Hades

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Es war schon eine geraume Weile vergangen, seit ich den Brief des Hippokrates von Kos fand, dem Urvater der Medizin. Der eine oder andere Leser wird sich sicher noch daran erinnern, unter welch dramatischen Umständen er seine wahre Berufung gefunden hatte.

Ich dachte damals, dass mit dem Fund, der Übersetzung und der Veröffentlichung des Briefes meine Lust nach Abenteuern und Forschung getilgt war. Dem war aber leider nicht so. Oder Gott sei Dank. Je nachdem, wie man die folgenden Ereignisse betrachten möchte. Ich wurde häufig gefragt, wie die Menschen die Zeit mit den Göttern denn erlebt haben oder aber auch, was es noch für griechische Götter neben Hades und Zeus gegeben hatte.

Ungewollt beziehungsweise unbewusst gewollt begann ich mich also mit dieser Frage zu beschäftigen. Doch je mehr ich in Erfahrung brachte, desto sinnloser erschien eine Fortsetzung meiner Forschung. Denn es war ja bereits alles bekannt. Es war alles niedergeschrieben, was man heute über die griechische Mythologie wusste. Was sollte ich also noch entdecken?

Dann stieß ich auf Alexander den Großen. Seine Geschichte war mir hinlänglich bekannt, jedoch die Ursache seines Todes machte mich neugierig. Angeblich wurde er ja mit den Wassern des Styx vergiftet. Der Styx wiederum soll den Zugang zum Hades bilden und nur mit Hilfe von Fährmann Charon gelangt man dort hin.

Ein Zugang zum Hades also. Hat das eigentlich schon einmal jemand probiert? Es gibt lediglich Überlegungen und Zeichnungen über den Hades. Also so wie man ihn sich vorstellt. Aber war das auch tatsächlich so? Und vor allem, auf welche Weise gelangte man hinein?

Meine ersten Recherchen zum Zugang des Hades enttäuschen mich allerdings. Es gibt einen Fluss in Griechenland, von dem man annimmt, es wäre der antike Styx. In Wahrheit ist es aber nur ein paar hundert Meter langes Flüsschen, das auch nur sehr unregelmäßig fließt. Und über die Art und Weise hineinzugelangen, stand da schon gar nichts. Lediglich, dass man einen Obolus entrichten musste, den man sich unter die Zunge legte, um vom Fährmann übergesetzt zu werden.

Dann wurde ich wider Erwarten doch noch fündig. Die Vorstellung, den wahren Zugang zum Hades zu finden, elektrisierte mich. Ich nahm also unbezahlten Urlaub (eine Leichtigkeit zu Coronazeiten), packte meine sieben Sachen und saß einen Tag später in einen Flugzeug nach Griechenland. Wiederum eine Woche später durfte ich die Quarantäne verlassen und mein Abenteuer begann.

Mein Ziel war klar und mein Proviant reichlich. Ich hatte mich in ein kleines Gasthaus bei Pozzuoli einquartiert und mein Ziel war der Lago d’Averno, frei übersetzt „See ohne Vögel“. Diese Übersetzung fiel mir bereits daheim in Deutschland in die Augen und deshalb lenkte ich meine Recherchen in diese Richtung. Angeblich war er der Zugang zum Hades und gespeist wurde er vom Styx, was frei übersetzt nicht anderes hieß als „Wasser des Grauens“. Mit diesem Wasser wurde wohl auch Alexander der Große getötet.

Der See selbst lag am Westende von Pozzuoli, doch der Zulauf zu diesem See lag noch einen ganzen Tagesmarsch entfernt. Jedenfalls wenn man die große Hitze bedenkt und die langen Pausen, die erforderlich waren, um die Strecke unter diesen Bedingungen zu meistern. Mich dünkte, dass ich mir über den Rückweg vorläufig keine Gedanken machen musste. Aber ich war eben ein verwöhnter Europäer und so befand sich auch ein Schlafsack in meinem Gepäck.

Mein griechischer Gastgeber hatte nicht übertrieben, als er mich vor den Strapazen warnte. Ich marschierte los, als die Sonne gerade aufging. Den ganzen Tag lang hatte ich den See im Auge und ab und zu gelangte auch eine kühle Brise an meinen überhitzten Kopf, doch mein Ziel, den Zulauf des Lago d’Averno, den Styx, erreichte ich tatsächlich erst, als die Sonne gerade begann, unterzugehen. Hier ist der Styx natürlich eher als Mavronèri bekannt, seine Bedeutung ist jedoch die Selbe.

