Haralds Reise in ein sonderbares Land

Harald war wütend, sehr wütend. Er war doch nicht hergekommen, um sich den ganzen Abend über zum Narren halten zu lassen. Tief in sich zusammengesunken hockte er ein wenig abseits, pulte unter der Tischplatte an seinen schrundigen, von unzähligen kleinen Wunden übersäten Händen herum und hoffte, dass endlich ein anderer zur Zielscheibe ihres Gespötts werden würde. Doch es wollte einfach nicht aufhören; kaum dass einmal einer ein unverfängliches Thema angeschlagen hatte, fand sich auch schon ein anderer, der es mit ein paar mehr oder weniger geschickt eingeflochtenen Anmerkungen zuwege brachte, das Gespräch wieder auf Harald zurück zu lenken, woraufhin man sich erneut ausgiebig über allerhand ihm im Lauf der Jahre angedichtete Eigenheiten oder das eine oder andere Missgeschick, das ihm irgendwann einmal unterlaufen war, belustigte. Ganz gleich, ob das, was gerade zum Besten gegeben wurde, der Wahrheit entsprach oder auf freier Erfindung beruhte, tatsächlich komisch oder nur grobschlächtig und dumm war oder auch bösartig und verletzend, stets wurde schallend über ihn gelacht.
Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen, doch so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, ihm wollte einfach keine glaubwürdige Begründung einfallen, mit der er seinen vorzeitigen Aufbruch hätte rechtfertigen können, ohne sich eine zusätzliche Blöße zu geben. Außerdem fand er die Vorstellung, die gut sieben Kilometer bis zu seinem Dorf zu Fuß nach Hause zu gehen, auch nicht sehr erheiternd, zumal es seit ein paar Stunden heftig schneite.
Er hatte sich noch nie erklären können, was den anderen daran lag, ihn jedes Mal, dass man irgendwo beieinander saß, mit diesen gehässigen, abgedroschenen Sticheleien in Verlegenheit zu bringen; außer vielleicht, dass er der mit Abstand Jüngste der Belegschaft war und gelegentlich dazu neigte, sich unbedacht über Angelegenheiten zu äußern, von denen er wenig oder auch gar nichts verstand. Womöglich war es aber auch nur seine Wehrlosigkeit, von der sie sich immer wieder zu neuen Angriffen verleiten ließen, denn sie waren ihm nicht nur, was die handwerklichen Fertigkeiten anbetraf, weit überlegen, sondern auch sprachlich, und obendrein alle miteinander gewissenlos genug, sich dieser Vorteile zu bedienen, wann immer ihnen danach zumute war.
Das einzige Mal, das er sich am heutigen Abend getraut hatte zum Gegenangriff überzugehen, war er kläglich gescheitert; nicht einer war bereit gewesen, seinen wieder einmal viel zu langatmig und zu schwerfällig ausgefallenen Ausführungen zu folgen. Statt dass es ihm, so wie er sich das zuvor innerlich ausgemalt hatte, gelungen wäre, endlich einmal den anderen ordentlich eins auszuwischen, hatte er sich bereits nach wenigen Sätzen in den eigenen Fallstricken verfangen und ein weiteres, lang anhaltendes Hohngelächter über sich ergehen lassen müssen. Von da an hatte er beharrlich geschwiegen und seine Teilnahme an der Feier zum Abschluss der ihnen allen tief verhassten Winterbaustelle darauf beschränkt, vor sich hin brütend die unzähligen alkoholischen Getränke, die in ununterbrochener Abfolge vor ihn hin geschoben wurden, in sich hineinzuschütten. Obwohl er sich redlich bemühte, zu überhören, was gesprochen wurde, wollte ihm das in den Fällen, in denen es um ihn ging, einfach nicht gelingen. Vieles von dem, was ihm in die Ohren drang, gab seinem Groll zusätzliche Nahrung.
Irgendwann, die Gespräche hatten bereits begonnen sich zu wiederholen, und diejenigen, die frühmorgens Vieh zu versorgen hatten, sahen in immer kürzeren Abständen zur Uhr hin und sprachen davon, dass es langsam an der Zeit sei aufzubrechen, plusterte sich mit einem Mal der Kollege, mit dem er sich, da er ihm seit Monaten als persönlicher Handlanger zugewiesen war, ein wenig angefreundet hatte, mächtig auf und hob lauthals zu prahlen an, auch er wisse noch ein paar urkomische Geschichten zu erzählen, die ganz gewiss keiner in der Runde kenne. Natürlich wollten alle hören, um was es ginge, und Harald, dem schwante, was auf ihn zukam, spürte ganz deutlich, wie ihm siedend heiß das Blut zu Kopfe stieg. Dass ausgerechnet derjenige, von dem er angenommen hatte, er sei der einzige in der Firma, der, käme es ganz arg, zu ihm hielte, zu einer Niedertracht fähig war, die alle vorangegangenen in den Schatten stellte; niemals hätte er das gedacht.
