Hallo, ich liebe dich

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Bo-ehd

Mitglied
„Hallo, ich liebe dich“

Die Bank, auf die ich mich setzte, stand in verkehrter Richtung. Wenn man darauf saß, blickte man nicht über die gepflegten Beete und Sträucher in die Parkanlage hinein, sondern auf das Häusermeer der Großstadt. Irgendwelche Schelme, dachte ich mir, hatten sie einfach herumgedreht. Nun ja, Dächer und rauchende Schornsteine sind halt für manch einen interessanter als die Blütenpracht eines Rhododendron.
Obwohl ein älterer, nicht sonderlich gepflegter Mann die Bank bereits in Beschlag genommen hatte, nahm ich Platz. Wir schauten uns beide kurz an und nickten zum bescheidenen Gruß. Mir war auch nicht nach mehr Freundlichkeit zumute, denn ich war verzweifelt. So verzweifelt, dass ich mich nicht ohne Grund auf gerade diese Bank gesetzt hatte.
Mit einem Gefühl sowohl der Angst als auch der Gewissheit, den richtigen Ort gefunden zu haben, schaute ich auf den Abgrund, der sich keine zwei Meter vor meinen Füßen auftat. Tatsächlich ging es um die dreißig Meter steil nach unten. Unten befand sich eine Bahngeleise.
„Sie wissen, was das für ein Ort ist?“, fragte mich der alte Mann mit dem Stoppelbart. Er kramte einen Flachmann aus der Tasche seines verschlissenen Jacketts, nahm einen Schluck und reichte ihn mir. Ich lehnte dankend ab. Ich hätte Lust gehabt, mich zu betrinken, aber nicht mit Fusel.
„Natürlich weiß ich, was das für ein Ort ist. Was glauben Sie, warum …?“
Er ließ mich nicht zu Ende sprechen.
„Warum wollen Sie sich umbringen, junger Mann? Wenn ich Sie so anschaue, muss ich feststellen, dass Sie aus gutem Hause sind, vielleicht sogar ein wenig wohlhabend. Welches Unglück ist also über Sie gekommen, dass Sie Ihrem Leben ein Ende bereiten wollen?“
Er schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und fuhr fort, bevor ich antworten konnte. „Es ist die Liebe, stimmt’s? Sie haben Liebeskummer und wollen deshalb Ihr Leben aufgeben. Was zum Teufel hat Sie geritten, das Ihren Mitmenschen, Ihrer Familie, Ihren Freunden und vor allem sich selbst anzutun?“
Ich schwieg betroffen und wollte schon sagen „Was geht Sie das an?“, hielt mich aber zurück.
„Ich will Ihnen sagen, was Ihnen fehlt. Sie haben Liebeskummer, weil Sie über sich selber verzweifelt sind. Sie haben versagt, weil Sie nicht die Frau erobern konnten, die Sie über alles lieben. Ach, es ist doch immer dasselbe: Alle jungen Kerle, die sich hier hinunterstürzen, sind aus demselben Holz geschnitzt. Ich kann es bald nicht mehr mit ansehen, verdammt nochmal!“ Er schaute mich ärgerlich an und schüttelte den Kopf. „Sagen Sie bloß, ich habe Unrecht?“
„Nein, Sie haben Recht und den Nagel ziemlich genau auf den Kopf getroffen“, gab ich betroffen zurück. „Und trotzdem ist und bleibt es meine Sache.“
„Nun gut, dann springen Sie. Jetzt! Zeigen Sie, dass Sie ein Kerl sind, na los, machen Sie schon!“
Seine Worte trafen mich wie ein Hammer, und ich saß auf dieser Selbstmörderbank wie angenagelt und bewegte mich keinen Millimeter.
„Was ist? Wollen Sie nicht oder können Sie nicht?“, provozierte er mich weiter.
Ich schaute ihn wie entgeistert an.
„Wenn Sie schon nicht springen, dann erzählen Sie mir wenigstens Ihre Geschichte. Ich weiß zwar genau, was sie zum Inhalt hat, aber ich will sie aus Ihrem Munde hören.“
„Wollen Sie sie wirklich hören?“
