Lord Nelson
Mitglied
Heimkehr
Erich verlangsamte unwillkürlich seinen Schritt. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt, etwas Merkwürdiges. Er blieb stehen und bog einige Fächer der Zimmerpalme mit den Händen zur Seite, so dass er freie Sicht hatte. Dann starrte er mit offenem Mund. Was sich in nächster Nähe vor ihm abspielte erschien ihm völlig unerklärlich. Erich wandte den Blick nicht von dem Rücken der Frau, die soeben im Bücherregal verschwand. Ohne Eile schlurfte er hin zu der Stelle zwischen Bücherregalen und Wand, an der sich ein schmaler Spalt soeben sachte schloss. Erich merkte verwundert, dass es sich gar nicht um Regale handelte, sondern um eine mit täuschend echt wirkenden Bücherreihen bemalte Tür. Jetzt entdeckte er auch eine Türklinke. Die Tür ging ganz leicht auf. Erich spähte vorsichtig durch den Spalt. Drüben sah es genau so aus wie hier. Derselbe dezente, pflegeleicht gemusterte Teppichboden. Dieselben unübersichtlich verzweigten Gänge, in einem freundlichen Apricotrosa gestrichen und in gewissen Abständen durch bodentiefe Fenster belichtet. Dieselben großen, in fröhlichen Farben gemalten Blumenbilder, die großen Kübel mit buschigen Grünpflanzen. Erich schlüpfte durch den Türspalt, wendete sich um und sah zu, wie die Tür langsam zufiel. Es war eine ganz normale Tür mit Milchglasfüllung. Von dieser Seite aus sah er die aufgemalten Regalreihen nur noch schwach durchschimmern.
Erich hätte ob der erstaunlichen Entdeckung aufgeregt sein können, doch er war es nicht. Ohne groß zu überlegen folgte er wie selbstverständlich dem Verlauf des Hauptganges. Die Gestalten, die dort vereinzelt herumspazierten, beachteten ihn ebenso wenig wie er sie. Am Ende gabelte sich der Gang. Nach links ging ein schmaler Seitengang ab, der anscheinend in eine Küche mündete. Nach einem verstohlenen Blick auf das hektischen Treiben wandte sich Erich dem nüchternen, mit grauem PVC belegten Gang gegenüber zu. Hier gab es viele Türen, doch es war kein Mensch zu sehen. Am Ende dieses Ganges hörte er Stimmen. Er glaubte Geplauder und Lachen zu vernehmen. Erwartungsvoll beschleunigte er seine Schritte. Als er das lichtdurchflutete Foyer erblickte, in dem Senioren in lockeren Runden Brettspiele spielten, andere beisammen saßen, wieder andere einfach so herumstanden und guckten, da brach die Erinnerung mit unbarmherziger Wucht über ihn herein. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schock.
Es war ein Heim! Er befand sich in einem Seniorenheim. Erich erinnerte sich ungewohnt klar an den Tag, als er zusammen mit Marthe hier im Foyer angekommen war. Er wusste, dass es schon eine Ewigkeit her war. Aber wo war Marthe nur? Er vermisste sie so. Er hatte sie schon lange Zeit nicht mehr gesehen. Waren es Wochen, oder gar Monate? Wie konnte sie ihm das antun, ihn alleine in so einem Heim zu lassen? Der Gedanke schmerzte. Erich spürte eine Träne seine zerknitterte Wange hinunterlaufen. Kurz ließ er sich auf einem Holzbänkchen am Rande des Foyers nieder und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Nein, das konnte nicht sein. Das würde Marthe niemals tun. War sie etwa tot? Er konnte sich nicht daran erinnern, aber bei dem Gedanken verriet ihm ein dumpfer Schmerz tief im Inneren zweifelsfrei, dass es sich so verhielt. Marthe war nicht mehr. Was sollte er ohne sie noch hier, in dieser fremden Umgebung? Er wollte heim. “Heim” dachte er sehnsüchtig.