Zum Bersten angespannt, und doch außerstande sich zur Wehr zu setzen, ließ er es über sich ergehen, dass seine dem anderen unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauten, alle miteinander geradeso harmlos wie unglücklich verlaufenen Liebschaftsangelegenheiten nun vor der ganzen Belegschaft ausgebreitet wurden. Der damit erzielte Heiterkeitserfolg war dann auch tatsächlich der Beachtlichste des ganzen Abends.
Harald wurde von einem unbändigen Schamgefühl übermannt; ärger hatte er es noch nie in seinem nicht eben an Anerkennung reichen Leben empfunden. Sein Herz begann zu rasen, der Schweiß rann ihm die Schläfen hinab, ihm schien, er würde alsbald ersticken. Unbeholfen versuchte er, sich so klein zu machen, wie es nur ging. Da er allerdings von durchaus beeindruckender Körpergröße war, empfanden die anderen das als über alle Maßen komisch und sahen sich angespornt, in neuerliche Lachsalven auszubrechen.
Harald überkam nun die Empfindung, als sei gerade irgendetwas in ihm dabei, in Stücke zu zerbrechen. Ihm war nicht klar, was mit ihm geschah, doch er spürte, dass gerade eben eine Grenze überschritten worden war. Bei allem, was man ihm bereits angetan hatte, und das war nicht wenig; eine Gemeinheit wie diese hatte sich ihm gegenüber bislang noch keiner herausgenommen. Noch fern jedweder Vorstellung davon, wie er sich verhalten sollte, wusste er nur eines: Diese Schmach durfte er unter keinerlei Umständen unwidersprochen hinnehmen. Ratlosigkeit und Scham vermischten sich mit einem unaufhaltsam in ihm hochkochenden Zorn, den er viel zu lang unterdrückt hatte, in der stets aufs Neue enttäuschten Hoffnung, es werde doch irgendwann einmal besser werden. Sich zugleich über sich selbst wundernd, nahm er wie durch einen nebligen Schleier hindurch wahr, dass er gerade im Begriff war, sich ganz langsam und bedächtig zu seiner vollen Größe aufzurichten. Das bis dahin anhaltende Gelächter verstummte innerhalb weniger Sekunden, und alle schienen gespannt zu warten, was wohl als Nächstes geschähe. Vorerst aber tat er nichts anderes, als jeden einzelnen in der Runde mit einem Blick tiefer Geringschätzung zu bedenken. Dann, ohne auch nur ein einziges Wort darüber, was gerade in ihm vorging, zu verlieren, beugte er sich jählings weit vornüber und begann mit seinen zu Fäusten geballten Pranken derart ungestüm auf die Tischplatte einzudreschen, dass das darauf stehende Geschirr auf und nieder sprang und einige Gläser zu Bruch gingen. Die Bestürzung, die er aus den Augen der von seiner ungewohnten Gegenwehr völlig überrumpelten Männer herauslas, tat ihm wohl. Nach wie vor schweigend fegte er mit ein paar schwungvollen, weit ausholenden Armbewegungen all das, was auf dem Tisch herumstand, über dessen Kanten hinweg. Da man eng nebeneinander gesessen hatte, landete der weitaus größte Teil des Porzellans, der überfüllten Aschenbecher, der Bier-, Schnaps- und Weingläser sowie die verbliebenen Reste des Essens, die fettigen Soßen und verschmähten Suppen auf den eigens dieser Feier wegen angelegten Sonntagsgewändern all derjenigen, die das Pech hatten, einen Sitzplatz in seiner Reichweite erwischt zu haben.
Für den Zeitraum einiger Sekunden schien die Zeit still zu stehen; auch Harald wurde nur mit einer gewissen Verzögerung gewahr, was sich gerade ereignet hatte. Erschrocken sprang er auf, hastete zur Garderobe hin, riss seine Jacke vom Haken und stürmte zur Tür hinaus.
Sie war noch nicht wieder ins Schloss gefallen, als er von drinnen her ein tosendes Gelächter vernahm, das nur ihm gelten konnte. Er erstarrte. Doch dann, gepackt von besinnungsloser Wut, besann er sich eines anderen. Er machte kehrt, schmiss die Jacke, die er gerade hatte überziehen wollen, achtlos in den Schnee, stieß die Tür auf, durchmaß den Raum mit schnellen, entschlossenen Schritten, ergriff die Schultern zweier ihm den Rücken zukehrender Kollegen und stieß sie mit einer derartigen Kraft seitwärts auseinander, dass sie mitsamt ihren Stühlen umschlugen und dabei noch ein paar der neben ihnen Sitzenden mit zu Boden rissen.
Das Erreichte schien ihm nicht gering, doch richtig zufrieden stellte es ihn auch nicht; schließlich war noch eine gehörige Menge des in all den Jahren aufgestauten Grimms in ihm und musste heraus. Also griff er mit beiden Händen unter die Platte des mächtigen, massiven Eichentischs, stemmte ihn in die Höhe und schleuderte ihn mit nach oben gerichteten Beinen auf alle diejenigen hinab, die nicht geistesgegenwärtig genug oder auch nur zu überrascht waren, sich in Sicherheit zu bringen.