„Natürlich, und Sie hören mir danach genau zu, was ich Ihnen zu sagen habe.“ Er nahm noch einen Schluck, dann streckte er die Beine aus und sah mich erwartungsvoll an.
Ich wartete, bis er wieder nach vorn schaute, dann sah ich ihn von der Seite an und wunderte mich über die dicken grauen Haare, die wie ein Pelz seinen Kopf zierten. Die Hand, die den Flachmann hielt, verriet, dass der Alte in seinem Leben hart gearbeitet hatte. Überhaupt war sie sehr groß, vielleicht hatte er früher viel Sport getrieben. Seine Fingernägel waren an den Rändern vorn schwarz und ungepflegt. Stadtstreicherhände!, dachte ich. Was hatte er wohl in seinem Leben alles durchgemacht, dass er jetzt so armselig aussah? Und warum bestritt er sein Leben in einem solchen Zustand?
„Wie Sie schon sagten, geht es um eine Frau, nein, das ist nicht korrekt“, begann ich. „Eigentlich um zwei.“
„Ach du lieber Gott, auch noch zwei! Sie können sich nicht entscheiden, oder?“
„Nein, das ist es nicht. Jetzt hören Sie doch einfach zu, was ich zu erzählen habe.“
„Gut, Entschuldigung“, kam es geziert höflich.
„Die beiden Frauen sind Geschwister. Verena ist genauso alt wie ich, Eva ein Jahr jünger. Das Alter spielt also überhaupt keine Rolle. Aber wenn ich jetzt anfange, sie zu beschreiben, werden Sie schon sehen, wo die Unterschiede liegen.“ Ich zögerte und sah in den Himmel, als sähe ich dort ihre Ebenbilder. Dann fuhr ich fort:
„Verena ist hübsch wie ein Filmstar. Mit ihren rotbraunen langen Haaren, dem wunderschönen Gesicht, ihrer traumhaft schlanken Figur und diesen Augen, die einen so verführerisch ansehen können, gehört sie zu den Schönheiten dieser Welt, die für mich unerreichbar sind. Verstehen Sie, was ich meine? Der Abstand zwischen ihr und mir ist etwa so groß wie der zwischen Ihnen und Sandra Bullock. Ich bin total vernarrt in sie, ja, ich bin mir sicher, dass ich sie unendlich liebe, aber sie wird mich nie anhören. Ist das nicht eine Tragödie? Ich würde ihr ein wunderschönes Leben bieten und wäre bereit, alles für sie zu opfern. Aber ich bin so verdammt durchschnittlich, und sie ist eine Göttin. Wir laufen uns fast täglich über den Weg, aber sie beachtet mich kaum. Sie grüßt zurück, sie lächelt auch, aber mit jeder ihrer Gesten wird mir bewusster, wie unerreichbar sie ist. Wissen Sie jetzt, was ich meine?“
„Oh ja, ich habe mich auch so unsterblich in hübsche Frauen verliebt, als ich in Ihrem Alter war. Glauben Sie mir, das geht fast allen jungen Männern so. Ich kann mich gut in Ihre Situation versetzen. Und nachts träumen Sie von ihr“, stellte er fest.
„Ja, das tue ich oft. Das ist ja eines meiner Probleme. Ich habe sie vor meinen Augen, und schon fange ich an, sie auch sexuell zu begehren. Und das kann zur Qual werden. Nein, es ist die Hölle.“
Der Alte schaute mich lange an, und ich ahnte, was in seinem Kopf vorging.
Wie recht er hatte, dieser alte Mann. Höflich wie er war, verkniff er es sich, auf meine Qualen näher einzugehen.
„Genug von der einen, was ist mit der anderen?“, fragte er.
„Ach!“, stöhnte ich. „Eva ist ja der eigentliche Grund, warum ich hier bin. Sie müssen das verstehen: Verena ist für mich unerreichbar, aber Eva nicht. Eva ist nicht ganz so hübsch, hm, keine andere Frau ist so hübsch wie Verena. Aber sie sieht auch im Vergleich zu ihrer Schwester immer noch verdammt gut aus. Eva ist etwas zierlicher und mehr der Familientyp: pflichtbewusst, höflich und sehr kameradschaftlich. Und selbstlos. Sie setzt sich gern für andere ein. Ich mag sie auch, aber nicht so sehr wie Verena, ach, Verena, ich bin einfach von ihrer Schönheit verblendet. Eva wäre durchaus die richtige Frau an meiner Seite.“ Ich merkte, wie ich mit meiner Meinung hin und her schwankte wie ein Mastbaum auf hoher See.
