GUMONJA - Monsterjagd

Pinky

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Ein in der grellen Sonne schwarz glänzender Glasfassadenbau, überirdisch nur fünfzehn Stockwerke hoch. Über dem Eingang die Worte "Institut für Monstrositätenbau". Darunter der Wahlspruch des Instituts "Wir bauen nichts, was es schon gibt!"
Durch die langgestreckte Eingangshalle kam man zu einem Aufzug, der fünfzehn Stockwerke nach oben und um etliche mehr nach unten führte. Im Moment fuhr er hinauf, wo er im dreizehnten Stock eine Gruppe Studenten unter Führung des Direktors des Instituts in einen saalähnlichen Raum entließ.
"Und das hier ist die Konstruktionsabteilung!" erklärte der Direkter den eifrig mitschreibenden Studenten, die wissbegierig an seinen Lippen hingen und nahezu jedes Wort in hastig hingekritzelten Buchstaben festhielten. Nicht, dass es tatsächlich so interessant gewesen wäre, was der Direktor da sagte, doch würde einiges davon später beim Reihungstest abgefragt werden, und jeder wollte natürlich die beste Position im Institut.
Helles Sonnenlicht fiel durch die großen Panoramafenster auf gebückt arbeitende Wissenschafter in weißen Mänteln, die die Gruppe Studenten gar nicht beachtete. Über ihre Arbeitstische gebeugt, getrennt durch niedrige Zwischenwände, werkelten sie mit winzigen Feinwerkzeugen und feinen Mikroskopen, knüpften Verbindungen, für die ansonsten nur noch Mutter Natur und einige hochqualifizierte Ärzte zuständig waren und schufen im Kleinen Dinge, die später im Großen entstehen würden. Es mussten an die hundert Tische sein mit noch mehr Wissenschaftern.
"Hier werden nach den Plänen der Architektur maßstabsgetreue Modelle hergestellt, um sie auf ihre Funktionstüchtigkeit zu prüfen", führte der Direktor weiter aus während er die Studenten zwischen den Tischen durchführte. Nährsalzlösungen und Dinge in Gläsern bildeten den Großteil der Ausstattung auf den Tischen. Etwas Winziges auf zwei Beinen huschte vorbei, verschwand jedoch, bevor man genaueres erkennen konnte. Ein Wissenschafter in weißem Mantel eilte hinter ihm her, wild und hingebungsvoll fluchend. "Auf diese Weise lässt sich mit nur geringen Kosten feststellen, ob eine Konstruktion tauglich ist und den Kundenwünschen entspricht, ob man sie noch verbessern kann oder ob man sie revidieren muss."
Revidieren, notierten die Studenten in unleserlicher Schrift in ihre Notizhefte. Einer von ihnen hob etwas zurückhaltend die Hand.
"Ja?" fragte der Direkter, nicht gerade angetan von dieser unerwünschten Unterbrechung seines selbstlobenden Vortrags.
"Wie wird das festgestellt?" wollte der Student wissen.
"Dazu kommen wir gleich", erwiderte der Direktor. "Zunächst jedoch ..." Etwas hüpfte von dem Tisch vor ihm auf den Boden, wo es zuckend liegenblieb. Es sah aus wie das Bein einer kleinen Eidechse, nur mit Haaren.
"Verdammtes Ding!" schimpfte der Wissenschafter und trat auf das kleine Beinchen, worauf es mit einem zermürbten Knirschen reagierte. Dann erst sah der Wissenschafter seinen Direktor, starrte ihn einige Sekunden erst erschrocken, dann verlegen an und drehte sich schließlich unbehaglich um, um sich wieder seiner Arbeit zu widmen. Aus einem der unzähligen Gläser auf seinem Tisch holte er ein neues Bein hervor, diesmal hielt er es vorsichtiger mit der Pinzette fest, und fügte es mit einer Art Lötkolben für plastische Chirurgie an einen Torso, der ebenso befremdend wirkte wie das Bein.
