Etwa drei Jahrzehnte meines Lebens habe ich in Saarbrücken verbracht. Saarbrücken ist die Hauptstadt eines lustigen kleinen Landes, in dem lustige Menschen wohnen, die eine lustige Sprache sprechen. Einer dieser Menschen hieß Elfriede Dienhardt.
Frau Dienhardt hatte gut und gerne ihre vierzig Dienstjahre als freiberufliche Hebamme auf dem Buckel und sollte an diesem 14. Oktober des Jahres 1983 ihr letztes Kind auf die Welt holen: meine Tochter. Ich hatte sie erst drei Tage zuvor kennen gelernt, denn von Vertrauen aufbauen, sanftem Hinführen, Geburtsvorbereitung und all dem Kram hielt Frau Dienhardt nicht viel. Meine diesbezüglichen vorsichtigen Fragen wiegelte sie ab mit den Worten: Sie hann doch schunn enns. Diesmo werd's aa net annerschd.
Um fünf Uhr früh wurde ich durch ein leises Ziehen im unteren Rücken und das Schnarchen des Kindsvaters geweckt und stand auf. Ich kochte einen Tee (wahrscheinlich Roibusch), legte eine Platte auf (höchstwahrscheinlich Vollenweider), bestückte die Küche mit einer Großpackung Teelichter und verfasste einen Brief an mein Ungeborenes. So hatte ich das gelesen, und so machte man das eben Anfang der achtziger Jahre. Den Brief habe ich übrigens etwa ein Jahr später verbrannt, damit das arme Kind ihn auch ganz sicher nie in die Hände bekommen und womöglich ein Leben lang unter der metaphorischen Inkontinenz seiner Mutter zu leiden haben würde.
Etwa drei Stunden später wurde es dann Zeit, meine Freundin Carmen anzurufen, die zugesagt hatte, als Chauffeurin zu fungieren; denn - das vergaß ich zu erwähnen - Frau Dienhardt hatte keinen Führerschein. Carmen machte sich also auf den Weg zur etwa dreißig Kilometer entfernten Wohnung von Frau Dienhardt. In der Zwischenzeit durfte ich erfahren, dass es diesmal doch ein bisschen "annerschd" ablief als beim ersten Mal. Im Krankenhaus hatte man mich nämlich zu gegebener Zeit mit Medikamenten versorgt. Dafür darf ich heute mit Fug und Recht von mir behaupten, genau zu wissen, wie es sich wirklich anfühlt, ein Kind zu bekommen.
Es vergingen weitere anderthalb Stunden, Frau Dienhardt hatte nur noch rasch das Frühstücksgeschirr spülen und die Wäsche aufhängen müssen, als Carmen endlich mit meiner Hebamme eintraf. Ich weiß bis heute nicht, was es war; vielleicht Lampenfieber. Vielleicht hatte das Kind aber auch beim Klang von Frau Dienhardts Stimme beschlossen, lieber noch ein paar Wochen in seiner sicheren Höhle zu bleiben. Jedenfalls waren mit dem Eintreffen der beiden die Wehen verschwunden. Und nur mein dicker Bauch erinnerte mich noch daran, dass ich jemals schwanger geworden war. Ich versuchte ein paar halbherzige Stöhner, aber Frau Dienhardt konnte ich nichts vormachen. Sie sah mir zuerst in die Augen, dann auf die Uhr und sagte: Das do dauert noch. Außerdemm hann isch jetz Hunger.
Mein Mann wollte sie zu einem zweiten Frühstück in unserer Küche überreden, aber das lehnte sie ab: Nää nää nää, isch hann gischder Hackflääsch kaaf; das muss fort. - Daraufhin erhob sie sich mit den Worten: Wann's schlimm weh duud, raache Se enn! Das helft. - Und warf mir eine halb volle Zigarettenpackung auf den Tisch.
Aber Frau Dienhardt, ich rauche doch jetzt seit zwei Jahren nicht mehr. - Wisse Se was, das is alles Kääs, was die junge Leid heit so verzähle. Gugge Se misch aan. Isch hann drei Buuwe, alles sooo Kerle, unn isch hann mei Lebbdaa geraacht wie ein Schlot. - Sprach's und verließ mit der hilflos dreinblickenden Carmen die Wohnung.