Der Alte schaute mich wieder fragend an und schüttelte dabei ungläubig den Kopf. „Also, hinter welcher sind Sie jetzt eigentlich her?“, fragte er leicht gereizt. „Beide geht ja wohl nicht. Welche geht Ihnen denn nun am meisten zu Herzen?“ Er klopfte mit seiner Rechten auf seine Brust.
„Ich würde Eva aus rationellen Erwägungen immer vorziehen, und ich bin mir sicher, sie würde mir helfen, ihre Schwester aus dem Kopf zu bekommen.“
„Gut! Dann wissen wir ja jetzt schon einmal, wo wir stehen“, resümierte der Alte in der Wir-Form. „Jetzt müssen Sie nur noch aus der Defensive kommen, verstehen Sie?“
„Nein.“
„Also passen Sie auf: Ich will Ihnen jetzt erklären, wie Sie sich aus dem Schlamassel herausmanövrieren können. Ihr Problem ist, dass Sie sich zu passiv verhalten. Auf welches Wunder warten Sie denn, während Sie untätig dasitzen und sich erhoffen, dass die anderen auf Sie zukommen. Sie müssen Vertrauen zu sich selber haben und nach außen kommunizieren, was Sie wollen. Ich neige fast dazu zu glauben, dass die beiden von Ihrem Glück gar nichts wissen. Haben Sie einer von beiden schon mal gesagt, dass Sie sie lieben?“
Ich schüttelte betroffen den Kopf.
„Ich war früher ein guter Sportler. Fußball, Leichtathletik, Basketball – überall war ich einer der Besten, vielleicht sogar der Beste. Im Training habe ich sie alle verputzt. Da waren wir unter uns, und ich habe ungezwungen aufgespielt und alles geschlagen, was Rang und Namen hatte. Aber wenn wir dann vor Publikum gespielt haben, bin ich sang- und klanglos untergegangen. Wissen Sie warum?“
Ich schüttelte wieder den Kopf.
„Ich hatte kein Selbstvertrauen. Ich hatte Angst zu versagen und mich zu blamieren. Das hat meine Leistungen dermaßen heruntergedrückt, dass ich völlig unter Form gespielt habe. Als ich dann auch noch ausgepfiffen wurde, habe ich aufgegeben. Und das war mein größter Fehler. Ich hätte zum Trotz in die Arena steigen und aller Welt zeigen müssen, dass ich der Champion bin. Verstehen Sie das?“
„Ja“, sagte ich, „aber meine Situation ist eine ganz andere.“
„Da irren Sie sich, mein Freund. Was Ihnen fehlt, ist genau das Gleiche, was mir damals gefehlt hat: Selbstvertrauen. Sie sind doch ein junger Mann mit Format. Zeigen Sie es. Vertrauen Sie darauf, wer Sie sind und was Sie können. Zeigen Sie sich von Ihrer besten Seite. Kämpfen Sie um die Frau, die Sie begehren, setzen Sie sich in Szene und geben Sie nicht auf, wenn Sie mal einen Korb bekommen. Bleiben Sie hartnäckig am Ball. Alles okay?“
Ich nickte, sagte kurz danke und ging. Ich hatte genug von seiner Belehrung. Andere hatten mir ähnliche Ratschläge schon im Dutzend gegeben. Ich hatte sie nie ernstgenommen. Dieser gute alte Mann aber hatte mir den Kopf gewaschen. Ich bewunderte ihn, wie treffsicher er mit seiner Lebenserfahrung mich und meine Probleme erkannt und analysiert hatte. Und ich war ehrlich zu mir selbst. Er hatte vollkommen Recht mit seinen Ratschlägen. Ich musste den zurückgezogenen, braven, verklemmten, introvertierten jungen Mann aufgeben und meine Ziele entschlossener verfolgen. Vor allem was Eva anging, weil ich bei ihr die größeren Chancen sah.