Der Anblick, der sich ihm Sekundenbruchteile später bot, schien ihm unwirklich. Der Bereich der Gaststube, in dem ihre Feier stattgefunden hatte, glich nun einem Trümmerfeld. Einige der Männer lagen eingeklemmt unter dem umgestürzten Tisch und versuchten sich strampelnd zu befreien, ein paar wälzten sich ächzend und mit wild in der Luft herumfuchtelnden Gliedmaßen zwischen zerbrochenen Stühlen, Geschirr und Glas auf dem Boden herum, andere standen verstummt, mit schreckgeweiteten Augen und kreidebleichen Gesichtern abseits; die restlichen troffen nur so von den verschiedenartigen Flüssigkeiten, die sich über sie ergossen hatten.
Immerhin, bemerkte Harald, der verblüfft und reglos, alle anderen um Kopfeshöhe überragend, inmitten des Durcheinanders stand, war ihnen das selbstgefällige, höhnische Lachen vorerst einmal gründlich vergangen. Nun seinerseits nicht frei von Häme, verzog er seinen Mund zu einem schadenfrohen Grinsen, nickte einige Male bedächtig mit dem Kopf, rieb sich wohlig die Hände und sprach in beinahe heiterer Gelassenheit: „Fabelhaft! Ein erfrischender Anblick! Tadellos gemacht!“ Und trocken fügte er dann noch hinzu: „Das war nun wirklich überfällig!“
Seine Siegerlaune währte allerdings nicht lange. Obwohl seine Sinne vom Alkoholdunst arg vernebelt waren, begann ihm bereits die Tragweite dessen, was er soeben angerichtet hatte, zu dämmern. Weniger von seinem Verstand als von seinen Instinkten beeinflusst, erwog er, dass es nicht unbedingt nötig wäre, darauf zu warten, bis die noch in Fassungslosigkeit verharrenden Männer wieder zur Besinnung kämen und, was vorauszusehen war, zur Befriedigung des zu erwartenden Rachedurstes die Fäuste einsetzen würden. Rasch drehte er sich um und machte, dass er zur Tür hinauskam.
Gewiss eine gute Stunde lang kämpfte er sich nun schon verbissen durch den pulvrigen, tiefen Neuschnee, in dem er zuweilen bis zu den Knien einsank. Einige Male war er schon der Länge nach hingeschlagen, hatte es aber immer wieder geschafft, auf die Beine zu kommen; denn trotz seines Rauschs vergegenwärtigte er irgendwie, dass er unbedingt in Bewegung bleiben musste, wollte er nicht jämmerlich erfrieren.
Alle paar Schritte begann er erneut darüber zu fluchen, dass er nicht den Weg die Kreisstraße entlang genommen hatte, sondern in der Annahme, er wäre so erheblich schneller zu Hause, querfeldein losgestürmt war. Anfangs war er ja auch tatsächlich ganz gut vorangekommen, doch dann waren unversehens dichte, beinahe schwarze Wolken aufgezogen und hatten sich vor den Mond geschoben. Seither hatte er kaum mehr erkennen können, wohin er stapfte.
Seit er das freie Feld hinter sich lassen und den Weg durch den Wald hatte einschlagen müssen, blieb er zwar nicht mehr so oft in den tückischen Schneewehen stecken, in denen er schon das eine oder andere Mal bis zu den Hüften versunken war, doch nun lief er immer wieder in herunterhängendes Geäst hinein oder stolperte über die noch vom letzten Einschlag auf dem Waldboden herumliegenden Baumstämme, die bei den gegebenen Sichtverhältnissen so gut wie gar nicht zu erkennen waren. Obschon er zuweilen argwöhnte, dass die Richtung, die er verfolgte, überall anders hinführen dürfte als nach Hause, kämpfte er sich, so gut es eben ging, geradewegs weiter, denn er sagte sich, dass es allemal besser wäre, im verkehrten Ort anzukommen, als den Rest der Nacht in einer solchen Finsternis umherzuirren.
Ihm war fiebrig und erbärmlich kalt zumute, da er aufgrund seines überstürzten Aufbruchs nicht daran gedacht hatte, seine Jacke wieder aufzulesen. Und zu allem Überfluss hatten sich mittlerweile auch noch höllische Kopfschmerzen eingestellt. Ab und zu stopfte er sich gegen den aufkommenden Durst eine handvoll Schnee in den Mund; aber ein Genuss war das nicht. Je mehr sich der Nebel, der ihm nach wie vor das Hirn umwölkte, zu lichten begann, desto mehr bedrängte ihn die Frage, wieso er eigentlich des Nachts und zudem auch noch ganz allein durch den verschneiten Wald irrte. Eine Antwort fand er allen Grübelns zum Trotz nicht; denn das, was sich ereignet hatte, war ihm bereits nicht mehr erinnerlich.