Bis zum Einbruch der Dunkelheit nahm ich mir die Zeit, mich zu erholen und die Landschaft in mich aufzunehmen. Eigentlich unsinnig, wenn man meinen Plan kennen würde. Aber große Taten erfordern eben große Vorbereitungen. Und die Nacht lieferte das perfekte Bühnenbild dafür. Nun fehlte nur noch eines, um meine Arbeit zu beginnen. Eine riesengroße Portion Mut.

Je dunkler es wurde und je ruhiger es in meinen Herzen wurde, fest davon überzeugt, das richtige zu tun, begann der Styx mich vollends zu fesseln. Ich breitete meinen Schlafsack aus, zündete ein kleines Lagerfeuer an, nahm mit einer kleinen Schüssel etwas Wasser aus dem Styx…und trank. Nun konnte ich nur noch warten. Ich legte mich hin und mir selbst eine Münze unter meine Zunge. Es gab jetzt nur noch zwei mögliche Enden: entweder, die Geschichte basiert nur auf einer Legende und es passiert nichts, dann hatte ich ein paar schöne Tage in Griechenland und würde morgen zurückfliegen. Oder an der Legende ist doch mehr dran, dann wird man in dieser verlassenen Gegend irgendwann einen leblosen Wanderer finden, der sich scheinbar verirrt und die Kräfte verloren hatte.

Gegen Mitternacht war es dann tatsächlich soweit. Mein Körper stellte seine Arbeit ein und ich selbst, nun eine stofflose Seele, entwisch aus selbigen. Seltsam. Als ich mich da so liegen sah, empfand ich keinerlei Mitleid für mich. Es war nur eine leere Hülle aus Fleisch, ich selbst in meinen jetzigen Zustand war aber viel mehr. Ich hörte unzählige Stimmen und konnte jede einzelne von ihnen mühelos verstehen. Allen voran verstorbene Verwandte und Freunde. Wirklich, es war ein fantastisches Gefühl. Das Wissen der Welt und noch mehr konnte ich mithilfe der Seelen, die ich vernahm mühelos abrufen. Und dennoch hörte und verstand ich auch, dass man das Leben so lange wie möglich genießen sollte.

Moment! Kann ich den Prozess denn überhaupt umkehren? Was habe ich da eigentlich getan? In meinen Drang nach Abenteuern, Forschung und grenzenloser Neugier verdrängte ich die einfachste Sache. Nämlich meine Familie und meine Freunde. Was würden sie wohl sagen und denken, wenn ich nicht mehr zurückkehre? Wenn sie die Nachrichten schauen würden und der Sprecher erzählt von einen deutschen Urlauber, der in Griechenland umgekommen ist? Aber keine Zeit mehr, diese Frage zu beantworten. Vorläufig jedenfalls. Es war Charon, der mich aus meinen Gedanken riss und als er in mein Blickfeld geriet, verschwanden auch die Stimmen, die ich bis dahin gehört habe. Als hätten sie Angst vor ihm.

Auf seiner maroden Fähre auf dem Styx, der im Übrigen neunmal den Hades umfließt, näherte er sich mir und der Position meines leblosen Körpers. Er summte ein monotones, melancholisches Totenlied. Die Seelen, die mit mir sprachen, verrieten es mir noch, bevor sie verstummten. Es ist ihm nicht zu vergelten. Sein Job ist langweilig, endlos und zermürbend.

Nur drei Lebewesen, zwei Sterbliche und eine Göttin, waren es vor langer Zeit, die eine unfreiwillige Abwechslung in die Arbeit von Charon brachten. Herkules und Orpheus waren sterblich. Und wegen Herkules musste Charon sogar ein Jahr ins Gefängnis. Was er tat, ist wohlbekannt. Auch im Brief des griechischen Arztes kann man es nachlesen.

Auch Psyche, die Götting der Seelen, konnte Charon überlisten. Mit ihrem Gesang. Der übelgelaunte Fährmann verfiel ihr und brachte sie ohne Gegenleistung über den Styx. So schaffte sie es, zu Persephone und der angeblichen Schönheitssalbe zu gelangen. Was sie aber fand, war lediglich ein todesähnlicher Schlaf. Eine List von Aphrodite, die eifersüchtig auf ihre Schönheit war und Angst hatte, man könnte sich von ihr abwenden. Eros konnte sie letztendlich aber noch retten.