*

Mit dem Vorsatz, ohne jede Angst vor einer Zurückweisung Farbe zu bekennen und mich nicht abwimmeln zu lassen, kramte ich mein Handy hervor. Ich wählte die Nummer der Familie Brecht und rechnete damit, dass die Eltern oder jemand vom Hauspersonal den Hörer abnahmen, aber das war eine Fehleinschätzung. Eine junge Mädchenstimme meldete sich, und ich war völlig grundlos erschrocken. Es war Eva. Ich zögerte ungewollt einen Moment, dann zeigte ich die Entschlossenheit, die ich mir so sehr vorgenommen hatte.
„Hallo“, begann ich aufgeregt. „Ich liebe dich. Hier ist Julian. Ich wollte es dir schon immer sagen, aber ich wusste nicht, wie du … Du gehst mir einfach nicht mehr aus dem Sinn, und jetzt habe ich mir gedacht, ich sage es dir einfach. Es ist ein bisschen unromantisch, ich weiß, aber ich musste es einfach jetzt loswerden.“
„Oh Julian, es ist der Wahnsinn, wie du mir das jetzt durchs Telefon sagst. Du glaubst ja gar nicht, wie lange ich darauf gewartet habe. Ich liebe dich auch, sehr sogar. Wir haben uns in der Schule jeden Tag gesehen, und du hast immer so desinteressiert weggeschaut. Es hat mir jedes Mal einen Stich ins Herz versetzt. Ach, ich bin so glücklich, dass es jetzt endlich raus ist.“
Mir öffnete sich der Himmel auf Erden. „Mir wird ganz anders, wenn ich daran denke, wie viele schöne Zeiten wir hätten miteinander verbringen können. Oh, ich liebe dich, Eva!“
Die Leitung schien plötzlich tot zu sein. Nach einigen Sekunden, in denen nur ein schweres Atmen zu hören war, sagte das Mädchen am anderen Ende der Leitung mit schluchzender Stimme: „Schade, Julian, ich hatte mir soviel Hoffnung gemacht. Es ist wirklich schade. Hier ist Verena, aber ich werde es gleich Eva sagen.“
 
Zuletzt bearbeitet:

Lokterus

Mitglied
Guten Abend Bo-ehd,

endlich ist es mir möglich, eine ausführlichere Stellungnahme zu einem deiner Werke zu verfassen. Ich habe bereits einiges von dir gelesen und weiß nun, dass es dir bei deinen Kurzgeschichten vor allem auf den Schluss ankommt. Auf eine Wendung, welche die Erwartungshaltung des Lesers durchbricht und ihn im besten Fall mit einer angenehmen Überraschung im Gesicht entlässt.

Dies gelingt dir, wie in dem vorliegenden Text gezeigt, auch sehr zuverlässig. Ich habe die Pointe nicht erwartet und fand die Ironie darin sehr amüsant. Wirklich sehr gut!

Was ebenfalls auffällt, sind deine gute Kenntnisse der deutschen Grammatik und Rechtschreibung. Der Text ist solide geschrieben und lässt sich gut lesen.

Bis auf den gelungenen Schluss, hat er bei mir allerdings keinerlei Emotion hervorgerufen.

Ich spüre die Verzweiflung des Ich-Erzählers nicht. Alles liest sich so wunderbar aufgeräumt, wie ein frisch gesprengter Rasen. Schrecklich künstlich und bemüht grün. Man kann ohne zumindest eine Prise Chaos keine aufgewühlte Gefühlswelt darstellen. Der liebeskranke junge Mann, der gerade noch mit Selbstmordgedanken spielte, lehnt dankend und sehr vernünftig den Fusel des Alten ab und lässt sich daraufhin durch einen sehr langatmigen und vorhersagbaren Monolog nicht nur vom Selbstmord ab-, sondern mal ebenso dazu bringen, über seinen größten Schatten zu springen? Ich habe so einiges Liebesleid hinter mir und halte das für sehr unrealistisch.

Lass dir an dieser Stelle aber gesagt sein, dass das nun nicht heißt, dass ich deine Geschichte für unbrauchbar halte. Die Pointe funktioniert bestens. Mir fehlten einfach ein Paar Dinge auf dem Weg dorthin. Und ich bin ein absoluter Gefühlsmensch.

Für das gelungene Handwerk und die unterhaltsame Pointe kann ich ohne innere Konflikte vier Sterne vergeben. Die Geschichte ist gut. Sie ist nur nicht unbedingt etwas für Fans der Leiden des jungen Werther. ^^

Liebe Grüße
loki
 
G

Gelöschtes Mitglied 27550

Gast
Lieber Bo-ehd,
kann es sein, dass Du diese Kurzgeschichte vor langer Zeit eingestellt hattest....
Lokterus möchte ich voll umgänglich Recht geben, und nichts weiter hinzufügen...
Ich habe die Geschichte gerne gelesen...
herzlichst Sue
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Sue,
danke für die Bewertung. Die Geschichte habe ich jetzt erst eingestellt; sie ist aber schon uralt. Noch bevor ich in Rente gegangen bin, habe ich angefangen, für mich selbst Kurzgeschichten zu schreiben, um meinen Geist ein wenig zu trainieren und flott zu halten. Und um meine Sprache zu erhalten. Aus dieser Zeit stammt dieser Text. Wenn WORD nicht lügt, datiert er aus dem Jahr 2008. Ich habe die Geschichten alle aufgehoben; viele sind hier eingestellt.
Zu den Emotionen, die nicht da sind, siehe meinen Post an Loki.
Liebe Grüße Bo-ehd
 