Die nächsten Stunden verschwinden leider in meiner Erinnerung. Jeder, der einmal das Vergnügen hatte, eine Gebärende begleiten zu dürfen, weiß um die Handlungsabläufe. Die Wehen kamen nun wirklich sehr regelmäßig; aber wir wussten ja, dass es noch keinen Sinn hatte, Frau Dienhardt, die nach dem Essen gerne ein Nickerchen machte, anzurufen. Es war zwar durchaus von Vorteil, dass der Kindsvater zu jener Zeit in der gynäkologischen Abteilung des Kreiskrankenhauses arbeitete; doch kann man sich vielleicht vorstellen, dass es leichter ist, hundert fremden Kindern auf die Welt zu helfen als einem eigenen. Also entschlossen wir uns irgendwann doch, Carmen wieder auf den Weg zu schicken.
Die preschte, wie sie mir später erzählt hat, mit hundertzwanzig durch verschiedene Dörfer und an verschreckt zur Seite springenden Bauarbeitern vorbei, mit herunter gekurbelter Scheibe und dem Ruf: Sorry! Meine Freundin bekommt ein Kind! Und genau so preschte sie wieder zurück, mit Frau Dienhardt auf dem Beifahrersitz, die unablässig vor sich hin flüsterte: Ach du liewer Gott. Das do iwwerleb isch net. Liewer Gott. Isch geh aa am Sonndaa in die Kersch. Isch verspresch ders. Liewer Gott. Das do iwwerleb isch net...
In der Zwischenzeit hatte mein Mann sich die Hände gewaschen und sich in sein Schicksal ergeben. Er saß an meinem Bett und suchte gerade nach ein paar beruhigenden Worten, als es abermals an der Tür läutete. Frau Dienhardt, hoch erhitzt, mit Kittel über dem Arm und der Hebammentasche in der Hand und wurde gerade von Carmen unsanft in die Wohnung geschoben, als sie durch meinen langgezogenen Schrei aufgeschreckt wurde. Alle drei stürzten auf mich zu, und alle drei fingen das kleine Wesen auf, das soeben beschlossen hatte, nicht mehr länger warten zu wollen. Mein Mädchen war auf der Welt.
Es fällt mir nicht ganz leicht und liegt mir fern, den Leser mit gynäkologischen Details zu langweilen; doch der Vollständigkeit ist es geschuldet, noch folgendes zu berichten: Wahrscheinlich ist es den meisten Erwachsenen bekannt, dass der Kopf eines Neugeborenen oftmals nicht im rechten Verhältnis zur ... sagen wir ... Austrittsöffnung steht. Und so kann es schon einmal vorkommen, dass eben diese Öffnung nicht ganz unbeschadet bleibt ... das kann in manchen Fällen dazu führen, dass etwas einreißt und wieder repariert werden muss ... Kurz: Es läutete ein drittes Mal.
Auftritt Johannes, Kollege des Kindsvaters, in voller Motorradmontur, mit einem Sturzhelm unterm Arm. Johannes begrüßte mich mit einem knappen Kopfnicken und ließ sich dann im Schneidersitz am Fußende meines Bettes nieder, um mich mit Nadel und Faden wieder in meinen Urzustand zu versetzen. Direkt hinter ihm saß Frau Dienhardt, völlig erschöpft, mit hoch roten Wangen und dem zweiten Glas Rotkäppchen-Sekt in der Hand und wiederholte ständig die inzwischen Legende gewordenen Worte: Ach du liewer Gott. Jetz bin isch jo gar nemmeh in de Kiddel komm!
Johannes hatte seine Arbeit beendet und wollte rasch wieder zu seiner Harley zurück, die im absoluten Halteverbot stand. Dies nahm Frau Dienhardt zum Anlass, sich nun ihrerseits von uns zu verabschieden. Auf meine erschrockene Frage, was ich denn jetzt machen solle, so ganz ohne sie, allein mit dem Kind... antwortete sie nur: Ei, fer was brauche Sie misch dann jetz noch? Sie hanns warm, sie hann genuch Winnele, unn was das Bobbelsche esse muss, das hann Sie doch alles bei sisch. Außerdemm hann isch jetz Hunger.
