Heiss und Kalt

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Silea

Mitglied
Heiß und Kalt

Bip, bip, bip! Igitt! Der Wecker! Sechs Uhr morgens war nicht gerade ihre Zeit. Dennoch erhob Elsa sich mit bleiernen Gliedern, um die Kinder zu wecken. Sie schaltete das Licht ein. Die Rollläden konnte sie auch später noch aufmachen. Geblendet schlich sie zur Kinderzimmertür, machte leise auf, knipste das Licht an und murmelte irgend etwas ähnliches wie „guten Morgen“. Dabei stolperte sie fast über Teddy, ihren Kater, der sich an ihr Schienbein drückte und sein Futter verlangte. Sie machte einen Schritt zur Seite und trat fast Bobby, dem anderen Kater, auf den Schwanz als er an ihr vorbei ins Kinderzimmer schlüpfen wollte. Vielleicht war die Wohnung doch etwas klein für zwei Katzen.
Bobby sprang auf Lauras Bett. Laura, 13 Jahre alt, maulte müde, dass er sie in Ruhe lassen solle und dass sie überhaupt keine Lust auf Schule hätte.
Lene, siebzehn, war sofort hellwach. Sie sprang aus dem Bett und verschwand im Badezimmer, wo man wenig später Wasser rauschen hörte.
Elsa schlurfte über die verrutschten Webteppiche in die Küche. Schnell den Kindern Frühstück machen und Kaffee kochen. Dabei trat sie auf Teddys Hartgummi-Spielball, genau mit der Fußmitte. Autsch, verflucht! Jeden Morgen das gleiche Chaos. Gläser und Tassen vom Vorabend. Leere Limoflaschen. Zuerst einmal musste sie das verstreute Trockenfutter zusammenfegen. Teddy, der sich plötzlich brennend für die verstreuten Teilchen interessierte, kam und stieß mit dem Kopf gegen das Kehrblech. Es fiel aus Elsas Hand. „Teddy! Lass das doch!“, flehte sie. „So werde ich ja nie fertig.“ Sie schüttete das Futter in den Mülleimer – der war schon wieder voll – und füllte den Napf mit frischem Futter. Pute mit Soße. Während sie die Hände wusch, nahm Teddy einige Häppchen und ließ sie erst mal vor der Schüssel auf den Fußboden fallen. Sie würden sehr schnell antrocknen und an den Fliesen kleben wie Zweikomponentenkleber. Bobby turnte lieber in der Spüle herum, wo ein eingeweichter Topf mit Angebranntem vom Abend zuvor stand. Er tauchte eine Pfote hinein, schüttelte sie kräftig und verteilte die leicht hellbraune Brühe über die weißen Kacheln und den Fußboden. Na, toll! Während er sich mit einem ihrer Topflappen davonmachte, nahm Elsa zwei Scheiben Vollkornbrot, bestrich Lenes mit vegetarischem Gemüseaufstrich und belegte Lauras mit Salami. Sie schnitt die Brote durch und packte sie ein. Dann nahm sie den kalten Tee, den sie am Vorabend gekocht hatte, und füllte ihn in die Aluminiumtrinkflaschen ihrer Töchter. Sie trug alles ins Wohnzimmer. Unterdessen war Lene im Badezimmer fertig und kam ins Wohnzimmer um ihre Tasche zu packen. Laura schlief noch immer. Elsa, jetzt bereits mit mehr Energie versehen, stürmte ins Kinderzimmer und stieß einen Brüller aus: „Jetzt aber raus, Madam! Nochmal sag ich es nicht!“ Laura fuhr zusammen und schwang die Beine aus dem Bett. „Ist ja gut! Schrei doch nicht so.“
Im Wohnzimmer schepperte es. Die Kater waren über den Tisch gefegt und hatten die Aluminiumflaschen umgestoßen. Lene rief: „Mama, wo sind meine Anti-Rutsch-Socken? Ich brauche die heute fürs Bodenturnen.“
„Heb mal bitte die Flaschen auf! Ich geh sie dir holen!“, rief Elsa mit mittlerem Stresspegel aus der Diele. Sie eilte ins Schlafzimmer, wo nicht zusammengelegte Wäscheberge von der Kommode und dem Schreibtisch ihr anklagend entgegen starrten. Bettwäsche, Handtücher, T-Shirts, Unterwäsche, Jeans. Wie sollte sie schnell diese Socken herausfinden? Sie wühlte alles durch, wobei die Hälfte herunter fiel. Bobby fläzte sich derweil auf ihr Kopfkissen und begann seinen Topflappen zu benagen. Endlich, die Socken. Beide. Wie eine Trophäe trug Elsa sie zu ihrer Tochter, die sie in die Sporttasche steckte.
Laura war immer noch im Bad. „Beeil dich mal, bitte.“, sagte Elsa durch die Tür. „Ich werde sonst nicht fertig,“ Kein Kommentar von der anderen Seite der Badezimmertür. Elsas Blick fiel auf die Uhr. Verdammt, noch eine halbe Stunde. Das könnte reichen, wenn Laura jetzt endlich mal aus dem Bad käme. Sie entschloss sich, erst mal das Katzenklo sauber zu machen. Kaum war sie damit fertig, stieg Teddy bereits wieder hinein. War ja klar, dachte Elsa genervt. Die Badezimmertür öffnete sich und Elsa hastete an ihrer noch immer müde wirkenden jüngsten Tochter vorbei, warf im laufen ihr Nachthemd fort und sprang unter die Dusche. Sie stülpte sich rasch die Duschhaube über, duschte, trocknete sich in Rekordzeit ab und schmierte sich irgendeine Creme, die sie gerade fand, ins Gesicht. Zähne putzen, schnell! An Bad aufräumen war jetzt nicht mehr zu denken. An Frühstücken auch nicht. Die Kinder hatten sich irgendwas aus dem Kühlschrank gefischt, einen Joghurt oder so, wenn überhaupt noch einer da gewesen war, und sie selber hatte keine Zeit mehr. Die Kinder waren bereits fort. Die Kater miauten und wollten spielen. Der Stresspegel stieg. Noch fünf Minuten! Was sollte sie nur anziehen? Die Jeans, die Turnschuhe, irgend ein T-Shirt. Sie fand gottlob noch eines, auf dem kein Halloween-Kürbis war oder etwas draufstand wie: „Mit jedem Tag meines Lebens….“. Sie wissen schon.
Sie war schon fast an der Tür, als ihr einfiel, dass sie ihr Haar noch nicht gekämmt hatte. Zurück ins Bad. Der Countdown lief. Haare kämmen. Zusammenbinden! Da war nur diese Flower-Power-Spange. Lassen wir sie halt offen, dachte Elsa hektisch. Schlüssel einstecken, Geldbeutel. Jacke anziehen. Elsa eilte die Treppe hinunter und die Straße entlang. Sie rannte die letzten Meter zur Bushaltestelle. Gerade noch erwischte sie den Bus. Das war knapp. Sie hielt sich krampfhaft an der Haltestange, um nicht umzufallen, wenn der Bus in die Kurven ging. Natürlich hatte sie vergessen die Rollläden hochzuziehen, und der Müll stand auch noch in der Küche. Er würde stinken, wenn die Kinder nach Hause kamen. Mit dem verdammten Haushalt wurde sie einfach nie richtig fertig. Sie warf einen Blick auf die Kirchturmuhr. Sieben vor Acht! Da war endlich die Schillerstraße. Raus aus dem Bus, die Straße entlang, Das Büro lag glücklicherweise ebenerdig. Rein, Jacke aus, schnell an den Schreibtisch.
So! Sie saß auf ihrem Platz. Es war zwei Minuten vor acht Uhr. Elsa atmete tief durch. „Guten Morgen, Monika.“, sagte sie. Blitzschnell strich sie sich eine verirrte Haarsträhne zureckt.
„Guten Morgen.“, sagte Monika ihrerseits. „Und? Alles klar?“
Elsa nickte. Sie zog einen Stapel Akten heran, nahm die Oberste und schlug sie auf. Überirdische Ruhe befiel sie. Bilanzen. Steuererklärungen. Buchhaltung. Nur schwarz und weiß, rechts und links. Nur richtig oder falsch. Das Leben konnte so angenehm sein. Man wusste immer genau was kommt. Und wann. Um neun Uhr war die Besprechung mit der Firma Lemke wegen der Jahresabschlussdaten, und um elf Uhr würde Joe anrufen und fragen, wie sie und die Kinder den Morgen verbracht hatten. Gut, würde sie sagen. Wie immer. Und du, Liebling?
Im Büro war es still, der Luftbefeuchter summte leise. Ein kühler Luftzug wehte durch das halb geöffnete Fenster herein. Das Telefon läutete. Elsa nahm den Hörer ab. Mit ruhiger, sachlicher Stimme sagte sie: „Kanzlei Lehmann, sie sprechen mit Frau Baier.“
 

