damals.
Sein Hinterkopf war eine einzige Fundgrube an Ästchen, zerbrochenen Schneckenhäusern und kleinen spitzen Steinen gewesen, die sich ins Fleisch gegraben hatten, nachdem sie ihn den ganzen Weg zurück aus dem Wald durch das Dickicht bis ans Seeufer gezerrt hatte. Sie war ein raffiniertes Luder gewesen, das musste er etwas widerwillig aber neidlos anerkennen. Die großen Steine in seine Kleidung zu packen, um ihn danach weitab vom Schuss im Schilf zu versenken, ließ ihn vermuten, dass sie nicht zu den Allerdümmsten gehörte. Vielleicht hatte sie aber auch einfach zu viele Krimis im Fernsehen gesehen. Zu blöd nur, dass er nun hier ungewollt Hauptdarsteller im verkehrten Drehbuch war.
Er hatte sie unterschätzt. Etwas, das ihm ihm sicherlich nie wieder passieren würde.

Ob sie noch an ihn dachte?
Er wäre zugegebenermaßen doch gekränkt gewesen, wenn nicht.
Er tröstete sich mit dem Gedanken, für immer und ewig der Mann ihrer Träume zu sein.

Milchige Sonnenstrahlen trafen auf milchigtrübe Augen und milchigbleiche Haut.
Wind und Wasser waren heute besonders still.
Wie im Jahr zuvor und dem davor stand sie auch heute wieder am Ufer und feierte ihren Geburtstag.

Ohne ihn.
 



 
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