Heinz-Rüdiger wartet auf den Zug

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Roger Izzy

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Heinz-Rüdiger wartet auf den Zug

Natascha stand bei mir auf der Matte. Draussen regnete es. Es war kalt. Gefühlte minus 2o Grad in meiner Arschritze.
„Nimm nur das Nötigste mit,“ sagte sie.
„Das Nötigste? Wohin gehen wir?“
„In die Klinik.“
Ich war seit Wochen unterwegs. Von einer Bar zur anderen. Der gottverdammte Gin und Nutten hatten mich an den Eiern. Ich sah scheisse aus. Unrasiert. Mantel und Jeans vollgekotzt.
„Gehen wir?“
„Ja. Die Flasche Gin nehme ich aber mit.“ Wir fuhren los. Ich schlief im Auto.
„Wir sind da. Wach auf!“ Ich öffnete meine Augen.
„Wie sieht‘s denn hier aus? Wo sind wir?“
„Vor der Klinik.“
„Vor den Toren der heiligen Stätte des Wahnsinns,“ antwortete ich. Mir war schlecht. Ich kotzte aus dem Fenster. „Entschuldige.“ Wir stiegen aus. Ich setzte die Flasche Gin an, soff sie leer und zündete mir noch eine Zigarette an.
„Natascha. Sieh mich an. The crushed up man with a crushed up Marlboro‘s in his hand.“
Sie schmunzelte. „Gehen wir rein? Wir sind angemeldet.“
„Schön.“
Natascha stützte mich. Einen gebrochenen Mann in seinem vollgekotzten Mantel und Talar. Sie öffnete die Türe. Wir gingen den Flur entlang. In den Gemäuern war es noch kälter als draussen. Es war dunkel. Es roch nach Schimmel. Ich rezitierte ein lyrisches Gedicht. Ich schrieb es auf Entzug in meinem Refugium, in meiner Bruchbude. Die Lyrik passte irgendwie zur Stimmung und zum Setting:

„Willkommen auf dem Weg der gequälten Seelen, einsam lodernd, Schwadronen dämonischer Nacht erschliessend,
der Glückseligkeit bitterer Tränen.“

„Mein fauler Odem verkündendes Purgatorium,
der Ahnen lobpreisender Verheissung,
in alle Ewigkeit lobpreisendes Misericordia.“


Vor uns war der Empfang. Er erinnerte mich an einen Tresen. Die Empfangsdame war aber keine geile Barschlampe mit dicken Titten. Leider.
„Guten Abend. Wir sind angemeldet.“
„Wie heissen Sie?“ Natascha gab ihren Namen und meine Personalien an.
„Ich informiere die Station.“
„Ja, machen Sie das. Die verfluchte Station der Geistigarmen,“ stotterte ich.
„Sie werden abgeholt.“
„Danke.“
Zwei Männer kamen uns entgegen. Der eine war ziemlich gross, stämmige Statur und Bierbauch. Der andere war schmächtig und trug ein Stethoskop um seinen dünnen Hals.
Dick und Doof, dachte ich.
„Sind Sie der Patient?“
„Ja, woran sieht man das?“ Ich schmunzelte und verabschiedete mich von Natascha. Ich hatte Tränen in den Augen.
„Mach‘s gut. Ich besuche Dich morgen.“
„Bring mir Zigaretten mit.“

Der Pfleger und der Assistenzarzt begleiteten mich auf die Station. Eine Pflegerin nahm mich in Empfang. „Kommen Sie mit.“ Sie durchsuchte im Untersuchungszimmer meine Tasche.
„Ich habe nur Kleider und Hygieneartikel dabei. Was man eben so braucht, für einen längeren Aufenthalt in der Klapse oder im Frühling auf Mallorca...“
Meine Mantel – und Hosentaschen musste ich auch leeren. Ich hatte nur zwei Pariser und Geld dabei.
„Ich messe jetzt noch Ihren Alkoholpegel.“ Ich blies in ein Röhrchen. „4,3 Promille! Sind Sie wahnsinnig? Ich rufe den Arzt. Vielleicht müssen Sie ins Spital auf die Intensivstation.“
Ich musste nicht. Die Pflegerin zeigte mir mein Zimmer. Ein Lazarett mit drei anderen Pennern. Ich rauchte noch eine Zigarette im Aufenthaltszimmer und kotzte übers Sofa. „Entschuldigen Sie bitte.“ „Macht nichts. Gute Nacht,“ schmunzelte die Pflegerin.
„Gute Nacht.“ Sie gefiel mir.

