Harte Zeiten

Klaus K.

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Harte Zeiten

Elend! Elend, Elend, Elend! Ich sitze hier auf meinem Thron, das blanke Entsetzen ereilt mich erneut. "Alter westfälischer Landadel", das war einmal. Natürlich bin ich das noch, das vermaledeite Volk will davon aber nichts mehr wissen. Tumbes Gesindel, hängt in sogenannten "Clubs" herum, nachts. Mit Arbeit haben die nichts am Hut, wie soll das gehen, wenn man sich bis zum frühen Morgen den hohlen Kopf volldröhnt, meint, ein paar spastische Bewegungen zur Musik gehörten dann dazu, ein paar zuviele Drinks auch. Subkultur, der zweite Teil dieses Begriffs ist dann eher geschmeichelt. Nutzloses, völlig verdrehtes Nachwuchsmaterial. Die Entwicklung bis zu diesem Endzeitstadium ging rasend schnell, in nur zwanzig Jahren, würde ich sagen. Und die Frage tut sich auf, wohin das führen soll. Wie geht das weiter? Was kommt denn jetzt noch, bitteschön? Der Kulminationspunkt der Dekadenz ist doch bereits längst überschritten.

Ich sitze hier auf meinem Thron. Alles weg, an anderer Stelle habe ich bereits berichtet, wie es meinem Vorfahr damals unter Napoleons Bruder als Regent ergangen ist. Alles weg. Die Landwirtschaft, die Viecher, das Personal, dieses ganz bewusst an letzter Stelle genannt. Nur Charles ist noch da, mein alter, mir ergebener Butler. Das war's. Nur wir beide, hier im kümmerlichen halb verfallenen Rest meines ehemals hochherrschaftlichen Schlösschens. Ich rufe ihn.
"Lakai!". Soviel Tradition muss sein.
"Eure Durchlaucht wünschen?"
"Bringe Er mir die Fernsehzeitung, aber subito!"
"Durchlaucht, die haben wir doch nicht mehr. Abbestellt, gekündigt wegen der Kosten. Das Abonnement war zu teuer."
"Ha! Und jetzt?"
"Ich könnte zum Bauern Hinnerk gehen, dort um eine kurze Ausleihe bitten. Seine Frau hat meines Wissens eines dieser Revolverblätter, die auch das Programm beinhalten. Wäre Euch das genehm, Durchlaucht?"
"Elend, Elend! Jetzt muss schon der Adel betteln gehen, wo ist dieses Land nur hingekommen! Woran liegt das, sage Er mir das!"
"An der Regierung, Durchlaucht! Nur an der Regierung!"
"Alles Verbrecher, oder? Wer regiert uns jetzt eigentlich?"
"Dieses Triumvirat, Durchlaucht."
"Die Pfeifen mit dem kleinen Mann mit Glatze an der Spitze?"
"Jawohl, das ist der Kanzler."
"Ein Kaiser wäre mir lieber! Diesen Kanzler sieht und hört man ja kaum! Kommt von dem eigentlich auch mal was Vernünftiges?
Ich kann ihn kaum verstehen, wenn er spricht. Es ist so leise, so tonlos, er ist so farblos dazu. Mir ist kein klarer Satz von ihm aufgefallen. Alles bleibt im Ungefähren, alles perlt an ihm ab, es gibt keine richtigen Antworten, nein, alles muss bei ihm in der nächsten Zeit erst noch abgestimmt werden! Ein ganz seltsamer Kandidat! Wo kommt dieses Wunderwerk der Politik eigentlich her, Charles?"
"Soweit ich weiß, ist er Hanseat, Durchlaucht!"
"Was? Hanseat? Das war dieser Schmidt doch auch!"
"Ja, Durchlaucht! Aber das war auch ein ganz anderes Kaliber, wenn Eure Durchlaucht mir diese Meinung gestatten?"
"Selbstverständlich....also diesmal. Soso, ein Hanseat.
Er kommt mir eher vor wie ein Wattwurm, der sich um einen Angelhaken windet! Er will nicht drauf, er will möglichst immer im Schlick bleiben und außer nutzlosen kleinen Sandhäuflein selbst bei Ebbe nichts von sich geben, nichts produzieren! Mein Gott, wenn das der "Alte Fritz" noch erlebt hätte! Mit kleinen Kanonenkugeln hatte der es nicht so. Und dann später der Bismarck! Der war ja auch Kanzler, und auch so ein Sozialbonbon wie unserer jetzt, oder? Aber der hatte Dampf, richtig Dampf. Da gab es kein Zögern oder Zaudern, der hat richtig was bewegt! Apropos Bismarck: Wann gibt es wieder Hering bei uns?"
"Eure Tochter hat sich für heute angesagt, Durchlaucht. Sie will unter anderem den Speiseplan für die kommende Woche besprechen."
"Meine Tochter? Heute? Potzblitz, ja, das hatte ich ganz vergessen! Wie sehe ich aus, Charles? Ist alles in Ordnung bei mir?"
"Bestens, Durchlaucht. Alles bestens! Oh, es läutet! Das wird sie bereits sein!"
"Öffne Er, subito!"

