Heimwegtelefon

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Vogelfrei

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Die Wahrheit singt ein Lied das man nicht hören kann, bevor es verklungen ist.
Mirko begriff das erst, als es schon geschehen war.
Erstarrt im Pfiff einer Lokomotive.
Es tutet genau dreimal, dann hört Mirko ein Klicken in der Leitung und eine helle Frauenstimme erklingt: „Hallo, mein Name ist Eva, Sie sind auf dem Heimweg?“
Er sieht die Straße hinunter. Schmutzige Lichtflecken breiten sich unter den Straßenlampen aus, milchige Pfützen auf dem Asphalt. Es ist still. So spät in der Nacht ist hier niemand unterwegs. Warum sollte man auch in diesem Teil der Stadt herumlaufen, wenn man doch gemütlich zu Hause am Schreibtisch sitzen kann, eine letzte Tasse Kaffee in der Hand?
Nicht einmal der eisige Wind schafft es die Dunkelheit fortzutragen. Genauso wenig, wie den gellenden Schrei der Lokomotive.

„Hallo?“, fragt die Stimme noch einmal. „Ist da jemand?“

„Ja“, sagt er, räuspert sich. „Ja, entschuldigen Sie.“

„Nicht doch“, lacht die Frau. „Wo sind Sie und was ist ihr Ziel?“

Mirko starrt noch immer in die Nacht hinter den Straßenlaternen. Wo ist er? Was ist sein Ziel? „Ist das wichtig?“

Die Frau scheint irritiert. „Nun, das ist der Sinn dieser Hotline... Ihnen eine Sicherheit für den Weg zu bieten...“

„Ich weiß es nicht“, unterbricht er sie. „Es tut mir leid.“

„Was wissen Sie nicht? Wo Sie sind, oder was ihr Ziel ist?“

„Beides, fürchte ich.“

Einen Moment herrscht schweigen. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße waren baufällig und zum Großteil nicht mehr bewohnt. Eingeworfene Fensterscheiben, wilde Graphities die in der Schwärze der Nacht verloren gingen.Mülleimer stapelten sich in einer Garageneinfahrt und Mirko konnte ein paar Ratten ausmachen die an den Säcken nagten. Der Wind war zu kalt um den Gestank des faulenden Haufens zu ihm zu pusten.

„Nun gut“, die Frau scheint sich einen Ruck zu geben. „Worüber wollen sie rede?“

Mirko überlegt, ob er noch weiß was Reden bedeutet.

„Worüber reden Sie normalerweise?“

Eva lacht auf. Sie klingt sehr jung, lange kann es noch nicht zurück liegen, dass sie ein Mädchen war. „Meistens erzählen mir die Leute wo sie sind und wohin sie gehen.“

„Mhm“, macht Mirko. Fröstelnd zieht er den Kopf zwischen die Schultern. Das Stillstehen lädt die Kälte regelrecht ein sich einen Weg durch Mantel und Schal zu suchen und seine Züge erstarren zu lassen.

„Warum haben Sie angerufen?“

Ja, warum?

„Ich bin mir nicht sicher. Ich hatte gerade daran gedacht, dass David mir einmal von diesem Heimwegtelefon erzählt hat.“

„Deswegen rufen sie an?“

„Ja.“

„Sie sind also gar nicht auf dem Heimweg?“

Er schüttelt den Kopf, bis ihm klar wird, dass Eva das ja nicht sehen kann. Langsam beginnen seine Augen von dem vielen Starren zu tränen.

„Nein, ich will nicht nach Hause.“

„Warum denn das?“

Mirko muss schlucken. Kurz ist er versucht einfach aufzulegen, doch etwas hält ihn davon ab. Ein Bedürfnis sich mitzuteilen, gewachsen an jedem Tag des Schweigens.

„Lange Geschichte“, presst er schließlich hervor.

Schweigen in der Leitung. Mirko kann es der Frau nicht verdenken. Was soll sie schon zu einem offensichtlich verwirrten Typ sagen, der mitten in der Nacht anruft, weil er nicht nach Hause will?
Seine Hände schmerzen in der Winternacht.