Da stand Charon nun also an meiner Leiche um die Bezahlung entgegenzunehmen, damit ich über den Styx in den Hades befördert werden konnte. Man konnte ihn nicht bemitleiden um seine Arbeit. Und sein Aussehen war furchterregend. Ein knochiger, alter Riese, eingehüllt in Lumpen. Die toten Augen schienen sich in der Augenhöhle zu verstecken. Keinerlei Frohsinn war in ihm zu entdecken. Aber sein Wille war sehr stark und zwang jede unglückliche Seele zum Gehorsam. Er deutete mit seinen knochigen Fingern auf seine Fähre und ich gehorchte ihm. Zum zweiten Mal überkamen mich an diesen Fluss Zweifel. Das Wort Abenteuer wurde kleiner und das Wort Dummheit begann zu wachsen.

Die Überfahrt dauerte eine gefühlte Ewigkeit und Charon summte wieder sein melancholisches Totenlied. In ein Gespräch ließ er sich auch nicht verwickeln. Zu häufig wurde er bei solchen Gelegenheiten bereits überlistet. Mir war wirklich nicht wohl bei den Gedanken, das ich nun bald tatsächlich die griechische Unterwelt betreten würde und vielleicht sogar seinen gleichnamigen Herrscher gegenübertreten würde. Inzwischen schien es auch, als würde die reale Welt verschwinden und zu einem Albtraum werden, auf den man gerne verzichtet. Logisch eigentlich, die Welt der Lebenden ist ja auch nicht für die Toten bestimmt. Und umgekehrt. Vielleicht war das ja auch der Grund, warum man paranormale Ereignisse so schwer nachweisen konnte. Es gab zu wenige auf beiden Seiten, die eine Kontaktaufnahme wagten.

In weiter Ferne spürte ich bereits den Eingang zum Hades. Ein riesiges, furchteinflößendes Tor tat sich vor meinem inneren Auge auf, das sich seit den unglücklichen Vorkommnissen ausschließlich für die Toten öffnete. Unbewacht. Auch logisch. Der ursprüngliche Wächter, der dreiköpfige Höllenhund Zerberus, wurde ja entführt und durfte als Strafe nicht mehr zurückkehren. Meine Seele musste bei diesen Gedanken ein wenig lächeln. Was würde er wohl zu seinen Nachfahren sagen, die heute alle die besten Freunde des Menschen sind?

Bald legten wir endlich an und Charon stieß mich von seiner elenden Fähre, um trotzig wieder im dicken Nebel zu verschwinden. Nicht sehr lange und ich stand wieder alleine da. Kein Geräusch drang an meine geisterhaften Ohren. Vor mir ragte das gigantische Tor in den Hades auf. Diese Stille in Verbindung mit dem verschlossenen Tor wurde bald unangenehm und ich entschloss mich, anzuklopfen, um der Situation zu entkommen. Die Stimmen, die ich noch am Ufer des Styx gehört habe, sind schon längst verstummt. Sie würden mir dort drin also nicht helfen können.

Ein Krachen ertönte, als sich das Tor öffnete. Aber nur gerade soweit, dass man hineingelangen konnte. Ich ging noch einmal meine Optionen durch, die meine aktuelle Lage bot. Charon würde mich jedenfalls nicht mehr abholen. Und hinter dem Tor erwarteten mich aller Wahrscheinlichkeit nach Dämonen, die sich das menschliche Gehirn kaum auszumalen vermag. Hinter dem Tor war aber auch eventuell eine Möglichkeit, auch wenn sie noch so klein war, das Experiment zu beenden und in meinen Körper zurückzukehren. War er überhaupt noch lebensfähig? Wie lange war ich bereits tot? Ich hatte mein Zeitgefühl auf der Fähre von Charon vollständig verloren. Es konnte wenige Minuten, mehrere Tage oder sogar mehrere Jahre sein. Aber diese minimale Chance gab mir den Mut einzutreten und meine Neugier doch noch zu stillen. Als ich das unbewachte Tor zum Hades beschritt, da schloss es sich bereits wieder hinter mir und war…verschwunden. Kein Zurück mehr.

Den Hades darf man sich jetzt allerdings nicht wie ein weitläufiges Höhlensystem vorstellen wie ich sofort sehen konnte. Der Hades entspricht nicht im Geringsten unseren Vorstellungen von der Hölle oder von Helheim. Vielmehr ist es ein Zusammenspiel aus Himmel und Hölle, bestehend aus den elysischen Gefilden mit der Asphodeloswiese und Elyson und Tartaros mit dem Flammenfluss Pyriphlegeton. Alles andere im Hades war durchzogen von Vulkanen, Flammen und unerträglicher Hitze. Ein sterbliches Wesen hätte hier ohne göttlichen Beistand nicht einen Moment überlebt. Und jedes sterbliche Wesen, das einst hier war (auch Psyche war einst sterblich) hatte göttlichen Beistand. Offensichtlich und verdeckt.