"Hallo Papi!"
"Willkommen, mein Engel! Oh, welche Freude! Und gut schaut sie aus! Was macht die Liebe, Claudilein?"
"Papi!"
"Na, dein Vater wird doch mal fragen dürfen? Du bist meine Einzige, das interessiert mich doch! Und du bist jetzt 32, die Verehrer müssen dir doch nur so zu Füßen liegen? Mein Kind, du siehst bezaubernd aus! Was meint Er dazu, Lakai?"
"Ich kann Ihrer Durchlaucht nur beipflichten!"
"Danke, das hört man natürlich nur zu gerne! Und Papi, bitte erspare uns das! Charles ist alles andere als ein Lakai!"
"Ist ja schon gut, ich halte mich jetzt daran! Charles ist da aber nicht so pingelig. Er versteht mich halt..."

"Ich verstehe dich auch. Also, da gibt es nichts Neues, Papi! Alles Stoffel, du würdest sie als Kleinkaliber bezeichnen. Ja, man macht mir Avancen, daran mangelt es nicht. Aber der Richtige war halt noch nicht dabei, ich habe auch bereits einige Frösche geküsst, aber es ist noch kein Prinz dabei aufgetaucht....."
"Kann es sein, dass du zu wählerisch bist?"
"Ach wo! Ich hab' da auch eventuell jetzt einen neuen Verehrer, der würde auch dir gefallen, obwohl es dabei ja nun wirklich nicht um dich geht!"
"Hört, hört! Was ist das denn für ein Kandidat? Darf dein Vater mehr wissen?"
"Einer aus der Politik, Papi! Das gefällt dir doch bestimmt, oder?"
"Kommt darauf an.....in welcher Partei turnt er denn rum?"
"Er ist ganz nah dran, im Kanzleramt! Er ist Referent dort!"
"Nahe beim Kanzler, verstehe ich das richtig?"
"Völlig! Er hat es schon recht weit gebracht!"
"Charles! Haben wir noch etwas Starkes zu trinken?"
"Jawohl, Durchlaucht. Den Cognac!"
"Möchtest du einen, Claudia?"
"Papi! Es ist halb eins, mittags! Nein danke!"
"Charles, dann also aber einen für Sie und einen für mich! Bitte!"
"Subito, Durchlaucht!"
"Ich muss mich stärken, Claudia. Es ist wie Medizin. Also, wann trefft ihr euch, dein Kanzler-Referent und du?"
"Heute Abend, wir sind verabredet. Erstkontakt sozusagen. Ach, er ist so süß, so tolpatschig, wie so ein kleiner Teddybär!"
"Und wo geht es hin?"
"In einen Club, Papi! Da war ich schon mehrfach, aber nur mit meinen Freundinnen - tolle Musik, man kann tanzen, eine großartige Bar, interessante Leute...oh, ich freu' mich so!"
 
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