Harmonie

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Tula

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Harmonie

Eine vollkommene Harmonie verrät die Kälte der Empfindungen.
Honoré de Balzac (1799 – 1850)


sie kommt latent, von innen her, nicht mehr
als nur ein Hauch, molekular gemessen
hast du nichts - die Skala ist zu grob - warst
du doch gestern erst in wilder Konvektion

sie stimmt dich ab, noch singst du und dein Puls
sinkt mit, selbst die Pupillen weiten sich
im Dunkeln wenig wo Routine spielt
jetzt vor und setzt getreu auf Haltbarkeit

bald legt sie dir am Frühstückstisch das Wort
aufs Brot, in Echtzeit und mit Vorbedacht
bleibt sie an allem haften und verklebt
dir irgendwann die Zunge ganz und gar

am Ende sind die Schwingungen vexiert
und auch der Saitensprung im Traum erklingt
zu spät, sie ist schon Teil von dir und füllt
dich unaufhaltsam auf, von innen her
 
G

Gelöschtes Mitglied 20513

Gast
Ich denke, für dieses Gedicht ist es nötig, erst einmal den Begriff "Harmonie" zu klären. Mein Fremdwörterbuch meint: Übereinstimmung, Einklang, Eintracht, Ebenmaß, Wohlklang (nach der griechischen Göttin Harmonia).

So, das wäre getan. Und nun sehe ich mir mal an, ob ich etwas davon finde in deinem Gedicht. Es kommt ja ziemlich fremdwortaffin daher, was den vielleicht verborgenen Hintersinn des Gedichts nicht leicht jedem auf den ersten Blick verständlich machen dürfte.

Nachdem ich das Gedicht noch einmal gelesen habe, muss ich dir leider sagen, dass ich keinen Hintersinn gefunden habe, sondern du beschreibst, dass du nach einer ziemlichen Aufregung dich beruhigen willst (die Schwingungen sind vexiert), du suchst nach Harmonie in dir selber. findest sie - oder auch nicht, Genaues lese ich aus deinem intellektuell verbrämten Geschwurbel leider nicht heraus. So viel ich begriffen habe, gefällt dir Harmonie aber nicht - siehe den Frühstückstisch mit dem Wort auf dem Brot - in Echtzeit! Dein innerer Seelenzustand, auf diese Weise dem Leser verkündigt, kommt bei mir reichlich banal an, obwohl du dir alle Mühe gibst, aus dieser Banalität heraus etwas Ähnliches wie ein edles Kunstwerk zu schaffen.

Nun wird sogar Balzac zitiert, und ich denke, du hättest gutgetan, wenn du auf dieses Zitat hingeschrieben hättest. Balzac war ein ausgezeichneter Kenner der menschlichen Psyche, und eines weiß ich: Balzac hätte niemals diesen hochgestylten Seelentrip auf diese Weise beschrieben. Warum behauptet Balzac, dass Harmonie Kälte der Empfindungen sei, diese Frage hättest du beantworten müssen. Meine Sicht auf die Harmonie: Harmonie verdeckt Widersprüche, sie ist von ihrer Natur her reaktionär (Balzac war ein ziemlicher Reaktionär, aber ein guter Dichter, er wusste, wovon und was er schrieb), denn dass Verdecken von Widersprüchen verhindert in der Gesellschaft jede progressive Entwicklung. Sie klärt nichts. Sie täuscht sich und andere. Ihr geht es nur um den Schein. Auf gut Deutsch: Oben Hui, unten Pfui. Vielleicht erklärt sich dir einiges aus dem Balzac-Zitat, wenn du weißt, dass Balzac Monarchist war, und das in einer Zeit, als die Franzosen sich die bürgerliche Freiheit erkämpft hatten. Insofern ist sein Zitat nicht positiv, sozusagen Balzac als der große Durchschauer des Menschen, sondern negativ zu bewerten, denn es lobt die Kälte der Empfindungen, die er brauchte, um Reaktionär bleiben zu können.

Inwiefern du also das Balzac-Zitat mit deinem Gedicht in Zusammenhang bringen willst, ist mir nicht erklärlich. Wirklich intellektuell hättest du geschrieben, wenn du genau diesen Gedanken in deinem Gedicht behandelt hättest. Und das hast du leider nicht getan, sondern Bauchnabelphilosophie betrieben. Schade.

blackout
 

Tula

Mitglied
Hallo blackout

Vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Dass du auch bei diesem keinen Hintersinn entdeckst bzw. entdecken willst, wundert mich wenig. Unsere Auffassungen über zeitgenössische Poesie gehen dafür leider zu weit auseinander.
Aber ich denke, dass der übergroße Teil Leser ohne Schwierigkeiten versteht, um welche Aspekte der Harmonie und des ganz realen Lebens es hier geht. Ich hatte eher eine andere Art von Kritik erwartet, unter anderem, dass das Gedicht inhaltlich zu eindeutig ist.

Wichtig und interessant bleibt dein Einwurf:

Harmonie verdeckt Widersprüche, sie ist von ihrer Natur her reaktionär.

Das kommt der Grundidee durchaus näher. Oder anders: es gibt keine Harmonie ohne Widersprüche, kein Wärmeaustausch ohne Reibereien usw. Das wäre in etwa wie eine Debatte über Kunst, in der man nur loben darf usw.

In diesem Sinne

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
PS
Ich hatte in der Tat Stunden nach dem Einstellen noch eine Änderung vorgenommen, d.h. anderswo, weil es hier nicht mehr ging:

zu spät, sie ist schon Teil von dir und friert
dich unaufhaltsam ein
, von innen her

Tula
 



 
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