"Hier sehen Sie, wie nach den bekannten Verfahren mit der richtigen Behandlung aus einer Stammzelle in einer Nährlösung der gewünschte Körperteil gezüchtet wird", erklärte der Direktor wobei er auf eine der Petrischalen deutete, ohne dabei auf den allmählich nervöser werdenden Wissenschafter zu achten. "Dank unserer genauen Kenntnisse über Aufbau und Beschaffenheit der Chromosomen und somit der gesamten Erbinformation ist es uns nicht nur möglich, bereits vorhandenen Zellen die richtige Form, Farbe und Größe zu geben, sondern auch noch völlig neue, unbekannte Stammzellen nach unseren Wünschen zu erstellen. Dies geschieht jedoch nicht hier sondern einen Stock weiter, in der Guranoviç-Zucht, benannt nach dem Erfinder dieses Verfahrens, Vladislav Guranoviç. Hier befinden wir uns im Bereich des rein manuellen Zusammenbaus der Modelle, wohingegen in der Guranoviç-Zucht nicht nur Modelle angefertigt werden, sondern auch, in einer eigenen Abteilung, fertige Konstruktionen. Gegenüber den Anfängen des Instituts, wo aufgrund der Unkenntnis des Chromosomenaufbaus lediglich bereits vorhandene Körperteile verwendet werden konnten, bedeutet dies nicht nur eine ungeheure Arbeitserleichterung, sondern eröffnet auch endlose neue Möglichkeiten."
"Dennoch wurden in der Anfangszeit große Leistungen vollbracht", warf einer der Studenten ungefragterweise ein.
"Natürlich, und wir wollen diese Erfolge keineswegs schmälern", erwiderte der Direktor. "Denn gerade aufgrund dieser Widrigkeiten sind die damaligen Pionierarbeiten als Grundstock dieses Instituts als weit größere Erfolge zu werten als unsere Arbeit heute." Um nicht Gefahr zu laufen, von einem besserwisserischen Studenten in seinem lobeshymnenartigen Vortrag beschnitten zu werden, lenkte der Direktor seine Schritte weg von dem Tisch, an dem nun von einem unruhigen Wissenschafter ein winziges Bein an einen winzigen Torso geschweißt wurde, in Richtung der Aufzugtür am Ende des Raums.
"Doch kommen wir nun zu einem weiteren wichtigen Bereich des Instituts, eine Einrichtung, über die unsere Vorgänger in der Anfangsphase bedauerlicherweise auch nicht verfügt haben, was zu zahllosen Misserfolgen und verhängnisvollen Fehlschlägen geführt hat: dem Modellraum!"
Die Studenten folgten ihm artig, wobei sie sogar hingebungsvoll mitzuschreiben versuchten, als der Direktor gar nichts sagte. Der Direktor des Instituts drückte den Aufzugknopf und zusammengedrängt fuhren sie in den nächsten Stock, wo sich vor ihnen ein weiterer saalartiger Raum ausbreitete. Ein Teil davon war mit dem Modell einer typisch amerikanischen Kleinstadt verbaut, wie man sie aus unzähligen Filmen und Serien kannte, hauptsächlich solchen, wo etwa eine Viertelstunde nach dem Vorspann eine existenzbedrohende Gefahr über sie hereinbricht. Es fehlten nicht einmal die kleinen Kühe auf den Weiden rund um die Stadt, und die halbrostigen Pickups auf den Straßen.
Ein wesentlich kleinerer Teil war im Stil einer typisch amerikanischen Mittelschichtwohnung eingerichtet, wie man sie ebenfalls aus einschlägigen Filmen kannte, mit menschenähnlichen Puppen bestückt, ähnlich den bekannten Crash-Test-Dummies, der Rest war mit sonderbaren Maschinen und geheimnisvollen Apparaturen gefüllt.
"Der Modellraum!" wiederholte der Direktor, woraufhin es die Studenten ein zweites Mal aufschrieben. "Hier werden die Modelle aus dem Konstruktionsraum und auch aus der Guranoviç-Zucht auf ihre Tauglichkeit und ihre Effektivität geprüft. Hätte es so etwas schon in den Gründerzeiten gegeben, wäre eine Peinlichkeit wie ein hundert Meter großer Affe auf einem Hochhaus überhaupt nicht geschehen." Stolz ging er um das Kleinstadtmodell herum und die Studenten folgten ihm wie kleine Entchen ihrer Mutter. "Eine typisch amerikanische Kleinstadt, vermutlich mit einem idiotischen Namen wie Amityville, Midwich oder Little Rock. Hier geht der faul und nachlässig gewordene Staatsbürger seinen unbedeutenden Tätigkeiten nach, in der sicheren Gewissheit, dass es keinerlei Bedrohung gibt, aus der ihm nicht Geld, Staat, Polizei, oder Rechtsanwälte helfen können, sofern sie ihn nicht selbst hineingebracht haben. Hier kümmert es ihn wenig, dass seinerzeit und vielerorts auch heute noch Menschen um ihr Überleben kämpfen müssen, und das nicht nur im übertragenen Sinn, während er nicht einmal fähig ist, eine einfache Kartoffel ohne elektrische Hilfsmittel zu schälen. Sehen Sie, meine Damen und Herren, sogar die weißgetünchte Stadtkirche ist vorhanden und der einfallslose Hauptplatz mit einem Kriegerdenkmal von irgendeinem unbedeutenden Soldaten aus dem Sezessionskrieg. Bei der Anzahl amerikanischer Kleinstädte muss nahezu jeder Soldat aus dem Bürgerkrieg irgendwo ein Denkmal haben.