Mit der Zeit wurde ihm die Situation immer unheimlicher, zumal er um sich herum ständig Geräusche vernahm, die ihn befürchten ließen, dass sich ihm irgendetwas näherte. Doch sobald er stehen blieb und lauschte, stellte sich heraus, dass das, was von zwischen den Bäumen herzukommen schien, nichts anderes als das Pochen des eigenen Blutes war. Auch wenn er sich daraufhin einen Narren schalt, merkte er, dass er trotzdem schon wieder dabei war, die Ohren zu spitzen, weil er abermals merkwürdige Laute zu vernehmen glaubte. Zunehmend wurde ihm furchtsamer und verworrener zumute, und er verstrickte sich mit jedem Schritt, den er vorwärts ging, ein wenig tiefer in das Gefühl lähmender Aussichtslosigkeit. Viel fehlte nicht, und er hätte sich in den Schnee geworfen und geweint.


*​


Soeben hatte er ungelenk eine wohl unter der Last des Schnees umgestürzte und ihm den Weg versperrende riesige Lärche, die zudem von messerscharfem, krustigem Eis überzogen war, überwunden und sich zum Ausruhen auf einem der dickeren von ihr abstehenden Äste niedergelassen, als mit einem Mal die bislang dicht geschlossene Wolkendecke an mehreren Stellen zugleich aufriss, und das fahle Licht des Mondes hell und trotzdem geisterhaft eine nur wenige Meter vor ihm liegende Lichtung beschien. Es wunderte ihn zwar schon, dass er sich dieses Ortes nicht im mindesten erinnern konnte, obwohl er sich in der Umgebung seines Dorfes besser als alle anderen auszukennen glaubte, doch zugleich fühlte er sich erleichtert; denn gewiss würde sich dort eine Wegkreuzung befinden, und damit auch ein Hinweis darauf, wohin er sich eigentlich verirrt hatte.
Auch dass er endlich wieder etwas weiter als vier, fünf Meter sehen konnte, verschaffte ihm neuen Mut, und er brach auf, die Lichtung zu erkunden. Als er aus dem Wald heraustrat und sich umsah, bot sich ihm ein seltsames Schauspiel: Die unterschiedlich großen Löcher in der Wolkendecke hatten sich mittlerweile zu einem einzigen kreisrunden von genau von der Größe vereint, dass die ebenfalls kreisrunde Lichtung, auf der kein einziger Baum oder Strauch wuchs, exakt ausgeleuchtet war. Etwas seitlich der Mitte stehend, entdeckte er einen schon recht tief eingeschneiten zweirädrigen Wohnwagen von der Art, wie sie von Waldarbeitern oder Imkern genutzt wird. Er atmete auf; fände sich seiner Erwartung entgegen nirgendwo ein Wegweiser, der ihm die Richtung heimwärts wiese, würde er versuchen, die Nacht in dem Wagen zuzubringen. In der Frühe würde er sich mit Sicherheit wieder zurechtfinden und merken, dass er gar nicht weit von zu Hause entfernt war.
Auf einmal nahm er hinter einem dick mit Schnee bedeckten Gesträuch eine leichte Bewegung wahr, konnte aber nicht erkennen, um was es sich handelte. Seine erste Überlegung führte dahin, umgehend zurück in das Dunkel des Waldes zu fliehen. Doch dann kam ihm seine Ängstlichkeit übertrieben und lächerlich vor; immerhin war er ein erwachsener Mann, und noch dazu ein ziemlich kräftiger. Er riss sich also zusammen und schlich so vorsichtig, wie das unter den gegebenen Umständen möglich war, auf das Gebüsch zu; aus einem ihm selbst unbekannten Grunde meinte er unbedingt wissen zu müssen, was sich dort abspielte.
Kaum dass er die Stelle von hinten her einsehen konnte, stockte ihm der Atem: Auf einem Baumstumpf saß, ihm den Rücken zukehrend, eine schlanke, wohl auch junge Frau, die leise eine lustige, ihm jedoch unbekannte Melodie vor sich hinsummte. Er blieb wie versteinert stehen, doch sie schien ihn schon gehört zu haben, denn sie drehte sich zu ihm herum, sah ihn lächelnd an, streckte ihm die Arme entgegen und sprach: „Ach Harald, endlich bist du da. Ich habe sehr lange auf dich warten müssen.“
Harald war unfähig, sich zu rühren. Mit weit aufgerissenen Augen und herunterhängender Kinnlade glotzte er zu der Frau hinüber, die, während sie zu ihm gesprochen hatte, aufgestanden und ihm ein paar Schritte entgegengegangen war. In einer Entfernung von etwa anderthalb Metern blieb sie vor ihm stehen und sah ihn schmunzelnd an, als gäbe es nichts Erhebenderes, als in eiskalter, finsterer Nacht auf jemanden wie ihn zu warten.
Noch während ihn seine Verlegenheit zwang, die Augen niederzuschlagen, peinigte ihn bereits die Furcht, ihre Erscheinung würde sich als flüchtiges Trugbild erweisen, schaute er ein zweites Mal hin. Doch seine Angst war unbegründet; als er endlich den Mut aufgebracht hatte, wieder zu ihr aufzusehen, stand sie noch immer dort, mehr Liebreiz und Anmut ausstrahlend, als alle Mädchen oder Frauen, die er je gesehen hatte.
