Heile mit Eile

5,00 Stern(e) 1 Stimme

Ludwig W

Mitglied
Zum letzten Wiesnwochenende hatte es mit dem Oktoberfestbesuch doch noch geklappt.

Nach einem halben Hähnchen, einer Riesenbreze und 2 Maß Bier in der Bräurosl lehnte ich mit einer Bismarckheringsemmel am Geländer des „Milkyway-Dancer“ und beobachtete kreischende Menschen in kleinen, auf einer schnell drehenden Scheibe umherwirbelnden Halbkugeln, die fliegende Untertassen darstellen sollten.

„Einmal“, raunte ich der fülligen Dame in ihrem viel zu engen Kassenhäuschen zu, ließ mich in die nächste Untertasse fallen und wartete, dass das braungebrannte Muskelpaket im Jeansanzug meinen Fahrchip einkassierte.

„Dabei sein! Tolle Fahrt! Dabei sein!, dröhnte es, während ich mir den letzten Bissen meiner Bismarckheringsemmel einverleibte, als sich von hinten ein Bügel mit sanftem, aber unnachgiebigem Druck auf Brust und Schultern legte und dabei meine Arschbacken kräftig in den Kunstledersitz der Untertasse presste.

Alle Untertassen waren besetzt.

„Fly, Robin, fly“ wummerte es aus den Boxen, die Rotationsscheibe des „Milkyway-Dancer“ begann sich langsam zu drehen und beschleunigte unerbittlich.

Die Konturen der Umstehenden verschwammen, alle naselang schwappte mir ein auf- und abschwellendes „Dabei sein! Tolle Fahrt! Dabei sein!“ unterlegt von einem lautstarken „Up, up to the sky“ in den Gehörgang und allmählich begann auch die Untertasse selbst zu rotieren.

Harte Drehung nach links, abruptes Ausschwingen, harte Drehung nach rechts, abruptes Ausschwingen, permanent garniert vom rasenden Kreisen der Rotationscheibe.

Mir wurde schummrig.

Wenn ich meinen Blick an einem sich mitdrehenden Gegenstand fixierte, wurde es erträglicher.

Ich starrte also krampfhaft auf die Front meiner Untertasse und spannte Knie und Wirbelsäule so an, dass ich damit das leidige Nachschwingen von Kopf und Oberkörper abschwächen konnte.

Lange würde ich das nicht durchhalten.

Als ich es schon nicht mehr zu hoffen wagte, stoppte das Pendeln der Untertasse, die Rotationsscheibe verlangsamte sich und kam zum Stillstand.

Mit dem sanft pfeifenden Geräusch diskret entweichender Luft lösten sich die hydraulischen Fixierungsbügel.

Das heißt: Alle Bügel lösten sich, nur nicht einer.

Meiner.

Mein Sitznachbar hüpfte aus der Untertasse, eine bedirndelte Japanerin nahm neben mir Platz.

„Hallo, hallo“, rief ich dem Muskelprotz im Jeansanzug zu, der damit beschäftigt war, die Fahrchips der Neufahrgäste einzusammeln.

„Mein Bügel löst sich nicht!“

„Kann nicht sein“, entgegnete er, rüttelte an dem Bügel und versuchte, diesen nach oben zu ziehen.

Wirkung: Null.

Der Bügel bewegte sich keinen Millimeter.

Der Jeansmann winkte einen Kollegen herbei.

Nun versuchten beide mit aller Kraft den Bügel nach oben zu ziehen, was leider die gegenteilige Wirkung, nämlich eine Verstärkung des Bügeldrucks nach unten, nach sich zog.

Mir presste es die Luft aus der Lunge.

„Dabei sein! Tolle Fahrt! Dabei sein!“

Mit einem Ruck setzte sich die Rotationsscheibe wieder in Bewegung.

„Wir versuchen’s gleich nochmal!“, rief der Jeansmann und sprang ab.