Doch lassen Sie mich nicht vom Thema abkommen. Hier werden die Modelle unserer größeren Produkte dahingehend getestet, welchen Schaden sie innerhalb einer bestimmten Zeit anrichten können und welche Auswirkungen das auf Strom- und Wasserversorgung sowie auf die verkehrstechnische Infrastruktur hat. Welches Monster es nicht schafft, innerhalb eines halben Tages wenigstens ein Drittel der Stadt zu zerstören und dabei sämtliche Stromkreise lahmzulegen, kommt sofort wieder zurück aufs Reißbrett und wird neu konzipiert. Mittels Hochrechnungen, bei denen komplizierte mathematische Verfahren verwendet werden sowie Schätz- und Erfahrungswerte und Interpolation zwischen den Varianzen, können wir vom Schaden an dieser Kleinstadt auf die Schäden an sämtlichen Großstädten des Landes und mit kleinen Abweichungen auf die der ganzen Welt schließen, denn, wie Sie sicher verstehen: Godzilla in einer Kleinstadt des mittleren Westens wäre doch lächerlich."
Die Studenten lachten kurz gezwungen, ohne jedoch von ihren Notizen aufzusehen. Den schlechten Witz schrieben sie aber trotzdem mit.
"Und wozu ist diese Einrichtung, Herr Direktor?" erkundigte sich eine Studentin höflich und deutete auf das Durchschnittseinfamilienhaus.
"Hier werden die kleineren Monster getestet, von denen meist erst gar keine Modelle erstellt werden", erklärte der Direktor während er, gefolgt von seinem Anhang, hinüberging. "Solche, die darauf konzipiert sind, Schäden im Detail anzurichten, Sie wissen schon: Gremlins, Critters ... Aber auch Invasionen von ungewöhnlichen Tiermassen, wie sie in den Achtzigern sehr beliebt waren: Spinnen, Schlangen, Ameisen, etc. Sie müssen zwar nicht erst konstruiert werden, doch ist es nötig zu testen, ob sie dazu geeignet sind, auf Menschen loszugehen, sie zu jagen und auch zu töten, denn nicht jedes Tier ist das. Ich erinnere nur an das Desaster mit den Hamstern ..." Der Direktor räusperte sich unbehaglich. Glücklicherweise war dieser Fehlgriff vor seiner Zeit am Institut geschehen; daraufhin hatte man auch diese Testreihe eingeführt. "Und zu guter Letzt", lenkte er dennoch vom Thema ab, "noch unsere Belastungsecke. Hier werden schlussendlich die Modelle, oder bei kleineren Wesen die fertigen Prototypen auf ihre Strapazierfähigkeit getestet, denn schließlich wollen wir ja nicht, dass unsere Tierchen schon beim ersten Auftauchen erledigt werden können. Deshalb müssen sie bis zu einem gewissen Grad widerstandsfähig sein, wenn sie den Menschen aus seiner Trägheit wachrütteln und seinen Selbstverteidigungstrieb wieder etwas schärfen sollen. Oder glauben Sie, meine Damen und Herren, jemand ließe sich von einem schrecklichen Monster beeindrucken, das schon gegen eine simple 45er wehrlos ist?"
"Warum ist man bisher noch nicht auf Computersimulationen umgestiegen?" wollte die Studentin von vorhin auch weiterhin freundlich wissen. "Wären diese nicht weitaus kostengünstiger?"