Ich legte mich in meinen Kleidern hin. Draussen regnete es noch immer, und durch das alte Fenster mit Gitterstäben blies und heulte der Wind. Das Klinikareal war hell beleuchtet. Im Zimmer malte das Licht die Silhouetten der anderen verfluchten Patienten an die Wand. Sie schnarchten, furzten, husteten und jammerten im Schlaf.
Die Kakophonie und der Gestank in dieser Gruft waren für mich nicht erhellend, genauso wenig wie das Licht, das von aussen ins Zimmer der Verdammten und Gebrandtmarkten fiel.

Ich setzte mich auf. Es war soweit. Es ging los: Die beschissenen Symptome des Entzugs begannen, knallten voll rein. Ich begann zu zittern, mein Herz raste und mir war schwindlig. Die Krämpfe in den Beinen waren übel. Der ganze Körper zitterte nun heftig. Die Pflegerin mass im Intervall meinen Alkoholpegel. Ich hatte noch 3,7 Promille im Blut und in der Birne. Meine intakte Leber hatte also schon O,6 Promille abgebaut. O,1 Promille in der Stunde. Gut, so! Ich kannte mich mit der somatischen Läuterung aus.
„Wie geht es Ihnen? Ist Ihnen schlecht?“
„Nein. Bringen Sie mir doch bitte eine Flasche Mineralwasser.“
„Da, bitte.“
„Danke. Ich weiss, ich kriege erst ab 1 Promille Valium gegen die Entzugserscheinungen. Also in 27 Stunden.“ Meine Mundwinkel zitterten. „Helfen Sie mir bitte auf. Ich möchte gerne im Aufenthaltszimmer eine Zigarette rauchen.“
„Möchten Sie denn nicht lieber im Bett bleiben?“
„Schlafen kann ich nicht. Es geht nicht. Ich weiss es. Bringen Sie mir ein Redormin. Eine homöopathische Beruhigungstablette und zwei Flaschen Mineralwasser.“
Ich blieb im Aufenthaltsraum, rauchte und gab mich demütig den Entzugserscheinungen und der psychischen Apokalypse hin.
Was sollte ich sonst machen?

Am nächsten Tag nahm mir der Pfleger Blut. Er versuchte es zumindest. Er zeichnete vorher die Stellen mit einem Kugelschreiber auf meinen Armen ein. „Da könnte es gehen, ja, vielleicht hier, nein, eher da, nein, hier, hier, da nicht.“
„Nehmen Sie mir Blut auf dem Handrücken. Ich habe beschissene Rollvenen.“
„Das tut aber weh. Ist sehr unangenehm.“
„Machen Sie schon. Ich muss scheissen. Eine Zigarette und einen Kaffee brauche ich auch.“
Er schaffte es schliesslich nach fünf Versuchen...

Ich ging scheissen. Kotzen musste ich auch. Ich würgte. Mein Sodbrennen, die Magensäure, verätzte meine Speiseröhre.
Verdammter Gin!
Ich schwankte in den Aufenthaltsraum. Da sassen sie nun.
Meine Mitpatienten im Vorhof des Nirwanas:

Cornelia, die promovierte Archäologin, sass vor dem Fenster in einer Ecke und weinte bittere Tränen der Hoffnungslosigkeit.
Sie hatte schwere Depressionen.

Armin hatte einen Gipsverband. Er hatte bei seinen Eltern eine Fensterscheibe eingeschlagen.
Er war ein Arschloch.

Lukas war Student. Er richtete sich gerade im Fernsehzimmer sein Büro ein... Er nahm einen Tisch und einen Stuhl aus dem Aufenthaltsraum. Kugelschreiber und Blätter lagen bereit. Wozu?
Das wusste er nicht.
Er war monopolar. Manisch.

Heinz-Rüdiger stand mit seinem Koffer jeden Morgen beim Ausgang der geschlossenen Station und wartete auf den Zug.
„Der Zug hält hier nicht, oder er fährt an Dir und uns vorbei, wie das normale Leben. Er hat vielleicht mal angehalten und uns einsteigen lassen. Jetzt aber nicht mehr. An diesem Ort gibt‘s keine Haltestelle,“ flüsterte ich ihm zu.
Er hatte das Korsakow-Syndrom.
Sein Hirn war von Alkohol zerfressen.