Jetzt war es wieder an der Zeit die bewährten Hilfsmittel zum Einsatz zu bringen:
starrer Blick zur Front der Untertasse, Anspannen von Knie und Wirbelsäule.

„Dabei sein! Tolle Fahrt! Dabei sein!“.

Die Drehungen schienen nun deutlich schneller und ruppiger als zuvor.

Mir wurde übel - übler - speiübel.

Schließlich verlangsamte sich die Fahrt, was prompt einige Fahrgäste dazu veranlasste,
„Zu-ga-be, Zu-ga-be!“ zu skandieren, worauf die Rotationsscheibe unter lautstarkem Johlen meiner Mitfahrer wieder beschleunigt wurde.

„Dabei sein! Tolle Fahrt! Dabei sein!” – „Fly Robin fly, up, up to the sky“.

Ich kotzte die Bismarckheringsemmel auf das Dirndl der Japanerin.

Endlich: Der "Milkyway-Dancer" kam zum Stillstand.

Die Hydraulikbügel öffneten sich, bis auf einen.

Meinen.

Die Japanerin suchte das Weite, der Platz neben mir blieb leer.

Schon war der Jeansmann zur Stelle, diesmal mit einem unförmigen, riesigen Schraubenschlüssel.

Er hantierte hastig hinter dem Sitz meiner Untertasse: „Wir holen Sie hier raus.
Aber sie werden verstehen, dass wir bei diesem Andrang den Betrieb aufrechterhalten müssen“.

Das leuchtete ein. Ich nickte apathisch.

„Augen schließen und ruhig atmen“, rief mir der Jeansmann noch zu, während er von der sich wieder beschleunigenden Scheibe hüpfte.

„Dabei sein! Tolle Fahrt! Dabei sein!“

Und immer noch: „Fly, Robin, fly, up, up to the sky“.

Das musste die Maxiversion sein.

Ich wähnte mich im Schleudergang einer mit Erbrochenem gefüllten Waschmaschine.

“Fly Robin fly / dabei sein /Up, up, to the / tolle Fahrt, dabei sein”.

Jetzt wollten auch die Breze und das halbe Hähnchen nicht mehr länger in mir verweilen.

Mir wurde schwarz vor Augen.

Die Fahrt schien endlos.

Endlich.

Stillstand.

Wie im Delirium spürte ich, wie mir der Jeansmann eine Bismarckheringsemmel in die Hand drückte:

„Zur Stärkung vom Chef – geht auf’s Haus!
Der Techniker ist informiert.
Sie halten durch.
Sie machen das!“

Der "Milkyway-Dancer" startete erneut.

„Dabei sein, tolle Fahrt ...“

Als ich wieder zu mir kam, stand eine Krankenschwester an meinem Bett:

„Herr Willmann, na also, schön, dass Sie wieder bei uns sind - für Sie“,
und reichte mir eine Genesungskarte mit der Aufschrift „Heile mit Eile“:

Lieber Herr Willmann,

wir wünschen Ihnen von ganzem Herzen gute Besserung und würden uns freuen, Sie bald wieder in unserem Fahrgeschäft begrüßen zu dürfen.

Was die von Ihnen bis dato nicht bezahlten Fahrten anbelangt, erlauben wir uns, die Rechnung beizufügen mit der Bitte, den hieraus sich ergebenden Endbetrag auf unser unten angegebenes Konto zur Anweisung zu bringen.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr Team vom Milkyway-Dancer
 
Zuletzt bearbeitet:

petrasmiles

Mitglied
Wirklich gut geschrieben!
Aber im Ernst - wer geht mit vollem Bauch in so ein hüpfendes Fahrgeschäft? 2 Maß Bier auch noch?
Das Leiden zu lesen wird erträglicher durch ein kleines bißchen Schadenfreude :D

Liebe Grüße
Petra
 



 
Oben Unten