Frau Dienhardt hatte gut und gerne ihre vierzig Dienstjahre als freiberufliche Hebamme auf dem Buckel und sollte an diesem 14. Oktober des Jahres 1983 ihr letztes Kind auf die Welt holen: meine Tochter. Ich hatte sie erst drei Tage zuvor kennen gelernt, denn von Vertrauen aufbauen, sanftem Hinführen, Geburtsvorbereitung und all dem Kram hielt Frau Dienhardt nicht viel. Meine diesbezüglichen vorsichtigen Fragen wiegelte sie ab mit den Worten: Sie hann doch schunn enns. Diesmo werd's aa net annerschd.
Um fünf Uhr früh wurde ich durch ein leises Ziehen im unteren Rücken und das Schnarchen des Kindsvaters geweckt und stand auf. Ich kochte einen Tee (wahrscheinlich Roibusch), legte eine Platte auf (höchstwahrscheinlich Vollenweider), bestückte die Küche mit einer Großpackung Teelichter und verfasste einen Brief an mein Ungeborenes. So hatte ich das gelesen, und so machte man das eben Anfang der achtziger Jahre. Den Brief habe ich übrigens etwa ein Jahr später verbrannt, damit das arme Kind ihn auch ganz sicher nie in die Hände bekommen und womöglich ein Leben lang unter der metaphorischen Inkontinenz seiner Mutter zu leiden haben würde.
Etwa drei Stunden später wurde es dann Zeit, meine Freundin Carmen anzurufen, die zugesagt hatte, als Chauffeurin zu fungieren; denn - das vergaß ich zu erwähnen - Frau Dienhardt hatte keinen Führerschein. Carmen machte sich also auf den Weg zur etwa dreißig Kilometer entfernten Wohnung von Frau Dienhardt. In der Zwischenzeit durfte ich erfahren, dass es diesmal doch ein bisschen "annerschd" ablief als beim ersten Mal. Im Krankenhaus hatte man mich nämlich zu gegebener Zeit mit Medikamenten versorgt. Dafür darf ich heute mit Fug und Recht von mir behaupten, genau zu wissen, wie es sich wirklich anfühlt, ein Kind zu bekommen.
Es vergingen weitere anderthalb Stunden, Frau Dienhardt hatte nur noch rasch das Frühstücksgeschirr spülen und die Wäsche aufhängen müssen, als Carmen endlich mit meiner Hebamme eintraf. Ich weiß bis heute nicht, was es war; vielleicht Lampenfieber. Vielleicht hatte das Kind aber auch beim Klang von Frau Dienhardts Stimme beschlossen, lieber noch ein paar Wochen in seiner sicheren Höhle zu bleiben. Jedenfalls waren mit dem Eintreffen der beiden die Wehen verschwunden. Und nur mein dicker Bauch erinnerte mich noch daran, dass ich jemals schwanger geworden war. Ich versuchte ein paar halbherzige Stöhner, aber Frau Dienhardt konnte ich nichts vormachen. Sie sah mir zuerst in die Augen, dann auf die Uhr und sagte: Das do dauert noch. Außerdemm hann isch jetz Hunger.
Mein Mann wollte sie zu einem zweiten Frühstück in unserer Küche überreden, aber das lehnte sie ab: Nää nää nää, isch hann gischder Hackflääsch kaaf; das muss fort. - Daraufhin erhob sie sich mit den Worten: Wann's schlimm weh duud, raache Se enn! Das helft. - Und warf mir eine halb volle Zigarettenpackung auf den Tisch.
Aber Frau Dienhardt, ich rauche doch jetzt seit zwei Jahren nicht mehr. - Wisse Se was, das is alles Kääs, was die junge Leid heit so verzähle. Gugge Se misch aan. Isch hann drei Buuwe, alles sooo Kerle, unn isch hann mei Lebbdaa geraacht wie ein Schlot. - Sprach's und verließ mit der hilflos dreinblickenden Carmen die Wohnung.