Hannelore war dick. „Spielen wir Tischtennis?“, fragte sie mich jeden Tag.
„Nö, du lass mal. Ich bin auf Entzug und kann den Schläger so oder so nicht halten mit meinem Gezittere, genau wie meinen Schwanz beim Pissen.“
Mir schien, im Gegensatz zu uns anderen Patienten hatte sie nichts.
Sie war dick und einfach nur hier.

Markus war drogenabhängig und sah scheisse aus. Eines Tages gab ihm Lukas, der Manische, seine Kreditkarte. „Du hast ja Ausgang. Hol mir beim Postautomaten hundert Franken. Hier ist mein Pin.“
„Gut, mach ich.“
Markus kam nicht wieder…

Tim war ein verwöhntes Bürschchen. Er war voll drauf. Monopolar. Manisch, sehr unangenehm in Vollendung. Seine Mutter kam jeden Tag zu Besuch. Er schiss sie immer wieder zusammen. „Du hast mir die falsche Schokolade mitgebracht! Das ist der falsche Kaffee!“
Seine Mutter besuchte ihn dann nicht mehr…

Claudio war jung und schwul. Er erzählte mir jeden Tag von seinem Freund und Stecher. Er war mit mir und drei anderen Patienten im Zimmer. „Heute Nachmittag brauche ich das Zimmer. Mein Freund kommt vorbei.“
„Schön.“
Am Nachmittag erwischte ich die beiden Schwestern in flagranti beim Fellatio, Abkauen, Blasen, Lutschen und Würgen…

Nach endlosen 27 Stunden des Entzugs mit Dünnschiss, Kotzen im Zimmer und im Aufenthaltsraum und Dauergezittere hatte ich nur noch 1 Promille Restalkohol in der Birne, im Blut und in meinem blutleeren Sack.
Der Oberarzt verordnete mir ein Antipsychotikum, Antidepressivum und Benzodiazepin. Deren hochdosierte Wirkstoffe Amilsuprid, Mirtazapin und Oxazepam knallten mir ganz schön rein.
Ich war total sediert, schlurfte den Flur hin und her, zählte meine Schritte, grüsste Heinz-Rüdiger vor der Türe auf den Zug wartend, rauchte Zigaretten, trank Kaffee, schaute bei Lukas im Fernsehzimmer in seinem Büro vorbei, setzte mich hin und wieder für einen Schiss auf den Lokus, schlief sehr viel, wenn Claudio und sein Freund nicht gerade beim Ficken waren.

Es war Sonntag. Halb vier Uhr morgens. Ich ging nur in Unterhose und Pullover scheissen. Im Aufenthaltszimmer rauchte ich danach eine Zigarette. Ich war allein. Endlich!
Die Pfleger waren im Stationszimmer und lachten.
Die Patienten waren in ihren Zimmern und lachten nicht.
Ich war im Aufenthaltszimmer und lachte auch nicht.

Ich war nun seit vier Tagen in der Nervenheilanstalt. Ich sortierte meine beschissenen Gedanken:
Wie war es zur Einlieferung in die Klapse gekommen? Wo war ich vorher gewesen?
Ich versuchte, mich an die Chronologie der Ereignisse zu erinnern:

Ich war wieder unterwegs gewesen, von Exzessen mit Weiberärschen und Gin gepeinigt.
Ich bezahlte den Taxifahrer und zog mich mit Mühe aus seiner Karre. Mir war schlecht. Ich wusste nicht mehr genau, wie lange ich besoffen unterwegs gewesen war. Ich stützte mich am Auto ab und kotzte auf den Gehweg. Der Taxifahrer stieg aus. Ich beruhigte ihn: „Ich habe dir nicht auf die Kühlerhaube gekotzt. Ich habe nur ein paar Spritzer an Schuhen und der Hose.“ Er schaute trotzdem nach und stieg wieder ein.
Ich schwankte nach Hause, es waren nur wenige Meter, aber die hatten es in sich. Eine alte Frau mit ihrem Köter kam mir entgegen, sie wich mir aus, der Hund aber nicht, er leckte an meinen Schuhen, sie zog ihn weg. Ich schaute ihm zu, wie er an meinem Gin-getränkten Gekotze weiterleckte. Braver Hund.
Ich stand nun vor dem Hauseingang und kramte meinen Schlüssel hervor, als plötzlich die Türe aufging und eine Nachbarin heraustrat. Ich fand sie ziemlich heiß. Sie war Italienerin und ging so gegen die Fünfzig zu. Sie trug ein Sommerkleidchen mit hohen Stiefeln, grosse Titten hatte sie auch. Sie sah mich an, schmunzelte und ging hinaus. Ich zog mich am Geländer hoch, schaffte es bis zur Türe, öffnete und fiel kaputt, wie ich war, durch die Türe auf den Teppichboden. Ich war zuhause.
Gott, sei, Dank!
Ich versuchte aufzustehen, es gelang mir, ich stützte mich an den Wänden ab, ging ins Badezimmer und setzte mich für einen Schiss hin. Gekotzt hatte ich ja schon vorher. Ich wusch mir den Arsch ab, stand auf und schaute mich im Spiegel an. Ich war nicht verletzt, hatte keine Wunden, Schürfungen und Kratzspuren im Gesicht. Das war schon mal gut!
Ich sah nur scheisse aus.
Ich ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Ich hatte kein Bier mehr. Der Gin und der Wein waren auch alle. Was nun? Ich wusste nicht, wie spät es war. Ich erinnerte mich noch an die Nachbarin, die das Haus verlassen hatte. So spät oder so früh konnte es nicht gewesen sein. Ich musste was zum Saufen haben, Zigaretten hatte ich auch keine mehr. Ich öffnete die Türe und klingelte beim Nachbarn. „Guten Abend Herr Meier. Ich habe Besuch... Mir ist der Wein ausgegangen. Hätten Sie wohl eine Flasche Wein für mich? Ich trinke ja nicht, wie Sie wissen, aber meine Gäste.“
Herr Meier schaute mich überrascht an. „Ja, sicher. Weiss– oder Rotwein?“
„Beides, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Seine Frau schaute mich entsetzt an, nur ihr vierjähriger Hosenscheisser grinste. Herr Meier gab mir den Wein.
„Vielen Dank! Da haben Sie zehn Franken für die Mannschaftskasse.“
Ich stellte die Flaschen in die Küche und ging zu meinen anderen Nachbarn. „Hallöchen. Darf ich Euch eine Packung Zigaretten abkaufen?“
„Natürlich.“
„Danke Euch. Schönen Abend.“
Zuhause pellte ich genüsslich das Zellophan einer jungfräulichen Flasche Wein, öffnete sie, zündete mir eine Zigarette an und liess mich nochmals für einen Bierschiss nieder.
Es war mittlerweile drei Uhr morgens. Ich war wach, wie die meisten Nachbaren auch, dachte ich. Im Hintergrund lief laute Musik, „The hardest Walk“, ein Lied der Band „The Jesus and Mary Chain“ aus Glasgow. Der Tag konnte beginnen. Meine Flashbacks auch:

Ich hatte mit einem Freund abgemacht. Ich bat ihn, mir doch zwei oder drei Joints zur Selbstmedikation mitzubringen. Marihuana ist ja nicht nur bei einem Glaukom hilfreich, sondern erst recht bei seelischem Ungleichgewicht. Wir tranken in einer Kneipe zwei, drei Bierchen. Beim Verabschieden gab mir mein Kumpel mit besten Genesungswünschen zwei Joints, einen anderen zündete er an. Wir standen in einem Hinterhof und pafften genüsslich daran. Ich weiss noch, dass ich für die paar hundert Meter zum Bahnhof ziemlich lange brauchte. Der Wirkstoff THC knallte mir voll rein, fast zur Besinnungslosigkeit. Ich war stoned, meine Beine wurden schwer. Wo war ich? Ich schaffte es noch bis zu einer Parkbank, setzte mich hin und versuchte mich zu orientieren, aber es gelang mir nicht.
Bahnreisende zogen an mir vorbei wie Schatten, ausdruckslos und leer.

Ich sah einen Taxistand, stand auf, stützte mich beim Brunnen ab und fiel fast hinein. Der Taxichauffeur öffnete die Türe. „Wohin geht‘s?“
„Nchdihse.“ Die Droge schlug mir aufs Sprachzentrum. Ich kannte die beschissene Nebenwirkung des Alkohols. Ich stotterte, murmelte irgendetwas vor mich hin, wie bei einer Aphasie oder beim Konfabulieren: Man spricht, es sind aber nur aneinandergereihte Buchstaben, mehr nicht. Keine Sau versteht einen.
Ich nahm meine Monatskarte hervor und zeigte auf die Adresse. Er fuhr los und brachte mich nach Hause, stützte mich sogar die Treppe hinauf. Ich zahlte und gab ihm noch fünf Franken Trinkgeld.

Irgendwann kam Natascha...

Das waren meine beschissenen Erinnerungen.

Im Aufenthaltszimmer wurde es hell. Die Sonne schien mir ins Gesicht.
Der Alarm ging los.
Ein neuer Tag.
Eine neue Chance für uns Bekloppten und Gestrandeten.
 