„Wollen Sie es mir erzählen? Ich habe Zeit.“

Er wäre überrascht gewesen, wenn dieses Gefühl noch durch die Stille dringen könnte. „Haben Sie nicht etwas besseres zu tun, als einem Fremden zuzuhören?“

Wieder lacht sie. Hell und unbeschwert, als hätte das Leben ihr noch nichts anhaben können. „Nicht wirklich. Das ist hier sozusagen immer meine Aufgabe.“

„Nicht direkt.“

„Nicht direkt“, stimmt sie ihm zu. „Aber ich denke man könnte es zurechtbiegen.“

Mirko versucht sich vorzustellen, mit wem er redete. Das Bild einer jungen Frau tauchte vor seinem inneren Auge auf. Eine gemütliche Hose, eine Kanne heißen Tees vor sich auf dem Schreibtisch. In der Hand vielleicht einen Stift, mit dem sie auf einem Block kritzelte, während sie, den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt, all den Gestrandeten der Nacht lauscht.
Warum sie es wohl tat?
Ob sie nicht gerne schlief? Wartete nicht irgendjemand auf sie? Oder hörte sie sich gerne die Geschichten von gesichtslosen Wanderern an?

„Noch dran?“

„Ja“, sagt er.

„Haben Sie es sich überlegt?“

Verwirrt runzelt er die Stirn. „Was?“

„Na, ob Sie es mir erzählen wollen?“

Ach ja. Die Frage. Will er?
Ein Windstoß fährt zwischen den Häusern entlang und streicht ihm mit eisigen Fingern durch die Haare.
Eva wartet, sagt nichts mehr.
Mirko reibt sich das Kinn und füllte seine Lunge mit der schneidenden Kälte. Noch nie hatte er darüber gesprochen. Mit niemandem. Doch heute hatte ihn die Erinnerung wieder auf die Straße getrieben, hatte ihm den Schlaf geraubt, mit ihren tausend hässlichen Gesichtern.
Mit dem pfeifenden Lachen der Lokomotive.

„Es ist zwei Jahre her. Es war genauso kalt wie jetzt“, fängt er an. Zögerlich, ist sich nicht sicher, ob man dieses Eis brechen sollte. Am Ende geht er noch in den Fluten verloren. „Ich glaube es hat geschneit. Ganz kleine Flocken. Sie sind schon geschmolzen, bevor sie die Erde berühren konnten.“

Er hält inne, fischte im trüben Lichtschein nach Worten. Worte die groß genug sind, um den Sturm in seinem Herzen zu fassen. Der stille Sturm, in dem nichts zu Hören ist als das Ächzen der Bremsen auf den Gleisen.
Eva sagt nichts, doch Mirko bildet sich ein einen Stift über Papier kratzen zu hören. Vielleicht ist sie einer dieser Menschen die Augenblicke und nachtschwarze Erinnerungsfetzen sammeln, um daraus einen Schutz gegen die Finsternis zu spinnen.
Die Hand in der er das Handy hält wird langsam taub.

„Wir waren auf dem Weg nach Wien, eine Geschäftsreise. Wir haben den Zug genommen...“

„Wer wir?“, fragt Eva sanft, als seine Stimme bricht.

Zittrig holt er Luft. „David und ich.“

Irgendwo in der Nähe bellt ein Hund. Klagend kling sein Ruf, schaurig hallte er zwischen den verlassenen Häusern wider.

„Er war mein Freund. Der beste Freund, den ich je hatte.“ Er hatte viel zu spät begriffen was es hieß, einen besten Freund zu haben. Es gibt auf der Welt niemanden mit er so gut lachen konnte, mit dem er über alles reden konnte, oder schweigen, wenn das erträglicher gewesen war. Niemand versteht mehr was er sagen will, niemand errät was er verschweigt.

„Wir waren schon zusammen im Kindergarten. Wir haben in der selben Straße gewohnt. Wir haben uns jeden Tag gesehen. Nach der Schule sind wir zusammen studieren gegangen. Manchmal haben wir uns gestritten. Und wenn wir uns wieder vertragen haben, konnten wir uns ein Stückchen besser verstehen.“

Er kann spüren, wie seine Lippen zu beben beginnen. Stur sieht er weiter in die Nacht hinaus.

„Was ist passiert?“

„Ich weiß es nicht genau. Es ging so schnell“, murmelt er hastig. Er blinzelt die Tränen zurück. Wie kann er nach all der Zeit noch welche übrig haben?

Eine Autotür schlägt zu, doch keine Menschenseele lässt sich blicken.
Sein Geist schweift ab, zurück zu jenem Tag, der sein Leben mit einen Schlag ins Chaos stürzte. Fast glaubt er das warnende Hupen des Zuges zu hören, als er in den Bahnhof einfuhr.