Der Tartaros war die tiefste Region im Hades und hielt hier die Gottesfrevler mit ehernen Mauern und dem Flammenfluss gefangen. Auf der Asphodeloswiese dagegen existierte man schmerz- aber auch freudlos. Nur die Insel Elyson versprach hier die Glückseligkeit. Wenige schaffen es dorthin und praktisch niemand, bis auf vereinzelte Aufnahmen erreichen den göttlichen Status und wird in den Olymp erhoben. Sie sind bekannt als Herakles und Psysche.

Ich schweife aber ab. Ich stand, nachdem das Tor zugefallen war, also in einer lebensfeindlichen Umgebung. Weder war es der Tartaros noch war es die Asphodeloswiese. Denn dort, auf der Wiese, hätte ich ankommen müssen, um mich den Totenrichtern Minos, Rhadamanthys und Aiakos zu stellen. Soweit konnte ich mich noch belesen. Warum ich hier in dieser Zwischenebene gelandet bin, ergo weder im Tartaros noch auf der Wiese, konnte ich mir nicht erklären. Es würde wohl seine Gründe haben und ich würde selbige vielleicht noch erfahren.

Verschwommen am Horizont dieser unwirtlichen Umgebung konnte ich aber schwach am Horizont zwischen all den feurigen Widerschein etwas grün erhaschen. Dort musste die Wiese sein und ich würde weitere Antworten erhalten. Die Erkenntnis, dass es eine lange Reise werden würde, erfreute mich nicht gerade. Normalerweise dürfte ich ja noch nicht einmal hier sein. Aber was konnte mir jetzt schon noch groß passieren?

Das Grün war mein Ziel. Komme was da wolle, egal wie lange es dauerte. Und auch vor dem Urteil der Totenrichter hatte ich keine Sorge. Ein Gottesfrevler war ich zum Glück nicht. Also höchstens die Asphodeloswiese. Ich begann also meinen Weg durch diese lebensfeindliche Umgebung und entschloss mich, aus dem scheinbaren Unglück immer noch etwas Positives herauszuholen. Ich wollte mich mit den Bewohnern beschäftigen, die sich in dieser Unterwelt aufhielten.

Der ersten Bewohnerin, der ich begegnete, war die Chimäre. Ein ziegenähnliches Mischwesen. So gesehen also die Mutter aller Ziegen und später auch die Mutter aller Mischwesen. Und passend dazu sah ich in ihren Umkreis eine Herde Ziegen, grasend auf etwas Grün und halb ausgetrockneten Sträuchern, die hier wachsen durften. Niemand durfte die Grünfläche betreten. Die Chimäre fixierte mich und hatte etwas von einem Wachhund an sich. Für einen Moment erinnerte sie mich das an den bedauernswerten Zerberus.

Ich wagte eine Kontaktaufnahme. „Kannst du mich verstehen, Ziegenmutter?“ In ihren Augen las ich erstaunen, dass ich sie erkannte und eine Bestätigung. „Welchen Zweck erfüllen diese Ziegen?“ Die Chimäre antwortete nicht sofort, als müsste sie sich noch bewusst werden, was ich bezweckte. Und dann hörte ich sie so, wie ich die anderen Seelen gehört haben. Eine Kommunikation ähnlich der Telepathie. „Sie gehören Hades und geben Milch. Er liebt Milch und Käse.“ Ein Unterweltgott, der Milch und Käse liebt? Da musste ich ein wenig schmunzeln. „Du stellst meine Aussage in Zweifel?“ Das klang schon ein klein wenig aggressiv und ich beeilte mich zu versichern, das dem nicht so war, sondern dass ich soweit über Hades noch nicht nachgedacht habe. Die Chimäre schien sich zu beruhigen. „Wohin des Weges?“ fragte sie dann. „Ich bin auf dem Weg zur Asphodeloswiese, um mich den Totenrichtern zu stellen.“ „Und weshalb bist du dann hier?“ „Das habe ich mich auch gefragt. Aber vielleicht können die Richter meine Frage beantworten oder vielleicht sogar Hades selbst.“ „Du bist weder ein Gott noch ein Grieche. Bist du ein Eindringling?“ Die Chimäre wurde wieder misstrauisch. „Sagen wir, ich bin ein Abenteurer, der nicht mehr zurück kann.“ Sprach ich, verbeugte mich und setzte meinen Weg fort. Ich spürte noch eine ganze Weile die Augen der Chimäre hinter mir.