Gefällt mir auch gut, dieser hingerotzte Text im Stil Bukowskis. Du hast das Tempo bis zum Schluss ganz gut durchgehalten und Gott sei Dank auf ein Happyend verzichtet. Dennoch: nimm den Bierschiss raus, damit lehnst du dich zu weit an die Schultern Chinaskis.
Beste Grüße
 

Vagant

Mitglied
Hallo Roger,

eigentlich möchte man hier ja nach dem ersten Absatz schon rufen: "Bitte, tu's nicht, versuch hier nur nicht, wie der alte Säufer und Hurensohn vom nördlichen Ende der Couch zu klingen!" Einen Satz später ahnt man, dass es für derart Zwischenrufe wohl schon zu spät ist, um sich dann spätestens im nächsten Absatz sagen zu müssen, dass hier doch irgendwie der Sound recht stimmig sei und man da als alter Chinaskyast schon irgendwie durchkommen wird. Am Ende muss ich sagen, dass mir der Sound der Geschichte - der sich ja eher auf altbewährte Manierismen stütz - am Text noch am besten gefallen hat; denn ich habe bei all der Kulissenschieberei - also dem Abholen zur Klinik, der Ankunft, dem Entgiften, der Beschreibung der Kollegen und den Erinnerungen - immer auf die eigentliche Geschichte gewartet.

Das von dir beschriebene Setting fand ich da schon in jeder Faser stimmig und es verspach ja auch in seiner jeweiligen Anlage ausreichend Potential für's eigentliche Storytelling, nur leider hast du dich hier ausschließlich für die Totale entschieden.
Ich kann - oder muss!? - mir nun erstmal sagen, dass der heir vorgestellte Text vielleicht nur ein kleiner Teil einer längeren Arbeit ist, und dass dieser Ton, den man beim Lesen ja erstmal glasklar beim epigonales Diebesgut einsortiert, vielleicht sogar dein ureigener Ton ist und du ums verrecken nicht anders schreiben kannst, und von dieser Warte aus gesehen, will ich dir sagen: "Falls du mal eine gute Story aus den hier vorgestellten Milieu veröffentlichen solltest, mich hättest du als Leser."

Vagant.
 

Ji Rina

Mitglied
Für mich ist es eine Kunst, wenn man in diesem Stil schreiben kann. Und das noch bis zum letzten Satz durchzuhalten! Aber mich hat die Geschichte doch zu sehr an Bukowski erinnert. Und wie es dann so ist,: bei jedem Satz zog ich vergleiche. Bukowski hatte eine wahnsinnige Menschenkenntnis; er war ein Alkoholiker bis in die Knochen; er hat (sorry) tatsächlich Scheisse gefressen. Und das liest und fühlt man in jedem seiner Sätze. Er schrieb mit Herzblut; kotzte seine Seele aus, ein Mischmasch aus erlbtem und Erfahrungen. Das hat mir hier gefehlt. Die Figuren haben nichts bleinbendes in mir hinterlassen; auch der Erzähler nicht. Und dafür war der Text sehr lang.
Aber eins muss man anerkennen: So zu schreiben ist schon die halbe Miete.
Da ziehe ich den Hut!
Mit Gruss, Ji
 

whitepaper

Mitglied
Mir hat auch einiges wirklich Freude bereitet an Deinem Text.
Eine mitunter gelungene Millieustudie von 'Sucht' und 'Klapse'.
Das Tempo passt, die einzelnen Figuren werden knapp und gekonnt beleuchtet.

Du beweist viel Insiderwissen.
Ob selbsterfahren oder beruflich oder (wie vielleicht öfter als eine Allgemeinheit wahrzunehmen beliebt: ) beidem, natürlich dahingestellt und über Outings muss jeder selbst regieren.