Sie mochte ein wenig über zwanzig Jahre zählen, besaß beinahe unnatürlich ebenmäßige Gesichtszüge und schien ungewöhnlich groß zu sein; jedenfalls machte sie auf ihn den Eindruck, ihn, stünden sie nebeneinander, noch um einige Zentimeter zu überragen. Ihr Gesicht war zierlich, schmal und sehr blass, die sinnlichen Lippen ihres vollen Mundes aber leuchteten tiefrot. In ihrem dichten, eigenartigerweise schneeweißem Haar, das ihr Gesicht umrahmte und glatt und schwer fast bis zu den Hüften hinunterfiel, schienen unzählige winzige Irrlichter auf und ab zu tanzen. Ihre glitzernden, ihn aufmerksam musternden Augen hatten etwas rätselhaftes; ihm kam es so vor, als leuchteten sie von innen heraus.
Als er, ohne zu überlegen, was er tat, näher zu ihr hintreten wollte, hob sie abwehrend die Arme, zauberte das hinreißenste Lächeln, das er je gesehen hatte, auf ihr Gesicht und sagte: „Warte bitte ein wenig. Noch nicht. Bald darfst du mir so nahe sein, wie du nur willst“.
„Wer bist du“, fragte Harald in mühsam herausgestammelten Worten, und merkte sehr wohl, dass er einmal mehr dabei war, sich närrisch aufzuführen. Wie immer, wenn es irgendwie brenzlig zu werden versprach, gerieten ihm auch jetzt wieder die Worte, Gedanken und Gefühle hoffnungslos durcheinander. „Ich habe dich hier noch nie gesehen. Und wieso konntest du wissen, dass ich hier vorbeikommen würde?“
„Das, Harald, stand seit langem fest“, antwortete sie, und die makellosen Zähne ihres lächelnden Mundes spiegelten das Licht des Mondes wider, „nur wann du kommen würdest, das war nicht ganz klar.“
Harald war ratlos; keiner hatte ihn je gelehrt, in welcher Weise man mit sonderbaren Begebenheiten wie dieser fertig werden konnte. Unschlüssig trat er von einem Bein auf das andere, während es, wovon sein Gesicht deutlich Zeugnis ablegte, innerlich fieberhaft in ihm arbeitete.
„Es gibt nicht den geringsten Grund, dass du dir Sorgen machst“, fuhr sie nach einer kurzen Pause, in der sie mit beiden Händen rechts und links ihres Kopfes durch ihr Haar gefahren war, fort, „es wird nichts geschehen, was du nicht willst. Und nun lass uns zu meinem Wagen gehen, dort drin lässt es sich weitaus angenehmer miteinander plaudern als hier draußen.“

*​

Ihm aufmunternd zunickend, drehte sie sich herum und begann, ihm voraus zu gehen. Entrückt stolperte Harald ihr hinterher, mit hervorquellenden Augen auf ihre feingliedrigen, nackten Füße starrend, die in dem frisch gefallenen Schnee keinerlei Spuren hinterließen.
Ihm stets ein paar Schritte voraus, überquerte sie die Lichtung und steuerte geradewegs auf den dort stehenden Wagen zu. An diesem angelangt, stieg sie eine kleine, an seinem hinteren Ende angelehnte Stiege empor, öffnete, durch Zufall hatte er genau hingesehen, die Tür, ohne sie auch nur zu berührt zu haben, drehte sich zu ihm herum und winkte, dass er ihr nachfolgen solle.
Kaum dass sich die Tür hinter ihm geschlossen und er sich umgewandt hatte, fand er sich in einem Raum wieder, der gleich mehrfach in dem zweirädrigem Karren keinen Platz haben konnte, und obendrein den Eindruck vermittelte, er befände sich in einem mächtigen, aus massiven Stein errichteten Gebäude. Er meinte ganz deutlich die Fugen zwischen den Steinquadern erkennen zu können, und als er zur Decke aufschaute, gewahrte er, dass sie in der Art eines Kreuzgewölbes und offenbar ebenfalls aus behauenen Steinen angefertigt war. Erleuchtet war der Raum von einem matten, flackernden Lichtschein, der von einigen in eigentümlichen, metallenen Wandhalterungen brennenden Kienhölzern ausging.
Harald konnte ein prustendes Lachen nicht unterdrücken; so besoffen konnte er doch gar nicht sein, dass er lauter Dinge erblickte, die es gar nicht geben konnte. Doch dann wandte er sich wieder der Frau zu, die sich unterdessen auf einem zierlichen Stuhl aus kunstvoll gedrechseltem Holz niedergelassen hatte und versonnen auf ein ausladendes Kohlenbecken blickte, in dem ein paar Holzkohlestückchen glommen, und er fasste den Entschluss, es sei wohl besser, allen Zweifeln zu entsagen.
Da es an Einrichtungsgegenständen nichts außer dem Stuhl, auf dem sie saß, das Kohlebecken und eine mit einem dicken, weißen Fell bedeckte Bettstatt gab, und er sich seiner weichen Knie wegen unbedingt hinsetzen musste, nahm er zaghaft auf deren vorderer Kante Platz, stützte die Ellenbogen auf den Schenkeln und die fiebrige Stirn in den Händen ab, verschloss die Augen ganz fest und sagte sich, dass er sie erst wieder öffnen würde, hätte sich die Verwirrung, die in seinem Inneren wütete, ein wenig gelegt.