G

Gelöschtes Mitglied 27550

Gast
Lieber Bo-ehd,
danke für Deine ausführliche Anmerkung...sehr, sehr gerne lesen ich Deine Geschichten.
Ich hoffe, bald wieder eine von Dir zu lesen...
liebe Grüße Sue
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Loki,
zuallererst dies: Ich bin froh, dass du meine Korrektur deiner Wolf-Geschichte nicht persönlich nimmst und sie lediglich als das ansiehst, was sie ist, nämlich nicht mehr oder weniger als eine Kritik.
Geschichten, in denen Jäger sich Auge in Auge mit Bär, Wolf oder Wildschwein begegnen, sind mir nicht neu. Ich habe mit meiner Firma in den Neunzigern für einen Großverlag Jagdzeitschriften produziert. Da gab es im Zweimonatsrhythmus Berichte über solche Begegnungen. Häufig im Altai und Ural, aber auch in den Steppen Sibiriens. Daher meine Neugier, wo deine Begegnung stattgefunden hat.
Zu deiner Kritik: Ich gebe dir da voll Recht. Heute versuche ich immer, über die Dialoge Emotionen aufzubauen (siehe meine letzte Geschichte "Ein Extra zum Kaffee"), damals - siehe mein Post an Sue - tat ich mich sehr schwer damit. Du liegst ganz richtig, dass diese Story von den Qualen getragen wird, die dieser Junge erlitt. Das hätte viel, viel besser rüberkommen müssen.
Wie so etwas passiert? Ganz einfach: Ich habe bei der Konstruktion des Inhalts falsche Schwerpunkte gesetzt. Wenn Verzweiflung, Entbehrung und Verlangen die Handlung vorantreiben, dann kann man das bei der Ausarbeitung nicht unterschlagen.
Das soll jetzt nichts entschuldigen; ich habe in mehreren meiner Geschichten derartige Defizite und bin froh, wenn ich mich darüber austauschen kann. In diesem Sinne einen schönen Sonntag noch.
Gruß Bo-ehd
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Sue,
ich stelle in Kürze eine Story ein, die so vollgepackt mit Emotionen ist, dass man mitheulen könnte. Lass dich überraschen.
Schönen Sonntag noch.
LG Bo-ehd
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Inga, hallo Chevron,
schön, dass euch meine Geschichte gefällt. Danke für die Sternchen.
Gruß Bo-ehd
 