Doch das war nicht möglich. Man hielt ihn hier fest. Tag um Tag pflegte er durch diese apricotfarbenen Gänge zu wandeln, die einander aufs i-Tüpfelchen glichen, stets unbeirrt auf der Suche nach einem Ausgang. Blitzartig schoss ihm die Erinnerung in den Kopf, wie er einmal sogar versucht hatte, über die Terrasse nach draußen zu entkommen. Wie er an dem hohen Drahtzaun emporgeklettert war, den Passanten auf der Straße dabei verzweifelt “Hilfe, Hilfe!” entgegengerufen hatte. Doch niemand half ihm. Binnen weniger Sekunden holten ihn die entsetzten Pfleger mit Gewalt in sein Zimmer zurück. Nicht dass sie grob gewesen wären. Das tat gar nicht not. Sein gebrechlicher Körper hatte gegen zwei kräftige junge Männer nicht die geringste Chance. Und so brachte man ihn gegen seinen Willen zurück. Behutsam zwar, auch freundlich, aber doch mit Gewalt. Bei der Erinnerung schnürte ihm das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit die Kehle zu. Dass ihm diese Episode jetzt so plötzlich wieder einfiel! Er hatte wohl einen seiner hellen Momente. Sie waren selten geworden, die hellen Momente in seinem Leben. In einem anderen hellen Moment hatte er am Esstisch den Stationschef direkt hinter seinem Rücken reden hören. Über ihn, ganz unverhohlen, geradezu schamlos. “Wir geben ihm jetzt stärkere Psychopharmaka”. Erich hatte sich diese Information fest eingeprägt. Es bedeutete, dass sie ihn mit Medikamenten ruhigstellten. War das der Grund, weshalb er sich meistens so benebelt fühlte? Und sie hielten ihn gefangen. Nicht mit roher Gewalt, das nicht. Sondern einfach durch das Fehlen eines Ausgangs, durch den er hätte davonspazieren können. Dies alles durchschaute er in seinen hellen Momenten glasklar.
Erich blickte verstört über das Foyer hinweg und entdeckte auf einmal die breiten Glastüren gegenüber, die auf die Straße führten. Für einen Moment blieb die Zeit stehen. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Ein Ausgang! Da war sie, seine lang ersehnte Chance, auf die er schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. In seinen stumpfen Augen regte sich ein lebendiges Funkeln. Jetzt würde er also endlich heimgehen. Erich lächelte breit und erhob sich mühsam. “Heim” murmelte er glücklich. Wie dieses “heim” aussah, davon hatte er keine rechte Vorstellung. Mit seinem alten Zuhause verband ihn nicht die Spur einer Erinnerung. Jetzt jedenfalls war er sich absolut sicher, dass er sich, wäre er erst daheim, dort so richtig wohlfühlen und nie wieder weg wollen würde.
Erich blinzelte. Draußen schien die Sonne und der Himmel strahlte in einem fantastischen Blau, doch es war bitter kalt. Auf den Pflastersteinen klebten hartgefrorene Reste von Schnee. Entschlossen wandte er sich nach rechts und schritt aus, so rasch es seine steifen Beine erlaubten. Schon nach wenigen Minuten begann er in seinen dünnen Sachen und den Hausschuhen jämmerlich zu frieren. Von hinten hörte er eilige Schritte. “Da sind Sie ja, Herr Lohse” rief eine weibliche Stimme außer Atem “was machen Sie denn bei der Kälte da draußen?” Die Stimme klang aufrichtig besorgt. Ein wärmender Arm legte sich fürsorglich um Erichs in der Eiseskälte schlotternden Leib und stützte ihn. Freundliche Augen lächelten ihn an. Eine zarte Hand ergriff die seine. ”Kommen Sie, wir gehen wieder zurück ins Warme. Draußen können Sie sich ja sonstwas holen. ”
Beim Abendbrot ordnete Erich mit seinen knochigen Fingern die mundgerecht vorgeschnittenen belegten Broten auf seinem Teller um. Er war hochkonzentriert. Vorsichtig packte er die Wurst- und Käsescheibchen und schichtete sie gewissenhaft übereinander. Wohin nun mit den klebrigen Brotstücken? Er wusste es nicht, kam einfach nicht darauf. Denk nach, dachte er, während seine innere Unruhe wuchs. Das Denken fiel ihm schwer. Erich überließ sich seinen Empfindungen. Er fühlte sich unsäglich fremd. Nichts war ihm hier vertraut. Mit allen Fasern seines Herzens wünschte er sich heim. Doch ehe er in tiefe Verzweiflung versank, regte sich sein ureigener Kampfgeist. Er durfte nicht aufgeben. Er nahm sich vor, gleich morgen nach einem Ausgang zu suchen. Es musste doch einen Ausgang geben, herrgottnochmal. Den müsste er nur finden. Dann würde er heimkehren, und alles würde gut.