Er war noch nicht einmal ansatzweise mit sich ins Reine gekommen, als sich ihm eine kühle Hand auf sein Haar legte und zärtlich und verspielt darin einzelne Strähnen zu verzwirbeln begann. Ihm lief ein heißer Schauder den Rücken herunter; so hatte sich ihm noch nie eine Frau genähert.
„Was ist mir dir, Harald“, fragte sie mit leiser Stimme, „kann es sein, dass du Angst vor mir hast?“
„Ein bisschen schon“, flüsterte er verlegen und wagte es nicht, den Kopf anzuheben; einerseits, weil er sich schämte, andererseits wollte nicht, dass sie ihre Hand zurückzöge.
„Was habe ich an mir, das dich bange macht?“
„Du bist so seltsam. So unwirklich. Und so freundlich.“ Er merkte, dass ihm die Worte fehlten, das ungewohnte Gefühl des Vertrauens und der Geborgenheit zu beschreiben, das ihn in ihrer Gegenwart umfing.
„Was wird deine Freundin sagen, wenn sie erfährt, dass du bei mir gewesen bist?“
„Nichts wird sie sagen,“ Haralds Kehle entrang sich ein bitteres, ziemlich brüchig klingendes Lachen, „ich habe keine Freundin. Welches Mädchen sollte schon einen wie mich wollen?“
„Einen wie dich? Was meinst du damit?“
„Einen, einen“, Harald verhaspelte sich und spie das Folgende regelrecht hinaus, „einen Einfaltspinsel eben. Einen, der nichts gelernt hat, nichts kann und nichts besitzt. Und auch nirgendwo dazugehört.“
„Ja gibt es denn niemanden, der dich mag?“
„Nein, niemanden! Wieso auch, bin ich doch der, über den sich alle im Dorf lustig machen. Selbst die Kinder.“
“Ja hast du denn nie rebelliert?“
„Rebelliert? Hin und wieder schon; zumindest ein bisschen. Allerdings bekam es mir jedes Mal übel.“
„Mir scheint, du lebst in einer sehr traurigen Welt, Harald. Ich kann dir gar nicht beschreiben, wie leid mir das tut. Komm, schau mich an, vielleicht vermag ich dir zu helfen.“
Mit sanften Fingern fasste sie unter sein Kinn und hob seinen Kopf an, und er wurde gewahr, dass sie beängstigend dicht vor ihm stand. Als ihre Blicke sich trafen, meinte er erkennen zu können, dass die Regenbogenhaut ihrer Augen von einer kristallartigen Struktur wäre. Da er jedoch in den letzten Minuten soviel Seltsames erlebt hatte, ohne dass ihm Übles widerfahren war, fürchtete er sich nicht. Seinen Blick nicht loslassend, wich sie zwei Schritte zurück, fasste über kreuz den Saum des Halsausschnitts ihres Kleides, schob den Stoff über die Schultern hinweg und ließ das Kleid langsam an sich hinunterfließen.
Darunter trug sie nichts.
Harald, der noch nie eine erwachsene Frau unbekleidet gesehen hatte, wurde von einem Gefühl der Glückseligkeit erfasst; er hob die Arme an und legte seine Hände ganz sacht auf ihre Hüften. Ihre Haut fühlte sich merkwürdig glatt und kühl an, ein wenig erinnerte sie ihn an die Oberfläche polierten Marmors. Dann begann er sie zu streicheln; anfangs noch sehr befangen und linkisch, immer auf der Hut, sie nur mit seinen Fingerspitzen, nicht aber mit den von der Arbeit harten und schrundigen Handinnenflächen zu berühren.


*​

Einige Zeit später lagen sie ermattet auf dem Fell, das die Bettstatt bedeckte, und so dicht beieinander, dass sich ihre Schultern und Hüften, Waden und Füße berührten. Haralds rechte Hand hielt ihre linke fest umklammert; diese Frau würde er nie mehr loslassen. Er blickte gedankenverloren ins Leere und versuchte, das soeben Erlebte zu begreifen. Die Gefühle, die sie ihn hatte durchleben lassen, waren ihm bislang vollkommen unbekannt gewesen; es war das mit Abstand Schönste, was er bisher erlebt hatte.
Während ihre Leiber ineinander verschlungen gewesen waren, hatte er die Empfindung gehabt, dass alles, was schwer und hart und bitter in ihm war, sich zu kleinen, heißen Kügelchen zusammengeballt hätte, die durch seine Adern gerollt und dort, wo ihrer beider Haut sich berührt hatte, aus seinem Körper heraus und in ihren übergeströmt wären. Es war ein überaus eigenartiges, zugleich aber auch ungeheuer befreiendes Gefühl gewesen; ähnlich dem, das sich einstellt, setzt nach einer langwierigen Krankheit der Genesungsprozess ein.
