Harmloser Billetautomat

Ich war im Stress.
Wie bitte? Wie war ihre Frage?
Nein, Zeit hatte ich genug. Sagen wir es lieber so: Ich wurde gestresst.
Von wem?
Von einem Billetautomaten.
Nein, Zeit hatte ich wie gesagt genug.
Absurd?
Pah, Sie haben ja keine Ahnung! Lassen Sie mich kurz mein Erlebnis schildern:
Sonntag morgen, ich stehe früh auf, weil ich mit einigen Freunden wandern gehe. Da ich über kein Auto verfüge, bin ich auf den Bus angewiesen. Um ja nicht zu spät zu kommen, verlasse ich pünktlich um 7. 50 Uhr meine Wohnung.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle: Niemand.
Bei der Bushaltestelle: Niemand. Alle schlafen noch.
Ich setze mich auf eine hölzerne Bank, gleich zu meiner rechten steht ein Billetautomat.
Ein harmloser Billetautomat.
Ich fühle mich gut, sozusagen frisch und munter, werde pünktlich den abgemachten Treffpunkt erreichen. Der Bus kommt in 10 Minuten, in 30 Minuten werde ich am Treffpunkt sein. Ich bin allein, was mich eigentlich nicht stört. Ich geniesse die Ruhe des Sonntag morgens.
Im Portemonnaie: Kein Kleingeld, nur grössere Scheine, kein gültiger Fahrschein.
Ich blicke zur gegenüberliegenden Strassenseite. Eine Glasscheibe widerspiegelt, wie ein Spiegel, mein Ebenbild.
Der Billetautomat weiss es! Ich fahre ohne gültigen Fahrschein, bin ein Schwarzfahrer! Ich denke: Kein Problem, ich kann nicht kontrolliert werden, da Sonntag früh am morgen. Selbst Kontrolleure liegen um diese Zeit noch im Bett.
„Füttere mich“, flüstert der Billetautomat mir zu. „ Man fährt nicht schwarz, löse ein Billet“, fordert er mich auf.
Auf der Strasse: Kein Mensch. Es ist sonderbar still.
Die Sonne scheint, das Wetter ist prächtig. Die Geisterstunde längst vorbei. Ich schäme mich für meine blöden Einbildungen, habe gestern mal wieder zuviel getrunken, muss jetzt die Konsequenzen tragen.
„Schwarzfahrer werden bestraft“, ertönte es erneut vom Billetautomaten. „Einbildung, pure Einbildung!“, rede ich mir ein. Ich durchsuche so nebenbei mein Portemonnaie: Wie gesagt, kein Kleingeld, lösen nicht möglich. Der Billetautomat wird weiter hungern müssen.
Ich blicke wieder in die Glasscheibe, betrachte mein Ebenbild.
Und das des Billetautomaten.
Ich lache.
Über wen ?
Über den Billetautomaten natürlich.
Ganz normal steht er neben mir, nichts unterscheidet ihn von einem anderen Billetautomaten. Was habe ich gestern nur getrunken?
Ein ablenkender Blick (ich ringe um Luft, versuche den Lachkrampf zu bezwingen) nach links, ich kann den Turm unserer Dorfkirche erkennen.
Wie ein erhobener Finger der Ermahnung ragt er in die Höhe.
„Löse ein Billet, oder man wird dich bestrafen. Die Kontrolleure werden dich bestrafen“, warnt mich auch der Billetautomat (jetzt lache ich nicht mehr).
Erinnerungen aus der Kindheit, ich denke an meine infantilen Ängste vor Kontrolleuren, den bösen Männern. Alle Kinder fürchten sich vor Kontrolleuren. Ich bin erwachsen, brauche nicht mehr Angst zu haben.
Auf der Strasse: niemand.
Dann eine Erkenntnis: Ich kann gar kein Billet lösen, denn auch der Kiosk ist geschlossen!
Ich zweifle meine Einbildungen an. Vielleicht versteckte Kamera?
Der Bus kommt in 3 Minuten.
„Du bist ein Schwarzfahrer“, ertönt wieder die metallische, verzehrte Stimme des Billetautomaten, diesmal mit einem zornigen Unterton, „man wird dich bestrafen. Die Kontrolleure werden kommen und dich mitnehmen. Die Kontrolleure finden jeden Schwarzfahrer!“ Ich überlege mir, ob ich ihn treten soll. Schnell gebe ich den Plan auf: Das Risiko, den Sicherheitsalarm (ein schrilles, nerviges Töt-Töt-Töt) auszulösen, ist zu hoch.
Ich bin verwirrt, fühle mich unwohl.
Auf der Strasse: Kein Mensch. Ich bin alleine.
Noch zwei Minuten bis zum Eintreffen des Busses.
Der Kirchturm: Wie der erhobene Finger eines Riesen. Eines bösen, nicht heiligen Riesen. Vielleicht gibt es auch riesige Billetautomaten ?
Allmählich wird’s unheimlich. Ich muss wirklich weniger trinken. Woher stammen diese Halluzinationen? „Wie wär‘s mit einem Psychiater?“, fragt mich eine freche Stimme aus meinem Innern.
Ich riskiere es: Ein scheuer Blick nach rechts! Monoton und harmloser denn je steht er da: Der Billetautomat. Ich reibe mir die Augen, reisse mich zusammen.
„Du übler, mieser Schwarzfahrer“, tönt es schon wieder aus der Richtung des Billetautomaten. Mein vernünftiger Verstand verabschiedet sich. Irgend etwas stimmt hier nicht. Ein Alptraum?
Ich will nicht mehr alleine sein, sehne mich nach Gesellschaft.
Aber auf der Strasse: Niemand.
Der Bus taucht am unteren Ende der Strasse auf (endlich!), nähert sich, hält an, öffnet die Türen.
Im Bus?
Nur zwei grosse, robuste Männer, eingehüllt in dunkle Mäntel und mit Funkgeräten ausgerüstet. Am Steuer: ein kleiner Dicker. Zischend schliessen die Türen wieder, der Motor heult auf, der Bus fährt weiter.
Ohne mich.
Weshalb ?
Wegen dem harmlosen Billetautomaten.
 



 
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