"Natürlich wären sie das", bestätigte der Direktor, "und wir haben es auch versucht, doch stellten sie sich als unzuverlässig heraus. Nehmen wir zum Beispiel den weißen Hai: Wir haben ihn ungefähr fünfhundert Szenarien durchlaufen lassen und kein einziges sagte voraus, dass er so dumm sein würde, in ein Stromkabel zu beißen. Daraufhin sind wir wieder auf die herkömmlichen Testmethoden umgestiegen und haben die Szenarien mit den übrigen Monstren als Computerspiele verkauft."
Die Studenten hatten noch nicht einmal das erste 'Szenarien' fertig geschrieben, als der Direktor schon wieder fortfahren wollte, jedoch in diesem Moment die Tür zum Treppenaufgang aufflog und ein Mitarbeiter mit weißem Kittel und rotem Gesicht schwer keuchend hereingestürmt kam. Er hielt stolpernd auf den Direktor zu, wobei er einige winzige Kühe zertrat und fast am Modellwald hängenblieb, was der Direktor mit einem finsteren Blick quittierte. Doch der eilige Wissenschafter kümmerte sich nicht darum, sondern kämpfte sich durch die Studentenmenge durch und blieb atemlos vor seinem Vorgesetzten stehen.
"Was gibt es?" wollte der Direktor verärgert wissen. Allmählich wandelte sich das aufgeregte Tomatenrot des Wissenschafters in ein entsetztes Leichenweiß
"Er ... er ist ... ausgebrochen!" keuchte er.
"Wer?" drängte der Direktor. "Wer ist ausgebrochen?"
Der Wissenschafter brachte nur eine atemlosen Schnaufen hervor.
"Der schreckliche Gorgon?" fragte der Direktor.
Der Wissenschafter schüttelte nur sprachlos den Kopf.
"Der grauenhafte Zorn?"
Wieder nur ein Kopfschütteln. Der Wissenschafter holte noch mehrmals tief Luft und riss sich zusammen. "G ... G ... Gu ...", stammelte er, war jedoch nicht fähig, den vollen Namen hervorzupressen.
"Gu - was? Etwa der entsetzliche Gurion?" Es war bloßer Zufall, das ausgerechnet dieses Monster den Namen des großen israelischen Politikers trug. Darauf wiesen besonders die jüdischen Mitarbeiter immer wieder hin.
"Gumon!" brach es aus dem entsetzten Mitarbeiter endlich hervor.
"Gumon!" stieß der Direktor fassungslos aus. Er war nun ebenso blass wie sein Kollege, wohingegen die Studenten nur ratlos umherstanden und unsicher das Geschehen verfolgten.
"Gumon?" wiederholte der Direktor und wich einen Schritt zurück. Dafür quollen seine Augen hervor. "Gott der Allmächtige!" Er stützte sich haltlos auf eine der Apparaturen, die sofort zuschnappte und ihn fast einen Finger gekostet hätte, was der Direktor aber nicht einmal merkte. "Wann?" konnte er nur noch fragen.
"Gerade eben", erwiderte der Wissenschafter. "Wir haben Sie sofort gesucht!"
"Und keinen Alarm gegeben?" Schon fuhr der Direktor hoch und war wieder auf den Beinen. Der Wissenschafter brachte nur beschämendes Schweigen hervor.
Quer durch die Kleinstadt stürmte der Direktor zur gegenüberliegenden Wand, wo sich ein kleines rotes Kästchen mit einer noch kleineren Glasscheibe befand. Diese schlug er ein und drückte den kleinen schwarzen Knopf darin. Ein durchdringendes Heulen erklang im ganzen Gebäude.
"Äh, Sie haben eben den Feueralarm ausgelöst, Sir!" wies ihn der Wissenschafter freundlich hin. Also wandte sich der Direktor dem kleinen schwarzen Kästchen gleich daneben zu, schlug dessen Glasscheibe ein und drückte den kleine roten Knopf. Ein nicht weniger durchdringendes Jaulen gesellte sich genau asynchron zu dem durchdringenden Heulen, wodurch sich ein trommelfellfeindlicher Kanon ergab.
Irgendwo mehrere Stockwerke unter ihnen rückte sogleich eine momentan etwas akustisch beeinträchtigte Einsatztruppe aus.
Wortlos, da sie ihn ohnehin nicht verstanden hätten, verließ der Direktor die verwirrte Gruppe Studenten und fuhr mit dem Aufzug in einen Stock, für den sich kein Knopf auf der Leiste des Lifts fand: Das Krisenzentrum.