Weiter führte mich also mein Weg. Es war nicht wichtig, wie lange ich schon unterwegs war. Zeit spielte einfach keine Rolle mehr. Was für ein schwaches Konstrukt der Menschen um ein Gefühl von Kontrolle zu erhalten. Sollte ich widererwarten glücklich aus diesem Abenteuer entkommen, so würde ich so weit wie möglich nicht nach der Zeit sondern nach Gefühl leben.

Indes traf ich auf die nächsten Bewohner. Zum einen Echidna, unter anderem die Mutter von Zerberus, der Chimäre, der Sphinx, des nemeischen Löwen und zahlreicher weiter Monster. Zum einen eine verführerische Frau, zum anderen Teil eine riesige, grässliche, gefräßige Schlange. Ihre Aura verhieß nichts Gutes und ich war froh, dass sie mich nicht bemerkte.

Ich begegnete des Weiteren der Empusa, eine Spukgestalt der griechischen Mythologie sowie den Gorgonen. Ihre Namen sind Stheno, Euryale und Medusa. Sie zeichnen sich durch Schlangen auf ihren Köpfen aus, und jeder, der sie ansieht, erstarrt zu Stein. Nur gut, dass es nur bei lebenden Geschöpfen möglich war. Aber auch von Ihnen hielt ich mich gerne fern.

Schließlich traf ich auf die Erinnyen. Besser bekannt sind sie als Furien und sie sind die personifizierten Gewissensbisse bei Mord und verletzten Bräuchen. Ihre Namen sind Alekto, Megaira und Tisiphone. Ihnen konnte ich nicht entkommen. Sie erwarteten bereits mein Kommen. Tatsächlich habe ich etwas getan, was die Furien gegen mich aufbrachte. Ich entschied ganz bewusst, aus dem Leben zu scheiden, um hier in den Hades zu gelangen. Zwar legte ich eine Münze unter meine Zunge, doch lebte ich zu diesem Moment noch und begraben wurde ich auch nicht. Des Weiteren machten mir die Furien Vorhaltungen, dass ich nur für das erlangen von Wissen mein Leben geopfert habe.

Es war eine anstrengende, angsteinflößende und reinigende Standpauke, die mir die Furien da verpassten. Nun wusste ich auch, warum ich nicht auf der Wiese angekommen bin. Ich musste in der Zwischenwelt landen, damit mir die Furien buchstäblich den Kopf waschen konnten. Gerne hätten sie mich noch länger festgehalten, doch eine mächtige Stimme, die ich später als zum Totenrichter Minos gehörig identifizierte, stoppte ihr Treiben und lies mich wieder etwas Kraft schöpfen.

Sein Eingreifen tat wirklich gut. Und lies mich hoffen. Da war etwas im Hades, was ein Auge auf mich geworfen hatte und nicht durch und durch böse war. Die Stimme verklang. Die Furien zogen sich zurück.

Ich setzte also meinen Weg fort in der Hoffnung, dass ich das Schlimmste überstanden habe und dass die Stimme, die die Tortur beendete, auch das nächste Mal eingreifen würde. Sehr weit kam ich nicht, denn vor mir vernahm ich das Rattern von Wagenrädern und das Schnauben von vier Pferden. Sehr schnell kamen Gefährt, Pferde und Wagenlenker auch in mein Sichtfeld.

Ich erkannte das Gefährt, das da auf mich zusteuerte. Ich las erst kurz vor meiner Abreise nach Griechenland davon. Und auch den Wagenlenker erkannte ich demzufolge. Das Gefährt war eine Quadriga, ähnlich wie auf dem Brandenburger Tor. Gezogen wurde sie von Aethon, Alstor, Nykteus und Orphnaisos, vier prächtigen, schwarzen Rössern. Und sein Eigentümer war niemand anderes als Hades höchstselbst. Da ich keine Idee hatte, wie ich reagieren sollte, so blieb ich einfach stehen und harrte auf die Dinge die da kommen mögen.