Da genau das Beschriebene mein Berufsfeld ausmacht, noch ein paar kleinere Anmerkungen, die Leser mit ebenfalls Insiderwissen stutzen lassen könnten; wenn auch nur leicht und nicht als wirklich grosse Kunstfehler auf einem der beiden Gebiete anzusehen - dem der Psychiatrie oder dem der Schreibe:

* „4,3 Promille! Sind Sie wahnsinnig? Ich rufe den Arzt. Vielleicht müssen Sie ins Spital auf die Intensivstation.“ ... an diesem Ort wirkt das Übermass an Erschrecken / Dramaturgie der Schwester nicht ganz passend. Ich habe mich etliche Male bei Aufnahmen mit Menschen unterhalten, die 4,0 plus X intus hatten und dabei wirkten wie ander nach ein, zwei Gläschen. Trainierte Leber eben, die Du ja auch sehr plastisch beschreibst. Intensivstation wäre nur bei eindeutig Untrainierten und einer konträr zu Deinem Protagonisten wirkenden Begleitsymptomatik indiziert. Es müsste schon eine sehr abgelegene Wald- und Wiesen-Aufnahme mit kleinstem, ländlichen Einzugsgebiet sein oder ein tatsächlich sehr eigen-affektgesteuertes Schwesterherz, um so leicht erregbar zu sein.

* "Ich setzte mich auf. Es war soweit. Es ging los: Die beschissenen Symptome des Entzugs begannen, knallten voll rein. Ich begann zu zittern, mein Herz raste und mir war schwindlig. Die Krämpfe in den Beinen waren übel. Der ganze Körper zitterte nun heftig. Die Pflegerin mass im Intervall meinen Alkoholpegel. Ich hatte noch 3,7 Promille im Blut und in der Birne." ... für den beschriebenen Entzugsschock sind 3,7 noch deutlich zu früh. Das passt nicht so wirklich.

* "Monopolar manisch" - ist sehr selten. Da passt es nicht ganz, dass zwei davon auf einer allgemeinen Akut-Station herumlaufen, hingegen kein einziger Bipolarer.

* Bei der Beschreibung des ersten Manischen stört mich etwas:
"Kugelschreiber und Blätter lagen bereit. Wozu?
Das wusste er nicht.
Er war monopolar. Manisch. "
Der Maniker hätte Dir eher unendlich viele Gründe nennen wollen, wozu er das jetzt alles nutzt und nutzen wird, als keinen einzigen.

* "Der Oberarzt verordnete mir ein Antipsychotikum, Antidepressivum und Benzodiazepin. Deren hochdosierte Wirkstoffe Amilsuprid, Mirtazapin und Oxazepam knallten mir ganz schön rein."

- Amilsuprid wäre bei weder vordiagnostizierter noch aktuell klar ablesbarer psychotischer Symptomatik (beides scheint nicht zutreffend ... das erste Mal in der Klinik, die Beschreibungen in der Ich-Warte nur zum reinen Polytoxikomanen passend - der eben momentan auch nicht delirant / konfabulierend / sonstig substanzgebunden psychotischer Anteile auftritt) eine eher sehr kuriose Wahl. Was nicht heißen soll, dass es sich nicht so zutragen kann. Gerade in diesem, unserem Metier sind auch kuriose Verschreibungs/-ordnungs-Erscheinungen wesentlich häufiger als man einer Allgemeinheit zumuten möchte.

- Mirtazapin & Oxazepam passen. Was nicht passt, ist, die betonende Feststellung, dass Oxazepam so reinknallt. Realer wäre bei diesem polytoxikomanen Charakter auch, dass er die Präparate nennt, nicht die Grundwirkstoffe. V.a. realer wäre: dass er z.B. Oxazepam in seiner eindeutigen Karriere schon vielfach genommen hat, eher auch schon einen Reservebunker dessen und ähnlicher Substanzen bei sich zu Hause angelegt hat; zumindest nicht, dass er sich im Akutstadium so sehr über dessen Wirkung / Reinknallen wundert. ... Es wäre eher lange liebgewonnener Bestandteil seiner eigenen Hausapotheke / geläufige "Selbstmedikation" wie im Text ja auch schon bei anderem so tituliert.


... wie oben angedeutet: Es sind Kleinigkeiten, die nur relevanter werden, wenn ebenfalls 'Insider' zu den Lesenden gehören.

Insgesamt macht der Text tatsächlich viel Lust auf mehr! Und ich kann mich oben schon in Kommentaren auffindbarem Tonus nur anschließen: Dass er dazu einladen kann, eine vielleicht wesentlich längere Geschichte daraus zu ersinnen.
 