Typische Aufregung herrschte in dem großen Raum gut hundert Meter unter der Erde, der wie eine miniaturisierte Ausgabe des NASA-Kontrollzentrums wirkte. Mehrere Bildschirme zeigten überdimensionierte Abbildungen von Stadtplänen, die sich auf den wesentlich kleineren Monitoren an den Kontrollpulten je nach Zuständigkeit wiederholten. Hektische Betriebsamkeit schlug dem Direktor entgegen als er aus den Lift trat, doch war das hier immer der Fall. Selbst hatte er es zwar noch nie miterlebt, aber der Direktor argwöhnte, dass sogar an den Wochenenden ein paar Leute hier waren und Panik verbreiteten.
"Wie sieht es aus?" hielt er wahllos einen der vorübereilenden Mitarbeiter in weißem Kittel und mit einigen Zetteln in der Hand an.
"Kein Ahnung", erwiderte dieser, wesentlich ruhiger als es zu seinem panischen Auftreten passte.
"Was soll das heißen, keine Ahnung? Sie arbeiten doch hier, oder?"
"Ich bin nur hier, um für die richtige Kulisse zu sorgen", sagte der Mann nüchtern und hastete davon. Einige Meter weiter gab er seine Papiere an einen anderen Statisten weiter, der damit zurückeilte.
"Herr Direktor, Gott sei Dank!" rief ein weiterer Mitarbeiter, der ebenso aufgeregt wirkte, jedoch zusätzlich auch zuständig erschien. Es handelte sich um einen der stellvertretenden Manager, die sich im Institut um die geschäftliche Seite wie Vermarktung und Kundenwerbung kümmerten. Bisher hatte er das Krisenmanagment mehr schlecht als recht gehandhabt und war somit froh, dass er von dieser unseligen Aufgabe nun befreit wurde.
"Der Gott hier bin ich", hielt ihm der Direktor entgegen. "Wie stehen die Dinge?"
"Gumon ist noch nicht weit gekommen. Wir hoffen, ihn zu erwischen, bevor er die Innenstadt erreicht und eine echte Panik ausbricht."
"Hat ihn schon jemand gesehen?"
"Ich fürchte schon. Es gibt auch schon Opfer zu beklagen", fügte der stellvertretende Manager nach einer kurzen Pause leise hinzu.
"Oh mein Gott", presste der Direktor hervor und sein Gesicht schien etwas an Farbe zu verlieren. "Weiß man näheres?"
"Einer alten Frau trug er die Einkaufstüten nach Hause und einem kleinen Kind half er, als es mit dem Rad gestürzt war. Das Kind ist so weit in Ordnung, aber die alte Frau ..." Der stellvertretende Manager machte wieder eine Pause und holte tief Luft. "Für sie kam jede Hilfe zu spät."
"Sir, wir haben Kontakt zur Einsatzgruppe!" wandte sich einer der Mitarbeiter weiter vorne an sie. Sogleich eilten der Direktor und der stellvertretende Manager zu ihm.
"Sind jetzt kurz vor der Innenstadt", verkündete die Stimme des Kommandanten aus dem Lautsprecher des Pultes. "Wir sind ihm dicht auf den Fersen, haben ihn in einem Haus in die Enge gedrängt."
"Sehr gut!" lobte der Direktor. "Holen Sie ihn nun raus. Aber Vorsicht, er ist gefährlich!"
"Jawohl, Sir!" Die Verbindung wurde unterbrochen und der Direktor wandte sich zufrieden an den stellvertretenden Manager.
"Sie haben ihn gestellt", klärte er ihn über den neuesten Stand der Dinge auf, obwohl der Manager nicht weiter vom Lautsprecher entfernt gestanden hatte als der Direktor selbst. "Sieht so aus, als hätten wir noch einmal Glück gehabt. Nicht auszudenken, wenn Gumon die Innenstadt erreicht hätte ..."
"Wer oder was ist dieser Gumon überhaupt?" fragte ein unscheinbarer Mann, der, im Gegensatz zu allen übrigen im Raum, keinen weißen Kittel sondern einen einfachen Anzug trug und ihnen bisher wortlos gefolgt war. Darum bemerkte ihn der Direktor auch erst jetzt.
"Wer ist das?" wollte er vom stellvertretenden Manager wissen.
"Ein Investor", erklärte dieser knapp.