Ohne dass es irgendein Vorzeichen gegeben hätte, fing sie auf einmal erst leise, dann zunehmend stärker zu vibrieren an, entzog ihm ihre Hand und fasste sich an die Kehle, als drohe sie zu ersticken. Zutiefst erschrocken drehte er sich zu ihr hin und musste mit ansehen, dass sie sich wie unter Schmerzen zu winden und mit beiden Händen ihren Hals zu massieren begann. Das Zucken nahm immer mehr zu, und sie wimmerte und stöhnte, dass Harald ganz kopflos wurde und sie festzuhalten versuchte.
„Nicht“, ächzte sie, „bitte nicht. Es geht gleich vorüber.“
Doch es schien immer noch ärger zu werden. Verzweifelt sprang er auf und stellte sich vor sie hin, beobachtete wie ihr Körper sich wand und krümmte, traute sich aber nicht, irgendetwas zu unternehmen.
Mit einem Mal röchelte sie, ihr fein geschwungener Hals blähte sich unförmig auf, und dann würgte sie und spie im hohen Bogen einen Gegenstand aus, der, als er hart auf dem Boden aufprallte, ein lautes, metallisch schepperndes Geräusch von sich gab.
Daraufhin ließ sie sich erschöpft zurückfallen, atmete befreit auf und begann, leise glucksend zu lachen.
„Such es, bitte“, sagte sie, „und bring es her zu mir.“
Harald, seit jeher gewohnt zu tun, was man ihn hieß, eilte dorthin, wo das Ding auf dem Boden aufgeschlagen war, fand jedoch erst einmal nichts als einen leichten Brandfleck. Etwas weiter weg fiel ihm dann aber eine etwa tischtennisballgroße, teerschwarze Kugel auf, über der sich eine kleine Rauchwolke kräuselte. Argwöhnisch näherte er sich; er war außer Stande zu begreifen, was soeben vorgegangen war.
„Bring es her“, rief sie ihm zu.
Er stieß die Kugel vorsichtig mit dem Zeigefinger der rechten Hand an; sie war heiß, aber gerade eben noch so, dass er sie würde anfassen und zu ihr hintragen können. Als er sie aufnahm, musste er feststellen, dass sie nicht nur ungewöhnlich schwer war, sondern zudem auch noch widerwärtig stank. Er trug die Kugel, von der noch immer ein dünner Rauchfaden aufstieg, zu ihr hin und hielt sie ihr in vorsichtigem Abstand vor das Gesicht. Sie musterte sie mit großem Respekt.
„Weißt du was das ist?“, fragte sie ihn.
„Überhaupt nicht“, gab er ihr zur Antwort, obwohl er bereits ahnte, was sie ihm gleich mitteilen würde.
„Es ist dein Groll über all das, was man dir angetan hat“, sagte sie und betrachtete die Kugel mit Abscheu. „Wirf sie rasch in die Glut, und schon bald wirst du ein neues Leben beginnen können, frei und unbeschwert von allen Kümmernissen.“
Harald trat an das Kohlenbecken, legte die Kugel sorgsam dorthin, wo die Glut am hellsten glomm, und sah zu, wie sie kurz darauf bösartig zischend unter einer blendend weiß auflodernden Stichflamme verschwand, nichts zurücklassend, als einen merkwürdigen, moderigen Geruch.
„Ein neues Leben“, sagte er, und horchte einige Sekunden lang dem Klang seiner Worte hinterher. „Ach, wie lange habe ich davon schon geträumt.“ Und dann nahm er allen seinen Mut zusammen und fuhr fort: „Und doch, ich will es nur, wenn du es mich an deiner Seite beginnen lässt.“
„Das, Harald, wird nicht einfach sein, denn ich entstamme einer anderen Welt als du. Und bitte, sei mir nicht böse, in der deinen mag ich nicht leben, und die meine kennst du nicht.“
„Warum sollte ich daran zweifeln, dass du mir helfen würdest, mich dort zurecht zu finden und sicher und wohl zu fühlen, wo dein Zuhause ist? Oder magst du mich gar nicht mitnehmen?“
„Sehr gern nähme ich dich mit. Und dass du nach so kurzer Zeit schon soviel Vertrauen zu mir hast, damit bereitest du mir eine sehr große Freude.“ Sie richtete sich ein wenig auf, offenbar noch immer ermattet, und sprach: „Da gibt es jedoch etwas, das ich dir erklären muss. Ich denke, du hast gespürt, dass mein Körper sich anders anfühlt als der deine. Das kommt daher, dass ich in einer Welt zu Hause bin, in der alles, aber auch wirklich alles, aus keinem anderen Stoff als aus Wasser gemacht ist. Da aber Wasser an sich ohne Struktur und Form ist, besteht bei uns alles aus gefrorenem Wasser, also Eis. Wir müssen uns daher stets vor der Wärme hüten, und doch muss ich sagen, so bitter kalt und ungemütlich wie hier bei euch, ist es bei uns niemals. Auch Farben, so wie ich sie bei euch gesehen und wirklich sehr zu schätzen gelernt habe, würdest du bei uns vergeblich suchen. Allerdings haben wir dafür manches andere, wodurch Unterschied und Abwechslung geschaffen wird, denn Eintönigkeit ist unsere Sache nicht. Ich jedenfalls will nirgendwo anders leben, als in meiner Welt, und doch lauern auch in ihr Gefahren. Zuweilen kann es nämlich geschehen, dass eine unvorhergesehene Hitze uns so zusetzt, dass alles, was einstmals fest war und Form besaß, dahinschmilzt und wieder zu Wasser wird, das sich jedoch erneut auszuformen beginnt, wenn die Umgebungstemperatur wieder auf die dafür günstigen Grade fällt.“
„Ich will dahin gehen, wohin du gehst.“ Flehend sah Harald sie an und war bange, es könnte ihm versagt werden.