Zuletzt bearbeitet:

Roger Izzy

Mitglied
Guten Morgen Whitepaper

Vielen Dank für Deine ausführliche und inspirierende Rezension. Ich nehme sie gerne entgegen.
'Heinz‐Rüdiger wartet auf den Zug' ist eine autobiografische Geschichte.
Meine Qualifikationen:
Ich bin Alkoholiker und Epileptiker mit bipolaren Störungen. Da kommt ja einiges zusammen...
Mein Leben ist ein wilder Ritt durch Nervenheilanstalten, Notaufnahmen und abgefuckte Bars.
Die Story 'Heinz‐Rüdiger...' stammt aus meinem E‐Book:
Titten, Tränen, Gin&Tonic ‐ Das manische Antlitz hinter dem Horizont der Psychiatrie

Ich hoffe, Dir geht's gut. Bleib gesund. Ich saufe mir den Corona mit Wachholderschnaps vom Hals... Nicht nachmachen...
Liebe Grüsse aus Zürich
Roger
 

whitepaper

Mitglied
Hoi Roger

Na, dann noch einmal Gratulation:
zu so viel outender Offenheit, zu dem dann noch einmal mehr stimmigen Bild, das Du in der Story zustandebringst!

Dass DU der Bipolare bist, der auch das statistische Vorkommen zum monopolar manischen Zustandsbild etwas realer anreichert, hat mir auf diesen oben lesbaren Teil Deines Gesamtwerks reduziert als Hintergrundsinfo gefehlt.
Und das relativiert auch praktisch alles von meinen angebrachten Kleinigkeiten.

Die Geschichte und die Details passen sehr zu Deinen ergänzten Grundlabeln im psychiatrisch Manifestierbaren.
Nur auf diese Geschichte bezogen, hatte ich den Eindruck gewonnen, es ginge eher um einen einschlägig polytoxikoman (Vorzug Alkohol) veranlagten Menschen, auch eher um einen ersten/ einen der ersten Klinikaufenthalte.
Die Kombination (vordiagnostiziert bzw. vorhergehend aufällig: )bipolar und hochgradig Alkohol (mit eher wenig Nebensubstanzen) erklärt das.
Dann macht auch Amilsuprid definitiv Sinn.
Dann ist "Selbstmedikation" auch eher in jeder Intoxikation / suchtverbundener Substanzeinnahme zu verstehen im Entgegenwirken der immer wieder drohend gänzlichen Entgleisung bei manischen Hochs, im Aufhalten des beginnenden synaptischen Dauertangos, des Neurotransmitter-Feuerwerks, das keine Bodenhaftung mehr zulässt. ... Und nicht vorwiegend als Substitutionswerk, wenn der Hauptstoff Alkohol ausgeht oder das Pendeln zwischen Vollrausch und Entzugselend anderweitig mitreguliert werden will, wie ich vermutete.
Dem Bipolaren in Selbstmedikation mit Suchtmitteln ist dann auch viel weniger wahrscheinlich das Oxazepam-/+ andere Mittel in der Hausapotheke zuzuordnen als dem Polytoxikomanen.
Auch die erschreckte Schwester. Lass sie so stehen. Wer 'Hardcore'-Psychiatrie und v.a. Suchtaufnahme beruflich gewöhnt ist, stolpert vielleicht leicht darüber. Auf einer allgemeinen Akut (auf der auch einschlägigste Suchtprofile eher als Neben-/Doppeldiagnose gehandhabt werden, man die Hochintoxikationen weniger gewohnt ist oder auch gar erst ab gewisser Pegel zu Aufnahmen bereit ist, eben auch: dass Du als Schwerpunkt Bipolarer dort zur Aufnahme gekommen bist), bilden das schon sehr hohe Toleranzwerte, die gar Personal erschrecken können - oder auch zum automatisch abgespulten erhobenen Zeigefinger veranlassen, der auch immer wieder zum Beruf gehört. Und für jede untrainierte Leber bleiben es intensivmedizinische bis klar todesnahe Werte.

Ja, ... unter dem Verweis "Du Bipolar" (neben hochgradig Sucht, Alkohol, klar) : passt wirklich alles an der Story, auch für 'Insider'!

[Allein der monopolare Maniker bleibt mir zu wortkarg, erfindungslos bei der Nachfrage nach seinen Gebrauchsmaterialien ... ist aber sehr nebensächlich. Es kann auch sein Erscheinungsbild rahmen, dass er vielleicht vielseitig und gewichtig damit herumhantiert, aber eben nichts nach außen ablesbar sinnergebendes damit zustandebringt, es nicht aufgehen will, wozu er das nun wirklich betreibt.]

Ich bin froh, dass Du im Outing gar selbst über Deine "Qualifikationen" schreibst. Denn es sind definitive und gehörige! Aus und über Psychiatrie schreiben sollten nur Menschen mit einschlägiger Selbsterfahrung, diejendigen, die sich (zumindest auch: ) selbst als "Fall" und die Seite des Behandelt-Werdens kennen. Aus der und über die Sucht kein bisschen minder.

