Heimat liebt man nicht für etwas

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Heimat sucht man sich nicht aus. Heimat ist kein Ort, sondern eher eine Beziehung zu dem Ort, in den man hineingeboren wird. Tag für Tag saugt man die Heimat mit allem, was dazu gehört, in sich ein. Mit jedem Atemzug und mit jeder Pore in der Haut. Man bekommt die erste mentale Prägung. Man wächst und formt sich als Individuum, einfach als Mensch, in der Hoffnung der Eltern, als ein guter Mensch.

Dieser Ort ist für mich eine kleine Stadt im Nordosten der Ukraine, die ich mit 17 Jahren in das ferne, erwachsene Leben verließ. Schon während meines ersten Heimatbesuchs nur ein paar Monate später fiel es mir auf, dass Bäume nicht mehr so groß wirkten, wie ich sie in Erinnerung hatte. Sie waren quasi geschrumpft. Kennt ihr dieses Gefühl?

Am Anfang des Lebens sind Bäume jedoch unwahrscheinlich groß. Straßen sind breit, Entfernungen entsprechend weit. Unsere Wohnung liegt ziemlich am Stadtrand. Bis ins Stadtzentrum sind es je nachdem etwa 5 bis 8 km. Im Grunde geht es um einen lockeren Spaziergang durch den Wald. Das war für mich aber früher eine Weltreise mit einem Linienbus, 3 bis 4 Haltestellen. Auf den Bus musste man öfter lange warten. Dann kam dieser schon ziemlich gut gefüllt an. Wenn man lange an der Haltestelle im Winter frieren musste, war es im Bus sofort kuschelig warm, durch die Körpernähe der vielen Fahrgäste, die selbstverständlich auch in die Stadtmitte wollten.

Die Verbindung zwischen Zentrum und Stadtrand ist nach wie vor nicht perfekt. Davon profitieren zahlreiche offizielle und weniger offizielle Taxiunternehmen. Mit Taxifahrern hat man auch den ersten Kontakt direkt nach der Ankunft an der Bahnstation. Man freut sich, nach langer Zeit wieder in der Heimat zu sein, fühlt sich aber ziemlich schnell wieder geerdet. Man ist im Einzelfall unzufrieden, dass der Taxifahrer im Auto raucht und bittet ihn, dies während der Fahrt zu unterlassen, worauf man eine sehr originelle Antwort bekommt: „Sie haben doch gesehen, dass ich rauche. Warum haben Sie mich angesprochen?“

Der Arme, was sollte er bloß machen? Die Kundschaft war da und knisterte mit den Geldscheinen in der Hand. Die Zigarette war aber auch Gold wert, um sie einfach so wegzuschmeißen. Ich hätte meinen Landsmann lange und fest drücken mögen, bis ihm die Luft wegbliebe, beschränkte mich aber auf die Beförderung durch ihn von der Bahnstation zu meinem Vater. Während der Fahrt ging mir ständig das Lied meines Lieblingssängers aus Südafrika Jeremy Loops im Kopf herum: „My people, oh, my people! Nothing compares to the soul of my people. My people, oh, my people! Nothing compares to you…“ ¹

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¹ “Mein Volk, oh, mein Volk! Nichts ist vergleichbar mit der Seele meines Volkes. Mein Volk, oh, mein Volk! Nichts ist mit dir zu vergleichen…“
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Hallo @Liselotte Kranich: Komisch, ich habe dieses Heimatgefühl verloren - und vermutlich nie gehabt. Nach zwanzig Jahren "in der Fremde" traf mich so etwas wie Heimweh. Nach meiner Geburtsstadt, wie ich annahm. Eine starke, seltsam-kitschige Anwandlung packte mich rücklings und unverhofft - war ich doch so begeistert und frohen Mutes dort weggezogen.
Etwas zog mich plötzlich zurück, es gab eigentlich keinen Grund dafür, besonders glücklich war meine Zeit dort nicht gewesen ...
Ich zog also wieder "in die Heimat" - und badete eine zeitlang in Erinnerungen.
Doch es dauerte nicht lange, da ging mir alles auf den Nerv, wie früher: Das Kleinstädtische, Miefige, Mürrische. Diese kleinbürgerliche Verdrossenheit. Diese niedersächsische Sturheit. Die braune Gesinnung, die Stiernacken, die Fremdenfeindlichkeit...
Momentan möchte ich mit einem Schild durch die verkommene Fachwerkidylle ziehen oder in ein Megaphon brüllen: Ihr seid nicht das Volk!
Sie gehen mir aufs Gemüt, die Niedersachsen.
Hmpf.
 
