Heimweh

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Vitelli

Mitglied
Laura, die Assistenz der Geschäftsführung, geleitete mich zu einem belehnten Stuhl, den man mittig vor dem großen Eichenschreibtisch platziert hatte. Sie richtete meinen Kragen, zupfte an meinen Haaren und sagte etwas wie „Du machst das schon“ oder so.

Der Typ in der Mitte war mein direkter Vorgesetzter, unser Management Director. Zu seiner Rechten saß der Company Owner – ich kannte sein Antlitz aus dem Firmennewsletter. Die Frau im Hosenanzug kannte ich nicht; sie sei Anwältin, wurde mir gesagt.

Nach kurzer Vorstellung sagte man mir recht unumwunden, dass ich nicht mehr tragbar sei – schon lange nicht mehr tragbar sei -, und dass ich das – in einem klaren Moment - sicherlich auch so sähe. Ich nickte. Der Hosenanzug freute sich über meine „Einsicht“. Im Anwaltskauderwelsch legte sie mir einen Abwicklungsvertrag nahe.
Ich hatte jedoch nur Augen für den putzigen Koalabären, der es sich auf einem Ast vor dem Fenster bequem gemacht hatte, um das Schmierentheater aus erster Reihe zu verfolgen. Ich winkte ihm zu.

„Herr Lorenz, geht es Ihnen gut?“
„Hä?“
„Sie wirken abwesend auf mich.“
„Alles gut. Ich wusste nur gar nicht, dass hier Eukalyptus wächst.“
Die Anwältin sah mich verdutzt an; als eine Reaktion meinerseits ausblieb, schaute sie hilfesuchend zu ihrem Stuhlnachbarn, und als dieser nickte, fuhr sie fort.

Laura hatte Tränen in den Augen, als sie mich zum Taxi brachte. „Und das nach 11 Jahren … Diese Wichser.“
„Du, sag mal: hat der Koala eigentlich ´n Namen?“

Die Frau im Reisebüro sagte: „Wo möchten Sie hin?“
„Zur Wiege der Menschheit.“
„Und wo soll das da sein?“
„Afrika.“
„Und wo da genau?“
„Das weiß ich nicht. Lucy wurde in Äthiopien gefunden, oder nicht? Vielleicht fang ich da an. Das grenzt doch an Kenia, richtig? Da könnte es auch sein. Und wenn nicht, schlage mich ich mich von dort nach Südafrika durch.“
„Und was möchten Sie da, wenn ich fragen darf?“
„Mich paaren und sterben. In der Reihenfolge.“

Die Frau lehnte sich zurück, nahm ihre Brille ab und kaute auf einem der Bügel. „Geht es Ihnen gut?“
Ich nickte.
„Sicher?“
„Wissen Sie“, sagte ich, „als Kind habe ich gern Tarzan geschaut. Und ich war immer fasziniert von diesen Elefantenfriedhöfen. Dass sich Elefanten an einen bestimmten Ort zurückziehen, um dort zu sterben. Aber das ist nur ein Mythos. Leider."

Die Frau sah mich mit leicht zusammengekniffenen Augen an. „Aber … Aber was hat –“
„Mit den Lachsen ist es anders“, sagte ich. „Das ist bewiesen.“
„Bewiesen? Was ist bewiesen?“
„Lachse schwimmen – unter schwerlichen Bedingungen – zurück zum Ort ihrer Geburt - um dort zu laichen und zu sterben.“
„Aber –“
„Aber nicht alle kommen durch, genau. Und das ist ja das krass-schöne an der Natur: Die, die nicht durchkommen, dienen den Bären als Futter, so dass diese ihren kräftezehrenden Winterschlaf überleben können."
„Ja, okay, aber … aber was –“
„Schauen Sie, wenn mich also auf dem Weg zu meiner Wiege ein Löwe reißt - so what?“
Die Frau setzte ihre Brille auf und betrachtete mich eindringlich. Schließlich sagte sie: „Also nur den Hinflug, ja?“
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 22242

Gast
Hallo Vitelli, hat mir sehr sehr gut gefallen der Text.