*​

„So lass uns gehen“, sagte sie, und erhob sich in anmutiger, fließender Bewegung von ihrem Lager. Kaum war sie aufgestanden, trat sie so dicht an Harald heran, dass ihre Körper sich berührten. Dann umfasste sie ihn mit dem linken Arm und strich ihm mit der rechten Hand ganz leicht über das Gesicht, ihm die Augenlider verschließend. An dem Hauch, der kurz darauf eine seiner Wangen streifte, spürte er, dass ihr Mund sich dem seinen näherte. Und dann drängte sie sich noch dichter an ihn heran und küsste ihn; doch es war irgendwie anders als vorhin. Ihre Zunge suchte die seine, verschlang sich mit ihr, und er spürte, wie eine ihm unbekannte kühle Kraft in ihn hinüberzuwechseln und sich in ihm auszubreiten begann.
Ihm schien, als wäre während des Kusses eine Ewigkeit vergangen; jedoch hielt er es auch für möglich, dass sich bloß seine Wahrnehmung der Zeit verändert hatte. Und nicht nur die der Zeit, sondern auch die seines Körpers, der plötzlich aus einem ganz anderen Stoff zu bestehen schien, als es bisher der Fall war.
Behutsam löste sie ihren Mund von dem seinen, brachte ihn ganz dicht an sein linkes Ohr und flüsterte: „Öffne bitte die Augen. Aber tu es ganz vorsichtig.“
Harald tat, wie ihm geheißen. Zuerst blinzelte er nur, denn er merkte, dass sie auf einmal in einem gleißenden Licht standen, an das seine Augen sich erst langsam würden gewöhnen müssen. Als er es schließlich wagte, sie ganz aufzumachen, glaubte er, ihnen nicht mehr trauen zu dürfen. Alles was er sah, war weiß und hell. Doch im Gegensatz zu dem, was er kannte, schien das Licht nicht von oben her auf die Dinge herunter zu scheinen, sondern aus ihnen herauszufließen. Und alles, was sie umgab, glitzerte, als wäre es von unzähligen Brillanten übersät.
Die Struktur der Landschaft, in der sie angekommen waren, ohne auch nur einen Fuß vor den anderen gesetzt zu haben, erinnerte ihn ein wenig an das Innere einer Felsengrotte, die er einmal während einer Jugendfreizeit im Süden Frankreichs besichtigt hatte. Nirgendwo ließen sich gerade Linien, ebene Flächen oder exakt gezogene Bögen erblicken, sondern allerorten nur phantastische, bizarre Formen, die eine ihm unbekannte, in sich geschlossene Harmonie ausstrahlten. Aus dem Boden heraus wuchsen die eigenartigsten Gräser und Sträucher aus Eis, und vereinzelt standen zerbrechlich erscheinende Gebilde herum, die in Gestalt und Abmessung Bäumen ähnelten. Als er den Blick in die Ferne richtete, entdeckte er am Horizont ein unüberwindliches, schroffes Gebirge, das aus Aberhunderten nadelspitzer, unterschiedlich hoher und eng nebeneinander stehender Zinnen und Gipfel gebildet wurde, von denen ein jeder in einer geringfügig anderen Intensität von innen heraus leuchtete. Etwas so Großartiges hatte er noch niemals gesehen; er kam sich in eine Märchenwelt versetzt vor.
„Hey du, ich bin auch noch da“, machte sie ihn mit einem zarten Stupsen in die Seite auf sich aufmerksam und lachte ihm freudestrahlend ins Gesicht. „Willkommen bei mir zu Hause.“
„Verzeih mir“, bat er, „dass ich dir gegenüber unaufmerksam war. Doch ich habe dich nicht vergessen; es ist eher so, dass ich vor lauter Aufregung und Staunen mich vergessen habe.“
Sie lachte leise auf und schmiegte sich an ihn an. „Sag, wie fühlst du dich hier bei uns?“
Er umschloss sie mit beiden Armen, wobei ihm auffiel, dass sie noch immer unbekleidet waren und er trotzdem nicht fror. „Sehr, sehr gut geht es mir. Besser als jemals zuvor. Ich glaube tatsächlich, dass ich glücklich bin.“
„Dann lass uns nach Hause gehen!“
„Ja“ sagte Harald heiter, „gehen wir nach Hause.“
 



 
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