Die Quadriga selbst war ein prächtiger Streitwagen. Passend zu seinen vier Rössern präsentierte sie sich ganz in schwarz und natürlich um einiges größer als ein normaler Streitwagen, angepasst an seinen Lenker. Auch die Rösser waren eine Augenweide. Größer als jedes andere Pferd auf der Erde und mit einen wilden, unzähmbaren Temperament. Das musste man Hades lassen. War er auch der Gott über das Totenreich, so hatte er doch auch einen guten Geschmack.

Und dann war da natürlich Hades selbst. Eine imposante Erscheinung. Ungelogen so hoch wie drei ausgewachsene Männer und fast dreimal so breit. Selbst Riesen wie Dwayne Johnson, The Great Khali oder Dirk Nowitzki wirkten dagegen wie Spielzeug. Aber auf was ich persönlich sehr neidisch bin ist sein fünf Ellen langer, pechschwarzer Bart und sein dichtes, lockiges Haupthaar. Allein damit wirkte er schon respekteinflößend, wenn man mal von seiner Kraft und Größe absah. Eine Ideale Erscheinungsform, um die Bewohner der Unterwelt in Schach zu halten, wenn es denn nötig war.

Ich spürte, dass der Herr der Unterwelt mir nicht unbedingt wohlgesonnen war. Er war aber auch nicht eindeutig feindselig. Es war irgendetwas dazwischen. Ich vermutete, dass dies mit meinen Erscheinen zu tun hatte. Wahrscheinlicher ist aber, dass er nach wie vor mit seinen Los haderte, was er nach dem Krieg und Sieg über Titanen gezogen hatte. Man erinnere sich. Seinem Bruder Zeus kam der Olymp zu. Sein Bruder Poseidon erhielt das Meer. Und ihm blieb nur die Unterwelt. Seitdem kühlten seine Beziehungen zum Olymp immer mehr ab. Man hatte Angst vor ihm und nach und nach freundete er sich mit dieser unschönen Tatsache an und empfand die Unterwelt bald tatsächlich als sein neues Zuhause. Selbst seine größte Eroberung, Persephone, die Tochter des Zeus und seiner Schwester Demeter, durfte 6 Monate im Jahr auf die Erde. In dieser Zeit war er besonders griesgrämig.

Hades deutete mir an, dass ich seine Quadriga besteigen sollte. Augen zu und durch, dachte ich mir nur. „Der kleine Mensch hat Angst vor mir. Das gefällt mir, aber leider darf ich dich nicht foltern, kleiner Eindringling.“ Das war eindeutig. Ich habe vergessen, dass die Toten und die Götter in jeder Form kommunizieren konnten. Und ich glaubte zu wissen, dass Persephone gerade jetzt auf der Erde weilte. „So ist es leider.“ antwortete mir Hades. „Vielleicht nehme ich es zurück, dass du Angst vor mir hast. Da fällt mir ein: ich darf dich zwar nicht foltern, doch welchen Weg wir zur Asphodeloswiese nehmen, das ist mir nicht vorgeschrieben. Nun denn, ich zeige dir den Tartaros.“ Sprach es, knallte mit der riesigen Peitsche und die wilde Fahrt begann. Ich stellte bald fest, dass ich in der Quadriga vollkommend sicher war. Wer Hades und sein Gefährt erblickte, machte den Weg frei und so gewann ich schnell meine alte Fassung zurück, die ich seit dem Ritual der Erinnyen verloren hatte. Irgendwann trafen wir auf eine eherne, gigantische Mauer. Und vor dieser Mauer floss ein Fluss aus Flammen, der sich dahinter fortsetzte. Wir waren vor den Toren von Tartaros angekommen. Dahinter würden der wahre Schrecken und die größten Tragödien dieser Unterwelt auf mich warten. Ich hielt zum Glück stand und vertraute den Worten von Hades, dass er mich nicht foltern durfte.

Das Tor öffnete sich schwerfällig. Hades schwang wieder seine Peitsche, die Rösser stürmten voran und als wir drinnen waren, fiel es auch schon wieder zu. Innerhalb des Tartaros wurden die Tore von den Hekatoncheiren bewacht, den Hundertarmigen, einst von Uranos verbannt und später von den zukünftigen Herrschern des Olymp befreit. Sie warfen Steine auf die Titanen und sperrten sie ein. Als sie gefesselt wurden, wurden sie auch in den Tartaros gestoßen, aus dem sie nicht mehr entkommen konnten, da Poseidon eben diese Mauern errichten ließ.