„Hallo, ich liebe dich“

Die Bank, auf die ich mich setzte, stand in verkehrter Richtung. Wenn man darauf saß, blickte man nicht über die gepflegten Beete und Sträucher in die Parkanlage hinein, sondern auf das Häusermeer der Großstadt. Irgendwelche Schelme, dachte ich mir, hatten sie einfach herumgedreht. Nun ja, Dächer und rauchende Schornsteine sind halt für manch einen interessanter als die Blütenpracht eines Rhododendron.
Obwohl ein älterer, nicht sonderlich gepflegter Mann die Bank bereits in Beschlag genommen hatte, nahm ich Platz. Wir schauten uns beide kurz an und nickten zum bescheidenen Gruß. Mir war auch nicht nach mehr Freundlichkeit zumute, denn ich war verzweifelt. So verzweifelt, dass ich mich nicht ohne Grund auf gerade diese Bank gesetzt hatte.
Mit einem Gefühl sowohl der Angst als auch der Gewissheit, den richtigen Ort gefunden zu haben, schaute ich auf den Abgrund, der sich keine zwei Meter vor meinen Füßen auftat. Tatsächlich ging es um die dreißig Meter steil nach unten. Unten befand sich eine Bahngeleise.
„Sie wissen, was das für ein Ort ist?“, fragte mich der alte Mann mit dem Stoppelbart. Er kramte einen Flachmann aus der Tasche seines verschlissenen Jacketts, nahm einen Schluck und reichte ihn mir. Ich lehnte dankend ab. Ich hätte Lust gehabt, mich zu betrinken, aber nicht mit Fusel.
„Natürlich weiß ich, was das für ein Ort ist. Was glauben Sie, warum …?“
Er ließ mich nicht zu Ende sprechen.
„Warum wollen Sie sich umbringen, junger Mann? Wenn ich Sie so anschaue, muss ich feststellen, dass Sie aus gutem Hause sind, vielleicht sogar ein wenig wohlhabend. Welches Unglück ist also über Sie gekommen, dass Sie Ihrem Leben ein Ende bereiten wollen?“
Er schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und fuhr fort, bevor ich antworten konnte. „Es ist die Liebe, stimmt’s? Sie haben Liebeskummer und wollen deshalb Ihr Leben aufgeben. Was zum Teufel hat Sie geritten, das Ihren Mitmenschen, Ihrer Familie, Ihren Freunden und vor allem sich selbst anzutun?“
Ich schwieg betroffen und wollte schon sagen „Was geht Sie das an?“, hielt mich aber zurück.
„Ich will Ihnen sagen, was Ihnen fehlt. Sie haben Liebeskummer, weil Sie über sich selber verzweifelt sind. Sie haben versagt, weil Sie nicht die Frau erobern konnten, die Sie über alles lieben. Ach, es ist doch immer dasselbe: Alle jungen Kerle, die sich hier hinunterstürzen, sind aus demselben Holz geschnitzt. Ich kann es bald nicht mehr mit ansehen, verdammt nochmal!“ Er schaute mich ärgerlich an und schüttelte den Kopf. „Sagen Sie bloß, ich habe Unrecht?“
„Nein, Sie haben Recht und den Nagel ziemlich genau auf den Kopf getroffen“, gab ich betroffen zurück. „Und trotzdem ist und bleibt es meine Sache.“
„Nun gut, dann springen Sie. Jetzt! Zeigen Sie, dass Sie ein Kerl sind, na los, machen Sie schon!“
Seine Worte trafen mich wie ein Hammer, und ich saß auf dieser Selbstmörderbank wie angenagelt und bewegte mich keinen Millimeter.
„Was ist? Wollen Sie nicht oder können Sie nicht?“, provozierte er mich weiter.
Ich schaute ihn wie entgeistert an.
„Wenn Sie schon nicht springen, dann erzählen Sie mir wenigstens Ihre Geschichte. Ich weiß zwar genau, was sie zum Inhalt hat, aber ich will sie aus Ihrem Munde hören.“
„Wollen Sie sie wirklich hören?“
„Natürlich, und Sie hören mir danach genau zu, was ich Ihnen zu sagen habe.“ Er nahm noch einen Schluck, dann streckte er die Beine aus und sah mich erwartungsvoll an.
Ich wartete, bis er wieder nach vorn schaute, dann sah ich ihn von der Seite an und wunderte mich über die dicken grauen Haare, die wie ein Pelz seinen Kopf zierten. Die Hand, die den Flachmann hielt, verriet, dass der Alte in seinem Leben hart gearbeitet hatte. Überhaupt war sie sehr groß, vielleicht hatte er früher viel Sport getrieben. Seine Fingernägel waren an den Rändern vorn schwarz und ungepflegt. Stadtstreicherhände!, dachte ich. Was hatte er wohl in seinem Leben alles durchgemacht, dass er jetzt so armselig aussah? Und warum bestritt er sein Leben in einem solchen Zustand?
„Wie Sie schon sagten, geht es um eine Frau, nein, das ist nicht korrekt“, begann ich. „Eigentlich um zwei.“
„Ach du lieber Gott, auch noch zwei! Sie können sich nicht entscheiden, oder?“
„Nein, das ist es nicht. Jetzt hören Sie doch einfach zu, was ich zu erzählen habe.“
„Gut, Entschuldigung“, kam es geziert höflich.
„Die beiden Frauen sind Geschwister. Verena ist genauso alt wie ich, Eva ein Jahr jünger. Das Alter spielt also überhaupt keine Rolle. Aber wenn ich jetzt anfange, sie zu beschreiben, werden Sie schon sehen, wo die Unterschiede liegen.“ Ich zögerte und sah in den Himmel, als sähe ich dort ihre Ebenbilder. Dann fuhr ich fort:
„Verena ist hübsch wie ein Filmstar. Mit ihren rotbraunen langen Haaren, dem wunderschönen Gesicht, ihrer traumhaft schlanken Figur und diesen Augen, die einen so verführerisch ansehen können, gehört sie zu den Schönheiten dieser Welt, die für mich unerreichbar sind. Verstehen Sie, was ich meine? Der Abstand zwischen ihr und mir ist etwa so groß wie der zwischen Ihnen und Sandra Bullock. Ich bin total vernarrt in sie, ja, ich bin mir sicher, dass ich sie unendlich liebe, aber sie wird mich nie anhören. Ist das nicht eine Tragödie? Ich würde ihr ein wunderschönes Leben bieten und wäre bereit, alles für sie zu opfern. Aber ich bin so verdammt durchschnittlich, und sie ist eine Göttin. Wir laufen uns fast täglich über den Weg, aber sie beachtet mich kaum. Sie grüßt zurück, sie lächelt auch, aber mit jeder ihrer Gesten wird mir bewusster, wie unerreichbar sie ist. Wissen Sie jetzt, was ich meine?“
„Oh ja, ich habe mich auch so unsterblich in hübsche Frauen verliebt, als ich in Ihrem Alter war. Glauben Sie mir, das geht fast allen jungen Männern so. Ich kann mich gut in Ihre Situation versetzen. Und nachts träumen Sie von ihr“, stellte er fest.
„Ja, das tue ich oft. Das ist ja eines meiner Probleme. Ich habe sie vor meinen Augen, und schon fange ich an, sie auch sexuell zu begehren. Und das kann zur Qual werden. Nein, es ist die Hölle.“
Der Alte schaute mich lange an, und ich ahnte, was in seinem Kopf vorging.
Wie recht er hatte, dieser alte Mann. Höflich wie er war, verkniff er es sich, auf meine Qualen näher einzugehen.
„Genug von der einen, was ist mit der anderen?“, fragte er.
„Ach!“, stöhnte ich. „Eva ist ja der eigentliche Grund, warum ich hier bin. Sie müssen das verstehen: Verena ist für mich unerreichbar, aber Eva nicht. Eva ist nicht ganz so hübsch, hm, keine andere Frau ist so hübsch wie Verena. Aber sie sieht auch im Vergleich zu ihrer Schwester immer noch verdammt gut aus. Eva ist etwas zierlicher und mehr der Familientyp: pflichtbewusst, höflich und sehr kameradschaftlich. Und selbstlos. Sie setzt sich gern für andere ein. Ich mag sie auch, aber nicht so sehr wie Verena, ach, Verena, ich bin einfach von ihrer Schönheit verblendet. Eva wäre durchaus die richtige Frau an meiner Seite.“ Ich merkte, wie ich mit meiner Meinung hin und her schwankte wie ein Mastbaum auf hoher See.
Der Alte schaute mich wieder fragend an und schüttelte dabei ungläubig den Kopf. „Also, hinter welcher sind Sie jetzt eigentlich her?“, fragte er leicht gereizt. „Beide geht ja wohl nicht. Welche geht Ihnen denn nun am meisten zu Herzen?“ Er klopfte mit seiner Rechten auf seine Brust.
„Ich würde Eva aus rationellen Erwägungen immer vorziehen, und ich bin mir sicher, sie würde mir helfen, ihre Schwester aus dem Kopf zu bekommen.“
„Gut! Dann wissen wir ja jetzt schon einmal, wo wir stehen“, resümierte der Alte in der Wir-Form. „Jetzt müssen Sie nur noch aus der Defensive kommen, verstehen Sie?“
„Nein.“
„Also passen Sie auf: Ich will Ihnen jetzt erklären, wie Sie sich aus dem Schlamassel herausmanövrieren können. Ihr Problem ist, dass Sie sich zu passiv verhalten. Auf welches Wunder warten Sie denn, während Sie untätig dasitzen und sich erhoffen, dass die anderen auf Sie zukommen. Sie müssen Vertrauen zu sich selber haben und nach außen kommunizieren, was Sie wollen. Ich neige fast dazu zu glauben, dass die beiden von Ihrem Glück gar nichts wissen. Haben Sie einer von beiden schon mal gesagt, dass Sie sie lieben?“
Ich schüttelte betroffen den Kopf.
„Ich war früher ein guter Sportler. Fußball, Leichtathletik, Basketball – überall war ich einer der Besten, vielleicht sogar der Beste. Im Training habe ich sie alle verputzt. Da waren wir unter uns, und ich habe ungezwungen aufgespielt und alles geschlagen, was Rang und Namen hatte. Aber wenn wir dann vor Publikum gespielt haben, bin ich sang- und klanglos untergegangen. Wissen Sie warum?“
Ich schüttelte wieder den Kopf.
„Ich hatte kein Selbstvertrauen. Ich hatte Angst zu versagen und mich zu blamieren. Das hat meine Leistungen dermaßen heruntergedrückt, dass ich völlig unter Form gespielt habe. Als ich dann auch noch ausgepfiffen wurde, habe ich aufgegeben. Und das war mein größter Fehler. Ich hätte zum Trotz in die Arena steigen und aller Welt zeigen müssen, dass ich der Champion bin. Verstehen Sie das?“
„Ja“, sagte ich, „aber meine Situation ist eine ganz andere.“
„Da irren Sie sich, mein Freund. Was Ihnen fehlt, ist genau das Gleiche, was mir damals gefehlt hat: Selbstvertrauen. Sie sind doch ein junger Mann mit Format. Zeigen Sie es. Vertrauen Sie darauf, wer Sie sind und was Sie können. Zeigen Sie sich von Ihrer besten Seite. Kämpfen Sie um die Frau, die Sie begehren, setzen Sie sich in Szene und geben Sie nicht auf, wenn Sie mal einen Korb bekommen. Bleiben Sie hartnäckig am Ball. Alles okay?“
Ich nickte, sagte kurz danke und ging. Ich hatte genug von seiner Belehrung. Andere hatten mir ähnliche Ratschläge schon im Dutzend gegeben. Ich hatte sie nie ernstgenommen. Dieser gute alte Mann aber hatte mir den Kopf gewaschen. Ich bewunderte ihn, wie treffsicher er mit seiner Lebenserfahrung mich und meine Probleme erkannt und analysiert hatte. Und ich war ehrlich zu mir selbst. Er hatte vollkommen Recht mit seinen Ratschlägen. Ich musste den zurückgezogenen, braven, verklemmten, introvertierten jungen Mann aufgeben und meine Ziele entschlossener verfolgen. Vor allem was Eva anging, weil ich bei ihr die größeren Chancen sah.