Erich verlangsamte unwillkürlich seinen Schritt. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt, etwas Merkwürdiges. Er blieb stehen und bog einige Fächer der Zimmerpalme mit den Händen zur Seite, so dass er freie Sicht hatte. Dann starrte er mit offenem Mund. Was sich in nächster Nähe vor ihm abspielte erschien ihm völlig unerklärlich. Erich wandte den Blick nicht von dem Rücken der Frau, die soeben im Bücherregal verschwand. Ohne Eile schlurfte er hin zu der Stelle zwischen Bücherregalen und Wand, an der sich ein schmaler Spalt soeben sachte schloss. Erich merkte verwundert, dass es sich gar nicht um Regale handelte, sondern um eine mit täuschend echt wirkenden Bücherreihen bemalte Tür. Jetzt entdeckte er auch eine Türklinke. Die Tür ging ganz leicht auf. Erich spähte vorsichtig durch den Spalt. Drüben sah es genau so aus wie hier. Derselbe dezente, pflegeleicht gemusterte Teppichboden. Dieselben unübersichtlich verzweigten Gänge, in einem freundlichen Apricotrosa gestrichen und in gewissen Abständen durch bodentiefe Fenster belichtet. Dieselben großen, in fröhlichen Farben gemalten Blumenbilder, die großen Kübel mit buschigen Grünpflanzen. Erich schlüpfte durch den Türspalt, wendete sich um und sah zu, wie die Tür langsam zufiel. Es war eine ganz normale Tür mit Milchglasfüllung. Von dieser Seite aus sah er die aufgemalten Regalreihen nur noch schwach durchschimmern.
Erich hätte ob der erstaunlichen Entdeckung aufgeregt sein können, doch er war es nicht. Ohne groß zu überlegen folgte er wie selbstverständlich dem Verlauf des Hauptganges. Die Gestalten, die dort vereinzelt herumspazierten, beachteten ihn ebenso wenig wie er sie. Am Ende gabelte sich der Gang. Nach links ging ein schmaler Seitengang ab, der anscheinend in eine Küche mündete. Nach einem verstohlenen Blick auf das hektischen Treiben wandte sich Erich dem nüchternen, mit grauem PVC belegten Gang gegenüber zu. Hier gab es viele Türen, doch es war kein Mensch zu sehen. Am Ende dieses Ganges hörte er Stimmen. Er glaubte Geplauder und Lachen zu vernehmen. Erwartungsvoll beschleunigte er seine Schritte. Als er das lichtdurchflutete Foyer erblickte, in dem Senioren in lockeren Runden Brettspiele spielten, andere beisammen saßen, wieder andere einfach so herumstanden und guckten, da brach die Erinnerung mit unbarmherziger Wucht über ihn herein. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schock.
Es war ein Heim! Er befand sich in einem Seniorenheim. Erich erinnerte sich ungewohnt klar an den Tag, als er zusammen mit Marthe hier im Foyer angekommen war. Er wusste, dass es schon eine Ewigkeit her war. Aber wo war Marthe nur? Er vermisste sie so. Er hatte sie schon lange Zeit nicht mehr gesehen. Waren es Wochen, oder gar Monate? Wie konnte sie ihm das antun, ihn alleine in so einem Heim zu lassen? Der Gedanke schmerzte. Erich spürte eine Träne seine zerknitterte Wange hinunterlaufen. Kurz ließ er sich auf einem Holzbänkchen am Rande des Foyers nieder und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Nein, das konnte nicht sein. Das würde Marthe niemals tun. War sie etwa tot? Er konnte sich nicht daran erinnern, aber bei dem Gedanken verriet ihm ein dumpfer Schmerz tief im Inneren zweifelsfrei, dass es sich so verhielt. Marthe war nicht mehr. Was sollte er ohne sie noch hier, in dieser fremden Umgebung? Er wollte heim. “Heim” dachte er sehnsüchtig.