Hier war es noch unerträglicher als in der Zwischenwelt. Nicht nur Hitze war zu spüren, sondern auch Angst, Hass und Verzweiflung. Vor allem den Hass der Titanen Iapetos und Koios war zu spüren. Hatte mich Hades hierher gebracht, damit ich mir bewusst werden sollte, welche Torheit ich begangen hatte, als ich von den Wassern des Styx trank? Waren dafür nicht die Totenrichter zuständig? Habe ich nicht zudem schon von den Erinnyen meine Lektion erhalten? Mein Vergehen muss wahrhaft schlimm gewesen sein, doch trotzdem hielten die Totenrichter noch eine schützende Hand über mich.

Wir bereisten, sicher in der Quadriga stehend, den Tartaros und ich sah da zum Beispiel Sysyphos, der dazu verdammt war, einen großen Felsblock einen Berg heraufzurollen. Eine nie endende Aufgabe, denn kurz vor dem Gipfel rollte der Fels wieder hinunter.

Sysyphos konnte den Tod mehrfach überlisten, auch soll er Zeus an den Flussgott Asopos verraten haben, als er dessen Tochter Aigina raubte. Schließlich wird er von Hermes für seinen Frevel in die Unterwelt verbannt und zu dieser endlosen, unlösbaren Aufgabe verdammt.

Ich sah zudem die Danaiden, die fünfzig Töchter des Danaos. Auf seinen Befehl hin töteten alle bis auf eine ihre Ehemänner, alles Söhne des Aigyptos, in der Hochzeitsnacht. Dafür dürfen sie nun bis in die Ewigkeit Wasser in ein durchlöchertes Fass gießen.

Ich erblickte auch die Aloiden, ein Brüderpaar aus dem Riesengeschlecht. Sie bezwangen Ares und sperrten ihn für 13 Monate in ein ehernes Fass ein und versuchten zudem, die Götter im Olymp zu entthronen. Für ihre Frevel wurden sie in jungen Jahren getötet und im Tartaros Rücken an Rücken mit Schlangen an einer Säule gefesselt.

Und ich sah noch mehr verfluchte Gestalten, die nie wieder Glückseligkeit verspüren würden. Und je mehr ich von ihnen sah, umso beklommener wurde es mir. Ich bat Hades darum, er möge den Tartaros nun bitte wieder verlassen. Zuerst ignorierte er mich. Doch als meine Aura bereits angegriffen wurde von den Schrecken, den Leid und der Verzweiflung in dieser verfluchten Ebene, da erinnerte er sich an die Totenrichter. Bald waren wir wieder in der Zwischenebene, die mir nun regelrecht lieblich erschien. Mir ging es besser und ich schwor, dass ich den Tartaros, die Unterwelt überhaupt, nie wieder betreten würde. Insofern ich noch eine Chance erhielt, diesen Alptraum zu entfliehen.

War das nun endlich genug der Prüfungen und Strafen, die ich zu erdulden hatte? Hades hörte schon wieder meine Gedanken. „Jammere nicht, Erdling. Dein Los wird allemal besser sein als das Los der armseligen Kreaturen im Tartaros. Wenn es nach mir ginge, müsstest du für deine Frevel leiden. Aber ich muss auf das Urteil der Totenrichter hören. Auch wenn du kein Grieche bist.“ Von da an versuchte ich bis zum Eintreffen auf der Asphodeloswiese zu schweigen, genauer gesagt, nicht zu denken.

Wie ich bereits erwähnte, spielte die Zeit hier keinerlei Rolle. Ich musste weggetreten sein und als mein Geist wieder erwachte, da sah ich mich umgeben von saftigen Gräsern, hohen Bäumen und einer angenehmen Wärme. Sie hätten Freude in mir auslösen müssen, doch das taten sie nicht. Und ich sah unzählige Seelen. Sie litten keine Qualen, aber genauso wie ich empfanden sie keinerlei Freude. Wurde mein Urteil bereits vollstreckt? War das also mein Los, bis in alle Ewigkeit hier zu verweilen? Besser jedenfalls als in den Tartaros verbannt zu werden.

Dann aber sah ich vor mir endlich die Totenrichter. Von Hades fehlte jede Spur. Er ließ meinen Geist hier liegen und entschwand mit seiner Quadriga. Sein Verhältnis zu den Richtern war scheinbar nicht das Allerbeste. Als ich mich ein wenig erholt hatte, begann Minos, der höchste Richter, das Urteil zu verkünden. Also doch. Hades selbst hat man vielleicht schon angehört. Und vielleicht auch Charon. Oder aber man hat einfach meine Gedanken gelesen. Bin ich deshalb weggetreten?