*

Mit dem Vorsatz, ohne jede Angst vor einer Zurückweisung Farbe zu bekennen und mich nicht abwimmeln zu lassen, kramte ich mein Handy hervor. Ich wählte die Nummer der Familie Brecht und rechnete damit, dass die Eltern oder jemand vom Hauspersonal den Hörer abnahmen, aber das war eine Fehleinschätzung. Eine junge Mädchenstimme meldete sich, und ich war völlig grundlos erschrocken. Es war Eva. Ich zögerte ungewollt einen Moment, dann zeigte ich die Entschlossenheit, die ich mir so sehr vorgenommen hatte.
„Hallo“, begann ich aufgeregt. „Ich liebe dich. Hier ist Julian. Ich wollte es dir schon immer sagen, aber ich wusste nicht, wie du … Du gehst mir einfach nicht mehr aus dem Sinn, und jetzt habe ich mir gedacht, ich sage es dir einfach. Es ist ein bisschen unromantisch, ich weiß, aber ich musste es einfach jetzt loswerden.“
„Oh Julian, es ist der Wahnsinn, wie du mir das jetzt durchs Telefon sagst. Du glaubst ja gar nicht, wie lange ich darauf gewartet habe. Ich liebe dich auch, sehr sogar. Wir haben uns in der Schule jeden Tag gesehen, und du hast immer so desinteressiert weggeschaut. Es hat mir jedes Mal einen Stich ins Herz versetzt. Ach, ich bin so glücklich, dass es jetzt endlich raus ist.“
Mir öffnete sich der Himmel auf Erden. „Mir wird ganz anders, wenn ich daran denke, wie viele schöne Zeiten wir hätten miteinander verbringen können. Oh, ich liebe dich, Eva!“
Die Leitung schien plötzlich tot zu sein. Nach einigen Sekunden, in denen nur ein schweres Atmen zu hören war, sagte das Mädchen am anderen Ende der Leitung mit schluchzender Stimme: „Schade, Julian, ich hatte mir soviel Hoffnung gemacht. Es ist wirklich schade. Hier ist Verena, aber ich werde es gleich Eva sagen.“

Hallo Bo-ehd,

ich bin erst ein paar Tage bei der Leselupe.de und muss mich erst noch zurechtfinden, bei dem riesigen Angebot an Texten in der verschiedensten Sparten.

Diese Geschichte hat mich sehr begeistert. Ich finde sie ist sehr gut durchdacht und schlüssig. Die "tragisch-komische" Pointe gefällt mir besonders und lässt den Schluss zu, dass der arme Liebende nun völlig verwirrt ist.
Liebe Grüße
Armin
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Armin,
danke fürs Lesen und deine Kritik. Schön, dass dir die Geschichte gefällt. Pointen sollen so etwas wie mein Markenzeichen sein. Ich liebe das.
Lies andere Storys von mir, dann weißt du, was ich meine.
Übrigens: du musst bei einer Kritik, die die gesamte Geschichte betrifft, nicht den ganzen Beitrag kopieren. Kannst einfach loslegen. Willst du ins Detail gehen und Passagen oder Wörter kritisieren, musst du die Stelle markieren und auf "zitieren" klicken.
Gruß bo-ehd
 



 
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