"Tatsächlich?" meinte der Direktor verwundert. "Sieht gar nicht aus wie ein Japaner."
"Ich bin auch keiner", sagte der Investor.
"Araber?"
"Amerikaner."
"Tatsächlich?" sagte der Direktor noch einmal. Mehr zu sagen bekam er nicht die Gelegenheit, denn im Lautsprecher meldete sich ein Rauschen und Knistern. Entsetzte Schreie und Schüsse kamen hinzu, dann die Stimme des Kommandanten.
"Allmächtiger, was ist das hier?" Seine Stimme klang hysterisch. "Was ist das für ein Monstrum?"
"Beruhigen Sie sich, Kommandant! Was ist passiert?"
"Es ... es hat ... Mein Gott, es ist schrecklich!"
"Was ist passiert?" schrie ihn der Direktor an. Die Schreie im Hintergrund rissen nicht ab, doch die Schüsse wurden weniger.
"Wir hatten ihn fast! Dann ... Einer meiner Leute musste schießen und ..."
"Schießen? Was ist passiert?"
"Er hatte eine Ladehemmung. Verstehen Sie! Er musste schießen und hatte ein Ladehemmung!" Die Stimme des Kommandanten wurde unkontrolliert. Er schien unter Schock zu stehen. "Das Vieh hat ihm geholfen! Es hat ihm geholfen, die Hemmung zu beheben!"
"Haben Sie ihn?" wollte der Direktor wissen.
"Dann hat er sie aufgehoben!"
"Was?"
"Vor Schreck. Sie haben ihre Waffen vor Schreck fallenlassen und er hat sie wieder aufgehoben! Sir, was ist das für ein Vieh? Etwas so Schreckliches habe ich noch nie zuvor gesehen!"
"Bleiben Sie dran, Kommandant, Sie müssen ihn unbedingt erwischen." Der Direktor stockte einen Moment, dann sagte er: "Tot oder lebendig."
Nachdem er die Verbindung unterbrochen hatte, wandte er sich an den Investor.
"Sehen Sie", sagte er unheilvoll, "das ist Gumon."
"Ein Monster, das Ladehemmungen behebt und alten Frauen die Tüten trägt?" erwiderte der Investor amüsiert. Doch es war ein nervöses Lachen, das er zustande brachte.
"Viel schlimmer", entgegnete der Direktor und holte etwas weiter aus. "Sie müssen wissen, die Namen, die wir unseren Wesen geben, haben eine bestimmte Bedeutung. E.T. etwa bedeutet 'Einfach telefonieren'."
"E.T.?" lachte der Investor. "Ich dachte, Sie erzeugen schreckliche Monster und alles zerstörende Ungeheuer? E.T. ist doch harmlos!"
"So, Sie bezeichnen also einen häßlichen, verschrumpelten Kerl, der säuft und sich an kleinen Mädchen vergreift als harmlos? Aber egal, denn es geht hier nicht um E.T. Es geht um Gumon."
"Und was soll Gumon nun bedeuten?" wollte der Investor wissen.
"Gumon bedeutet nichts anderes als 'Gutes Monster'. Er ist ein Ungeheuer, das den Menschen nur Gutes tut."
Die schicksalsschwangere und äußerst theatralische Pause, die der Direktor nun folgen zu lassen gedachte, nutzt der Investor leider nicht entsprechend. Stattdessen zerstörte er sie mit einem verständnislosen:
"Und?"
"Ein Ungeheuer, das nur Gutes tut!" wiederholte der Direktor, diesmal eindringlicher. "Wie würden Sie wohl reagieren, wenn ihnen jemand anbietet, die Einkäufe zu tragen oder sie mitzunehmen, wenn Ihr Auto irgendwo liegengeblieben ist?"
"Ich würde vermutlich misstrauisch werden, wenn nicht sogar davon... Oh!" Der Investor verstand. "Mein Gott, was haben Sie da geschaffen?"
"Einen Prototyp. Er hätte nie auf die Menschheit losgelassen werden sollen. Sie ist noch lange nicht reif dafür."
Der Investor sagte nichts mehr. Vielmehr überlegte er sich seine Investition.
Abermals knackte der Lautsprecher im Kontrollpult. Die Schreie waren diesmal lauter und es waren eindeutig Frauenstimmen dabei. Die Lage spitzte sich zu.
"Sir?" meldete sich die Stimme des Kommandanten. "Sir!"