Doch das war nicht möglich. Man hielt ihn hier fest. Tag um Tag pflegte er durch diese apricotfarbenen Gänge zu wandeln, die einander aufs i-Tüpfelchen glichen, stets unbeirrt auf der Suche nach einem Ausgang. Blitzartig schoss ihm die Erinnerung in den Kopf, wie er einmal sogar versucht hatte, über die Terrasse nach draußen zu entkommen. Wie er an dem hohen Drahtzaun emporgeklettert war, den Passanten auf der Straße dabei verzweifelt “Hilfe, Hilfe!” entgegengerufen hatte. Doch niemand half ihm. Binnen weniger Sekunden holten ihn die entsetzten Pfleger mit Gewalt in sein Zimmer zurück. Nicht dass sie grob gewesen wären. Das tat gar nicht not. Sein gebrechlicher Körper hatte gegen zwei kräftige junge Männer nicht die geringste Chance. Und so brachte man ihn gegen seinen Willen zurück. Behutsam zwar, auch freundlich, aber doch mit Gewalt. Bei der Erinnerung schnürte ihm das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit die Kehle zu. Dass ihm diese Episode jetzt so plötzlich wieder einfiel! Er hatte wohl einen seiner hellen Momente. Sie waren selten geworden, die hellen Momente in seinem Leben. In einem anderen hellen Moment hatte er am Esstisch den Stationschef direkt hinter seinem Rücken reden hören. Über ihn, ganz unverhohlen, geradezu schamlos. “Wir geben ihm jetzt stärkere Psychopharmaka”. Erich hatte sich diese Information fest eingeprägt. Es bedeutete, dass sie ihn mit Medikamenten ruhigstellten. War das der Grund, weshalb er sich meistens so benebelt fühlte? Und sie hielten ihn gefangen. Nicht mit roher Gewalt, das nicht. Sondern einfach durch das Fehlen eines Ausgangs, durch den er hätte davonspazieren können. Dies alles durchschaute er in seinen hellen Momenten glasklar.
Erich blickte verstört über das Foyer hinweg und entdeckte auf einmal die breiten Glastüren gegenüber, die auf die Straße führten. Für einen Moment blieb die Zeit stehen. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Ein Ausgang! Da war sie, seine lang ersehnte Chance, auf die er schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. In seinen stumpfen Augen regte sich ein lebendiges Funkeln. Jetzt würde er also endlich heimgehen. Erich lächelte breit und erhob sich mühsam. “Heim” murmelte er glücklich. Wie dieses “heim” aussah, davon hatte er keine rechte Vorstellung. Mit seinem alten Zuhause verband ihn nicht die Spur einer Erinnerung. Jetzt jedenfalls war er sich absolut sicher, dass er sich, wäre er erst daheim, dort so richtig wohlfühlen und nie wieder weg wollen würde.
Erich blinzelte. Draußen schien die Sonne und der Himmel strahlte in einem fantastischen Blau, doch es war bitter kalt. Auf den Pflastersteinen klebten hartgefrorene Reste von Schnee. Entschlossen wandte er sich nach rechts und schritt aus, so rasch es seine steifen Beine erlaubten. Schon nach wenigen Minuten begann er in seinen dünnen Sachen und den Hausschuhen jämmerlich zu frieren. Von hinten hörte er eilige Schritte. “Da sind Sie ja, Herr Lohse” rief eine weibliche Stimme außer Atem “was machen Sie denn bei der Kälte da draußen?” Die Stimme klang aufrichtig besorgt. Ein wärmender Arm legte sich fürsorglich um Erichs in der Eiseskälte schlotternden Leib und stützte ihn. Freundliche Augen lächelten ihn an. Eine zarte Hand ergriff die seine. ”Kommen Sie, wir gehen wieder zurück ins Warme. Draußen können Sie sich ja sonstwas holen. ”
Beim Abendbrot ordnete Erich mit seinen knochigen Fingern die mundgerecht vorgeschnittenen belegten Broten auf seinem Teller um. Er war hochkonzentriert. Vorsichtig packte er die Wurst- und Käsescheibchen und schichtete sie gewissenhaft übereinander. Wohin nun mit den klebrigen Brotstücken? Er wusste es nicht, kam einfach nicht darauf. Denk nach, dachte er, während seine innere Unruhe wuchs. Das Denken fiel ihm schwer. Erich überließ sich seinen Empfindungen. Er fühlte sich unsäglich fremd. Nichts war ihm hier vertraut. Mit allen Fasern seines Herzens wünschte er sich heim. Doch ehe er in tiefe Verzweiflung versank, regte sich sein ureigener Kampfgeist. Er durfte nicht aufgeben. Er nahm sich vor, gleich morgen nach einem Ausgang zu suchen. Es musste doch einen Ausgang geben, herrgottnochmal. Den müsste er nur finden. Dann würde er heimkehren, und alles würde gut.