@Isbahan: Liebe Isbahan, danke für dein Interesse. Deine Meinung ist mir wichtig. Ich freue mich, wenn du einen oder anderen Text von mir liest.
Heimat... Das ist ein sehr umfangreiches und sensibles Thema, wie es sich für mich herausgestellt hat. Ich wollte nur den Wunsch der Leser erfüllen. Es hieß: "Schreibe doch über deine Heimat. Das würde uns sehr interessieren". Sehr schnell habe ich verstanden, dass es gar nicht so einfach ist. Das Thema ist sehr komplex. Meine Gefühle sind sehr widersprüchlich. Ich fahre gern in meine kleine Heimat. Ich glaube aber, nur solange ich meine nächste Verwandtschaft dort habe. Liebe Grüße, Liselotte.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
@Liselotte Kranich: Da gebe ich Dir recht, das Thema ist heikel. Wenn nur nostalgisch von "Heimat und Familie" geschwärmt wird, tue ich mich schwer.
Obwohl ich auch dieses Gefühl kenne: Wenn man aus der Ferne zurückkommt, scheint einem alles so vertraut - auch die Schnoddrigkeit eines Taxifahrers ... ;)
 
Hallo @Liselotte Kranich , ich wollte dir kurz Feedback zu deinem Text geben, da mir dieser gut gefallen hat. Ich bin selbst etwas in der Welt herum gekommen, habe in den USA, Irland und Frankreich gelebt. Meinen USA Aufenthalt vor vielen Jahren als Au-Pair musste ich aus familiären Gründen nach ein paar Monaten abbrechen. Auf der einen Seite war ich traurig darüber, auf der anderen Seite erinnere ich mich noch heute daran, wie gut es mir getan hat, wieder den Dialekt meiner Heimat zu hören – obwohl ich nicht lange fort gewesen war. Die direkte, ja fast brutal unhöfliche Art meiner Landsleute, über die ich mich früher oft geärgert hatte, gab mir plötzlich das Gefühl, wieder zu Hause zu sein; sie bot mir einen Kontrast zur amerikanischen Überhöflichkeit, den ich plötzlich als sehr angenehm und authentisch empfand. Daher kann ich das Ende deines Textes gut nachvollziehen.

Dennoch tue mich mir mit dem Begriff „Heimat“ schwer – er ist etwas, was mir beim Schreiben scheinbar irgendwie automatisch aus den Fingern kriecht und dennoch ein Begriff, den ich kaum definieren kann.

@Isbahan auch dein Gefühl kann ich gut nachvollziehen. Mir geht es da nicht viel anders. Ich lebe nun seit einem Jahr wieder in Deutschland (ich bin wegen Corona früher als geplant aus Frankreich zurückgekehrt) – am Anfang überwog vor allem die Freude, trotz der ungeplanten Rückkehr , da ich nun wieder mehr Zeit mit Freunden ect verbringen konnte. Mittlerweile gehen mir viele Dinge hier wieder gewaltig auf die Nerven (das ewige Gemecker der Leute, die Gehässigkeit unter den Arbeitskollegen...) und ich spiele mit dem Gedanken, wieder ins Ausland zu gehen, sobald sich die Corona Lage beruhigt hat... Wir werden sehen. Die alte Binsenweisheit „You can't have everything“ ist leider nur zu wahr.

Liebe Grüße,

Merle
 
Hallo @Merle_Sternwender, vielen Dank fürs Lesen und dein Feedback. Eins ist klar: Bewegung ist wichig im In- und Ausland. Danach kehrt man gern auch in die Heimat zurück. Der Mensch ist so gebaut. Ihm fehlt das, was er gerade nicht haben kann. Ihm kommt es immer so vor, dass es dort besser ist, wo er gerade nicht sein kann. Ich bin ein Zugvogel. Ein Käfig ist nichts für mich. Die Option, nach Bedbarf in die Heimat fliegen zu können, muss aber für mich immer offen bleiben. Dann ist die Welt für mich in Ordnung :)

LG Liselotte
 



 
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