Ich hatte jedenfalls im sehr großen Unglück noch ein viel größeres Glück. Minos hielt mir noch einmal meine Verfehlungen vor. Die ungezügelte Abenteuerlust. Die Selbsttötung durch das Wasser des Styx. Die Täuschung von Fährmann Charon. Das Betreten des Hades als Nichtgrieche. Die Kontaktaufnahme mit den Bewohnern des Hades. Die Notwendig gewordene Rettung durch Hades (Ok, Hades hätte mich am liebsten in der Zwischenebene also versauern lassen. Hat er ja aber so ähnlich bereits erwähnt). Und zu guter Letzt die Ablehnung des Tartaros und der griechischen Unterwelt selbst. An und für sich ein sehr schweres Vergehen. Die drei Richter plädierten allerdings dafür, alle Ereignisse für mich als Prüfung aufzuerlegen, um in Zukunft derartige dumme und tollkühne Aktionen zu vermeiden.

Hatte ich richtig gehört? Mich dünkte, ich sollte freigelassen werden. War das noch möglich? Dann entsann ich mich, dass die Zeit ja hier gar keine Rolle spielte. Doch ich wollte nicht zu voreilig werden. Ich wartete das endgültige Urteil ab. „Welches da lautet…“ setzte Minos meine Gedanken fort „Rückkehr in den menschlichen Körper und ewige Verbannung aus den Hades.“

Was für ein großartiges Urteil! Ich bekam sozusagen eine zweite Chance. Ich würde sie….

Weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht. Als ich die Augen öffnete, war es tiefe Nacht. Hatte ich das lediglich geträumt? Dem war jedenfalls nicht so. Auf dem Fluss sah ich noch Charon Richtung Hades entschwinden. Und meine Münze, die ich mir unter die Zunge gelegt habe, war auch verschwunden. Instinktiv tastete ich meinen Körper ab. Keine Verfallserscheinungen. Ich war wohl nur eine kurze Zeit im Hades. Möglicherweise noch nicht einmal eine Minute. Gepriesen sei die göttliche Macht. Egal welcher Götter.

Auch entsann ich mich meines Versprechens, den Hades nie wieder zu betreten. Das war jetzt sowieso nicht mehr möglich, doch wollte ich nun auch so leben, das ich niemanden erzürnen konnte und hoffentlich am Ende meines Lebens in das Himmelsreich Gottes aufsteigen darf.

Doch wie erschöpft fühlte ich mich noch. Ich schaute auf meine Uhr. Tatsächlich. Es war keine Minute vergangen, seit mein Körper den Dienst versagte und erneut erwachte. Ich machte es mir in meinen Schlafsack bequem, schloss die Augen und war im nu eingeschlafen. Am nächsten Tag stand die Sonne bereits hoch am Himmel, als ich wieder erwachte.

Hunger und Durst plagten mich. Ich schaute in meinen Rucksack, was noch vom Vortag übrig geblieben ist. Es konnte nicht mehr viel sein und mir stand noch der Rückweg bevor. Doch lese und staune! Gepriesen seien alle Götter. Mein Rucksack war gefüllt mit den köstlichsten Speisen, die selbst die Götter im Olymp erfreut hätten. Und ich war davon überzeugt, dass diese Speisen vielleicht tatsächlich aus dem Olymp kamen. Mit freundlichen Grüßen von Hades. So stellte ich es mir jedenfalls vor. Denn abgrundtief böser war er doch nicht gewesen.

Ich stärkte mich jedenfalls reichlich. Danach trat ich den Rückweg ins Hotel an. Den Weg kannte ich nun. Es war auch nicht so heiß wie am Vortag und am späten Abend kam ich im Hotel an. Ich blieb noch eine Woche, um mich vollständig zu erholen und mir zu überlegen, wie ich die Ereignisse verarbeiten sollte.

Nun sitze ich also hier in meinem Zimmer. Es brennt nur eine kleine Lampe. Erneut ist es tiefe Nacht. Ich habe gerade die letzten Zeilen meines Abenteuers niedergeschrieben. Wenn ich diesmal ins Bett gehe, so nur, um morgen früh erfrischt und gestärkt zu erwachen. Sämtliche Götter seien meine Zeugen!

Ach noch etwas. Auch wenn es mein bisher gefährlichstes Abenteuer war, so schließe ich es nicht aus, dass ich mich erneut nach Griechenland begebe. Denn den Olymp gibt es ja auch noch.
 



 
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