Die nächsten Stunden verschwinden leider in meiner Erinnerung. Jeder, der einmal das Vergnügen hatte, eine Gebärende begleiten zu dürfen, weiß um die Handlungsabläufe. Die Wehen kamen nun wirklich sehr regelmäßig; aber wir wussten ja, dass es noch keinen Sinn hatte, Frau Dienhardt, die nach dem Essen gerne ein Nickerchen machte, anzurufen. Es war zwar durchaus von Vorteil, dass der Kindsvater zu jener Zeit in der gynäkologischen Abteilung des Kreiskrankenhauses arbeitete; doch kann man sich vielleicht vorstellen, dass es leichter ist, hundert fremden Kindern auf die Welt zu helfen als einem eigenen. Also entschlossen wir uns irgendwann doch, Carmen wieder auf den Weg zu schicken.
Die preschte, wie sie mir später erzählt hat, mit hundertzwanzig durch verschiedene Dörfer und an verschreckt zur Seite springenden Bauarbeitern vorbei, mit herunter gekurbelter Scheibe und dem Ruf: Sorry! Meine Freundin bekommt ein Kind! Und genau so preschte sie wieder zurück, mit Frau Dienhardt auf dem Beifahrersitz, die unablässig vor sich hin flüsterte: Ach du liewer Gott. Das do iwwerleb isch net. Liewer Gott. Isch geh aa am Sonndaa in die Kersch. Isch verspresch ders. Liewer Gott. Das do iwwerleb isch net...
In der Zwischenzeit hatte mein Mann sich die Hände gewaschen und sich in sein Schicksal ergeben. Er saß an meinem Bett und suchte gerade nach ein paar beruhigenden Worten, als es abermals an der Tür läutete. Frau Dienhardt, hoch erhitzt, mit Kittel über dem Arm und der Hebammentasche in der Hand und wurde gerade von Carmen unsanft in die Wohnung geschoben, als sie durch meinen langgezogenen Schrei aufgeschreckt wurde. Alle drei stürzten auf mich zu, und alle drei fingen das kleine Wesen auf, das soeben beschlossen hatte, nicht mehr länger warten zu wollen. Mein Mädchen war auf der Welt.
Es fällt mir nicht ganz leicht und liegt mir fern, den Leser mit gynäkologischen Details zu langweilen; doch der Vollständigkeit ist es geschuldet, noch folgendes zu berichten: Wahrscheinlich ist es den meisten Erwachsenen bekannt, dass der Kopf eines Neugeborenen oftmals nicht im rechten Verhältnis zur ... sagen wir ... Austrittsöffnung steht. Und so kann es schon einmal vorkommen, dass eben diese Öffnung nicht ganz unbeschadet bleibt ... das kann in manchen Fällen dazu führen, dass etwas einreißt und wieder repariert werden muss ... Kurz: Es läutete ein drittes Mal.
Auftritt Johannes, Kollege des Kindsvaters, in voller Motorradmontur, mit einem Sturzhelm unterm Arm. Johannes begrüßte mich mit einem knappen Kopfnicken und ließ sich dann im Schneidersitz am Fußende meines Bettes nieder, um mich mit Nadel und Faden wieder in meinen Urzustand zu versetzen. Direkt hinter ihm saß Frau Dienhardt, völlig erschöpft, mit hoch roten Wangen und dem zweiten Glas Rotkäppchen-Sekt in der Hand und wiederholte ständig die inzwischen Legende gewordenen Worte: Ach du liewer Gott. Jetz bin isch jo gar nemmeh in de Kiddel komm!
Johannes hatte seine Arbeit beendet und wollte rasch wieder zu seiner Harley zurück, die im absoluten Halteverbot stand. Dies nahm Frau Dienhardt zum Anlass, sich nun ihrerseits von uns zu verabschieden. Auf meine erschrockene Frage, was ich denn jetzt machen solle, so ganz ohne sie, allein mit dem Kind... antwortete sie nur: Ei, fer was brauche Sie misch dann jetz noch? Sie hanns warm, sie hann genuch Winnele, unn was das Bobbelsche esse muss, das hann Sie doch alles bei sisch. Außerdemm hann isch jetz Hunger.