„Ich... ich weiß nicht ob er gesprungen ist, oder ob ihn jemand geschubst hat. Vielleicht... vielleicht ist er auch über etwas gestolpert...“ Er fuhr sich über das Gesicht. „Ich habe es nicht gesehen. Keiner hat es gesehen.“

Jetzt werden seine Augen doch wieder feucht. Krampfhaft starrt er die Straßenlaterne an, als könnte das dreckige Licht die Wahrheit ausradieren.

„Er ist gestorben?“

Die erste Träne läuft ihm über die Wange, obwohl er noch immer dagegen zu kämpfen versucht. „Ja“, flüstert er. „Ich versuche mir immer zu sagen, dass David niemals gesprungen wäre, dass er nicht der Typ dafür war... er hat so viel gelacht und...“ Ein ersticktes Schluchzen löste sich aus seiner Brust. „Aber er hatte auch diese Momente, in denen er alles plötzlich schwarz sah. Ganz plötzlich. Es... es schien nie einen Grund zu geben und... niemand konnte ihm helfen...“

„Worüber hattet ihr denn geredet?“, fragt Eva.

Mirko lacht auf, auch wenn es eher wie ein Schniefen klingt. „Über das Wetter. Die Kälte war so unerwartet gekommen.“

Wieder muss er daran denken, wie David lachend nach oben gezeigt hatte. „Es schneit, Mann!“

Und dann war da der Zug gewesen. Panische Schreie, entsetztes Gezeter, durcheinander wuselnde Menschenmassen die sich immer näher drängten, um das grausige Szenario mit eigenen Augen zu sehen.
Sie lechzten nach Blut, brüllten sich gegenseitig ihren gekünstelten Irrsinn ins Gesicht. Sie wollten es sehen, wollten den kleinen Trip erleben, den nur wahres Unheil geben kann.
Ohne sich zu rühren hatte er auf dem Bahnsteig gestanden, das Geschrei war nicht an seine Ohren gedrungen. Da war nur dieses Rauschen gewesen, das Rauschen das ein Radio von sich gibt, wenn es keinen Empfang hat.
Er hatte es nicht begreifen können. Er hatte es sich nicht vorstellen können. Doch dann war da die Polizei gewesen, und der Rettungswagen, der nichts mehr retten konnte.
Erst da hatte die Erkenntnis ihn getroffen. Er hatte die Menschen zur Seite gedrängt, hatte sich durch ihre übereifrige Hysterie gekämpft.

„Lasst mich durch!“, hatte er geschrien. „Lasst mich durch! Das ist mein Freund!“

Und das Wort hatte eine magische Wirkung gehabt. Auf einen Schlag war es mucksmäuschenstill still geworden. Stiller als in einem leeren Kinderzimmer, stiller als das Ohr ertragen konnte. Die Menschen bildeten eine Gasse, hielten beinahe den Atem an, als er an den Rand des Steiges trat und hinab sah.
Der Zug war fiel zu spät zum Stehen gekommen. Das Licht der Streifenwagen blitze gespenstisch auf den dunklen Blutstropfen, die wie ein Staubregen auf den Schotter gefallen waren.
David war kaum noch zu erkennen gewesen. Nur seine Aktentasche hatte unbeschadet inmitten des Massakers gelegen.
Und Mirkos Welt, hatte sich auf den Kopf gestellt.
Er hatte nicht nach David geschrien, er hatte nicht geweint, er hatte ihm nicht befohlen mit dem Horror aufzuhören.
Er hatte einfach darauf gewartet wahnsinnig zu werden.

„Tod. Das Wort hatte für mich nie eine Bedeutung gehabt“, flüstert er, klammert sich an dem Handy fest. „Aber jetzt... Jetzt ist da überall Blut, wenn ich es höre...“

„Das tut mir so leid.“ Evas Stimme bebt.

„Das muss es nicht“, meint er abwesend. „Sie können nichts dafür.“ Warum entschuldigten sich Menschen immer für alles? Wieso entschuldigten sie sich für Dinge, von denen sie nicht einmal gewusst hatten?

„Was ist dann geschehen?“

„Dann haben wir ihn begraben müssen.“

Sie schwiegen. Mirko zitterte mittlerweile vor Kälte. Sie hatte sich durch den Stoff seiner Winterjacke gefressen, bis tief in sein Herz.

„Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen“, sagt Eva.