"Wo sind Sie?" verlangte der Direktor zu wissen.
"Wir sind jetzt beim Altersheim!"
"Wo sind Sie?" fragte der Direktor mit Nachdruck.
"Beim Altersheim!" wiederholte der Kommandant lauter. Der stellvertretende Manager wurde bleich.
"Oh mein Gott, meine Mutter ist da drinnen!" keuchte er.
"Wie ist die Lage?" fragte der Direktor nach einem kurzen, mitfühlenden Blick auf den stellvertretenden Manager.
"Wir haben das Gebäude umstellt", sagte der Kommandant. "Meine Leute sind vorbereitet. Diesmal kann es uns nicht entkommen!"
"Und die Zivilisten?"
"Die meisten konnten rechtzeitig raus. Eine der Pflegerinnen erlitt einen Anfall, als es ihr half ... Oh mein Gott, was ist das? Miller, was geht da vor?"
Der Direktor, der stellvertretende Manager, der Investor und alle anderen Mitarbeiter des Krisenzentrums hörten, wie jemand aufgeregt mit dem Kommandanten sprach, konnten ihn jedoch nicht verstehen. Er war zu weit vom Funkgerät entfernt.
"Es sind noch Leute in dem Gebäude!" erklang nun wieder die Stimme des Kommandanten. "Gebrechliche, die sich nicht rechtzeitig retten konnten. Wir haben versucht, sie herauszuholen, aber ..." Der Kommandant wurde von einer Stimme im Hintergrund unterbrochen. Aufgebrachte Hektik war zu vernehmen, ebenso einzelne entsetzte Schreie und das mehrfache Entsichern von Gewehren. "Da ist es! Es kommt raus! Und es ... es ... Oh mein Gott, es hat einen Rollstuhl! Das Monstrum schiebt einen Rollstuhl mit einer älteren Frau vor sich her." Die schrillen Schreie der älteren Frau erklangen weiter entfernt im Lautsprecher.
Der stellvertretende Manager sah den Direktor fragend an.
"Was soll das mit dem Rollstuhl?" fragte dieser den Kommandanten.
"Ich weiß nicht. Es sieht fast so aus, als ob ... Moment! Er verschwindet jetzt wieder im Heim! Jetzt kommt er wieder und - Noch ein Rollstuhl! Er schiebt noch einen Rollstuhl heraus, diesmal mit einem älteren Mann. Er ... Meine Güte! Er hilft den Leuten, die vor ihm fliehen wollen!"
Sprachlosigkeit herrschte im Krisenzentrum des Instituts für Monstrositätenbau. Nun wusste auch der Direktor nur noch einen Rat:
"Schießen Sie!" befahl er ruhig.
"Aber, Sir, ich kann nicht schießen. Die alten Leute ..."
"Schießen Sie!" brüllte der Direktor in das Mikrofon und man hörte den Kommandanten regelrecht erschrocken zusammenfahren. Dann brach die Verbindung abermals ab.
Als sich wenige schweigsame Minuten später der Kommandant wieder meldete, klang seine Stimme gedrückt.
"Sir, ich habe Ihren Befehle ausgeführt, Sir!" erklärte er.
"Und waren Sie erfolgreich?" wollte der Direktor wissen.
"Sir, leider nein, Sir! Er ist uns entwischt!"
Wortlos unterbrach der Direktor die Verbindung. Gumon war nun so gut wie in der Innenstadt.
"Rufen Sie den Präsidenten an!" wandte er sich an den Mitarbeiter am Kontrollpult. "Er wird den Ausnahmezustand verhängen müssen."
 

jon

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Um Himmels Willen! Wer hat denn die Entwicklung eines Gumon in Auftrag gegeben?!! Doch nicht etwa derselbe, der die Erfindung von Superman initiierte?! Gegen den muss man doch was unternehmen! Demnächst lässt er noch ein menschenähnliches Wesen kreieren, das sich opfert, um den anderen Menschen das gute Gefühl zu geben, sie hätten eine Chance, sich zu bessern oder gar die Erde in eine Welt voller Liebe zu verwandeln! – Oh, das gab's ja schon mal…

Schön skuril die Geschichte, die vielen kleinen Details zu entdecken macht Spaß. Nur habe ich irgendwie das Gefühl, es mit dem Beginn einer größeren Sache zu tun zu haben. Hoffentlich liege ich da richtig.
 



 
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