Neben der elementaren und chronifizierten Selbsterfahrung bringst Du dazu noch eine gehörige Qualifikation als Schreibender mit.
Das ist bei Deiner Geschichte tatsächlich noch um einiges seltener als bei Menschen, deren Hirnstoffwechsel nicht jahrelange und hochgradige Sucht sowie ebensolches Ausmaß einer schweren psychiatrischen Erkrankung mit all ihren nie vermeidbaren Spuren hinnehmen musste.
Ich hoffe sehr, Du verschaffst und erhältst Dir zunehmende Systeme der Stabilisierung!

Meinen erhobenen Zeigefinger, dass der Grad zwischen einem Talent in (trotz allem erhaltenen) Kognitionen und einem 'Hans-Rüdiger' oft nur fliessend, schmal und in wenigen Jahren zu zeichnen ist, brauchst Du nicht. Dennoch ist er natürlich somit raus.
Es ist die oft zwiespältige Frage im künstlerisch schaffenden Bereich (ob Schreiben, Musik, Theater, Malen ... etc.), wenn viele berichten wollen, dass Ausnahmetalente auch und mit und durch ihre Suchtmittel/-karrieren erst als zu dem werdend erscheinen, was sie sind, der sehr klar und vermeintlich kalt jene Perspektive drehend die Gegenfrage zu stellen erlaubt sein muß: Wie sicher willst Du Dir sein, was gerade diese Ausnahmetalente nicht erst alles ohne den Stoff, den Fusel, den wiederholten oder oft gar letztendlichen Niedergang auf die Beine gestellt hätten - auf das Papier, auf die Bühne, in die Orchester ...?!
Was Du an Erfahrung brauchst, über die Du vielfältig schreiben kannst: hast Du bereits.
Was Du an Fähigkeiten/ Kognitionen dafür brauchst: hast Gottlob Du noch.
Daher wünsche ich Dir doch sehr, dass zumindest die Exorbitanz Deiner Giftzufuhr sich mindern lässt, Dir die fiesen Auswüchse einer Bipolarität zu lindern gelingt, Du vor allem noch sehr viel Gutes schreiben wirst.

Herzlichen Gruß von einem dahingehend ebenfalls erfahrenen (um im Storybild zu bleiben, sowohl als 'Dick und Doof' als auch einschlägig von anderen Seiten) ... und von der Ostschweiz nach Zürich.

whitepaper
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Izzy,

ich gieße mal Wasser in den Wein. Dein Outing, Hintergrundinfos und "Qualifikationen" schmälern in meinen Augen den Text. Denn wenn er fiktiv wäre, wäre er wirklich gelungen. Dann hättest Du Dich perfekt in eine Person hineinversetzt und der Leser weiß tatsächlich nicht - fiktiv oder real? Was aber nicht wichtig ist. Viel wichtiger ist doch die Wirkung.

Du hast Autobiographisches verpackt und dem Prot einfach einen anderen Namen gegeben.

Das heißt jetzt nicht, dass der Text schlecht ist. Aber Hintergrundinfos preiszugeben schadet m.E. nach immer. Erstens wirkt der Text nun auf mich komplett anders und zweitens machst Du Dich als Autor und Mensch angreifbar.

Stell Dir vor, ich schreibe einen Text über einen Trip mit Fentanyl oder noch schlimmer Carfentanyl. Was dann? Schreibst Du mir, woher ich diese Substanzen kenne?

Nein, wenn der Text gut ist, nimmt er Dich mit und Du vergisst diese Frage. :)

Niemals Quellen oder Inspirationen nennen. So bleibst Du autark und auch geheimnisvoller.

Ich hoffe, Du hast mich richtig verstanden.

Viele Grüße

DS
 

Roger Izzy

Mitglied
Hallo Doc

Nun sitz ich hier, und kann nicht anderes... schreiben...
Die autobiografische Note mit Links zu meiner Person darf sein...
Ich kann wirklich nicht anders.
Dabei geht's mir nicht darum, ob es literarisch geschickt ist oder nicht.
Ich versuche authentisch zu sein, auch im Umgang mit mir selbst, ich mit anderen, andere mit mir, wohin ich mich auch mitnehme, in einer Bar oder bei einer Nutte mir immer die Frage stelle, ob ich mich überhaupt mitgenommen oder auf meinem von Brandlöchern gefickten Sofa vergessen habe...

Lieber Doc

Keep writing!

Santé
Je vais répondre toutes tes questions

Roger
 



 
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