Ich finde das „belehnt“ und „Antlitz“ in den ersten 2 Absätzen klingen ein bisschen antiquiert und passen nicht so recht zum Rest, aber vielleicht ist das ja einfach die Sprache des LI. Dann will ich nichts gesagt haben ;-).

viele Grüße,
Tommy
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Vitelli,

das Groteske vermischt mit Melancholie.
Gefällt mir sehr gut.

Liebe Grüße
Manfred
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Tommy, hallo Manfred,

vielen Dank für euren Kommentar und eure Bewertung - ich freue mich, dass euch meine Geschichte gefallen hat.

Ich finde das „belehnt“ und „Antlitz“ in den ersten 2 Absätzen klingen ein bisschen antiquiert und passen nicht so recht zum Rest, aber vielleicht ist das ja einfach die Sprache des LI. Dann will ich nichts gesagt haben ;-).
Man könnte "gleitete" noch ergänzen ;-). Ich kann deine Kritik nachvollziehen, Tommy. Aber ja, ich habe diese antiquierten Begriffe schon bewusst verwendet, um zu zeigen, dass sich der P. in dieser antiquierten Welt/Gesellschaft nicht (mehr) zuhause fühlt und (auch deshalb) "Heimweh" hat. ABER: Nur weil es eine Erklärung gibt, wird es dadurch nicht richtig/gut. Finde (Leselupe-)Autoren immer recht amüsant, die, wenn eine Geschichte nicht gut ankommt / auf Unverständnis stößt, immer die Schuld beim gemeinen Leser suchen, der es scheinbar nicht verstanden hat. Kurz: Danke für die Anregung.

Viele Grüße,
Vitelli
 
Hallo Vitelli,

kurz und knackig, kein Wort zu viel; sauber und flüssig geschrieben.
Hat mir echt gut gefallen.

Wenn der Wunsch, Afrika zu besuchen durch den (imaginären) Koalabären entstanden ist, würde ich das mehr ausbauen, den Grund ggf. nennen.

Textliches
sie sei Anwältin, wurde mir gesagt.
Nach kurzer Vorstellung sagte man mir recht unumwunden,
Ja, das Passive passt hier sehr gut.

Der Hosenanzug freute sich über meine „Einsicht“.
Habe ich schon mal in einem Buch gelesen ("der Anzug sagt ..."). Schön, so etwas wieder zu lesen.

Abwicklungsvertag
da fehlt ein r

Die Frau setzte ihre Brille auf und betrachtete mich eindringlich. Schließlich sagte sie: „Und wie wollen Sie zahlen?“
Ich hätte hier ein anderes Ende gesetzt. Das hier finde ich weder lustig (Gut, soll ja auch keine Pointengeschichte sein) noch recht innovativ.
Vielleicht einfach die komplette letzte Zeile weg lassen.

LG, Frankyln Francis
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Franklyn,

danke für deinen Kommentar und deine Bewertung.

Wenn der Wunsch, Afrika zu besuchen durch den (imaginären) Koalabären entstanden ist, würde ich das mehr ausbauen, den Grund ggf. nennen.
Nein, das steht in keinem direkten Zusammenhang.

Uups. Danke!

Ich hätte hier ein anderes Ende gesetzt. Das hier finde ich weder lustig (Gut, soll ja auch keine Pointengeschichte sein) noch recht innovativ.
Vielleicht einfach die komplette letzte Zeile weg lassen.
Mit dem Ende bin ich auch nicht glücklich. Sollte halt ne Anspielung darauf sein, dass mit Geld immer alles möglich ist. Ganz weglassen? Hm. Möglich. Oder:

" Die Frau setzte ihre Brille auf und betrachtete mich eindringlich. Schließlich sagte sie: „Also nur den Hinflug, ja?"

Gruß,
Jan
 



 
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