Ein Lächeln, das seine Augen nicht erreicht, zuckt über Mirkos Gesicht. „Das haben Sie bereits.“

„Hat Ihnen noch niemand zugehört?“

„Ich habe es noch niemandem erzählt.“

„Sie sollten nach Hause gehen“, meint Eva nach einer weiteren Pause. „Es ist zu kalt, um draußen zu stehen.“

„Mhm.“

Wieder jault irgendwo der Hund. Und noch immer starrt er die Straßenlaterne an. „Eine Sache muss ich Ihnen noch sagen.“

„Okay?“

„Ich glaube ich bin tatsächlich wahnsinnig geworden.“

„Nein.“ Eva klingt bestimmt. „Sie sind nicht verrückt. Wenn einem das Herz gebrochen wird und nichts die Splitter zusammenhalten kann, nennt man das Schock, Trauma, Leere. Aber nicht Wahnsinn.“

So besänftigend sind die Worte, als sänge sie einem Kind ein Wiegenlied.

„Das ist es nicht“, sagt er mit belegter Stimme. „Das ist nicht was mich wahnsinnig macht.“

„Was denn?“

Mirko schließt die Augen. „Ich kann ihn sehen. Er weicht mir nie von der Seite.“

„Viele sehen die Menschen die sie geliebt haben. Sie verlassen einen nie ganz, wissen Sie?“

„Wie kann man nicht wahnsinnig sein, wenn man Tote sieht?“

„Das ist einfach.“ Fast kann er ihr Lächeln sehen. „Sie sagen sich einfach, dass es nicht mehr ist, als ein Traum.“

„Und Sie meinen, das hilft?“

„Natürlich. Wenn es ein schöner Traum ist.“

„Ein schöner Traum? Wenn ich träume, dann immer von dem einfahrenden Zug...“

„Sie müssen loslassen. Er ist tot, das können Sie nicht mehr ändern. Aber Sie können doch die Erinnerungen an ihn als etwas Gutes -“

„Warum bin ich es nicht gewesen?“, bricht es da aus ihm heraus.

Eva holt tief Luft, er kann es hören. Beinahe hat er Angst vor ihrer Antwort.

„Glauben Sie wirklich“, sagt sie leise, „dass David gewollt hätte, dass sie sich diesen Vorwurf machen?“

Mirko schweigt, die Augen noch immer geschlossen. Die Worte treffen ihn.

Die Stille in seinem Kopf hält inne.
Und etwas in ihm erwacht aus einem langen Winterschlaf.

„Danke“, sagt er schließlich. „Ich denke, ich gehe jetzt nach Hause.“

„Tun Sie das. Und wenn Sie wieder einmal eine Heimweghilfe benötigen, rufen Sie nur an.“

„Danke“, sagt er noch einmal. „Auf Wiederhören.“

„Leben Sie wohl“, sagt Eva und er legt auf.

Mirko steckt sein Handy in die Jackentasche, öffnet die Augen wieder. Langsam wendet er den Kopf zur Seite.
David schenkt ihm ein schiefes Lächeln. Die Mütze hat er wie immer tief in die Stirn gezogen, doch die dichten Locken spitzen darunter hervor.

„Du weißt, dass ich nicht gesprungen wäre“, meint David.

Mirko seufzt. „Wenn du es sagst.“

Dann wendet er sich ab und läuft die Straße hinunter. David folgt ihm, stiller noch als sein Schatten. Vorbei an den leeren Häusern, vorbei an den obszönen Graphities die hier und da von den Straßenlampen aus der Dunkelheit geschält werden. Vorbei an dem Müllhaufen. Die Ratten flüchten, als sie seine Schritte hören. Zerbrochenes Fensterglas knirscht unter seinen Füßen und er beeilt sich das Gassengewirr hinter sich zu lassen.
Als sie um die Ecke biegen, trudeln die ersten Schneeflocken des Jahres vom finsteren Himmel.

„Es schneit, Mann!“, sagt David.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Vogelfrei,

welch schöner Text. Sehr gefühlvoll.

Man lässt nur die Hand los, nicht den Menschen.

Kleine Fehler in Groß- und Kleinschreibung kannst Du noch verbessern.

Viele Grüße und viel Freude hier,

DS
 

Vogelfrei

Mitglied
Hey,

Vielen Dank! Das freut mich zu hören :)

Oh, sehr schön formuliert^^ Ja, Loslassen ist wahrscheinlich nicht der richtige Weg...

Hups, danke für den Hinweis, da lese ich so gerne drüberweg :D

Vielen Dank und alles Liebe,
Dea
 



 
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