Rainer

Mitglied
hallo silea,

ich muß deinen text erst noch richtig auf mich wirken lassen, aber ich will dir mal schreiben, was ich so beim lesen empfunden habe:

zuerst die allmorgendliche, chaotische hektik eines zwei-kinder-haushaltes; ohne klischee (na gut, die katzengeschichte kann ich nicht so nachvollziehen, da ich schon lange ohne katzen lebe, und welchen zweck die genaue angabe des futters hat ist mir auch (noch) unklar), ohne übertreibung, ohne selbstbeweihräucherung.
sehr gut geschildert.

dann die ruhe des "geregelten", unchaotischen arbeitens (darauf bezieht sich der titel?), vielleicht etwas viel, aber noch erträglich.
die geschichte mit dem göttergatten, der sich früh scheinbar nicht um die kinder kümmern kann, aber wenigstens nachfragt.
auch sehr gut und überraschend.

aber dann der schluß: den verstehe ich überhaupt nicht. welchen zweck hat der letzte satz? daß deine prot bei einem anwalt arbeitet, eventuell selbst anwalt ist? das kommt nicht gut rüber.
bilanzen, steuergeschichten, buchungen etc. in einer kanzlei lehmann, bearbeitet von frau baier. ???

bis auf das von mir bemängelte (oder nicht verstandene ende) finde ich deinen text sehr lesenswert - weiter so.

grüße

rainer
 

Flame

Mitglied
Hallo Silea,

deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen und ich mußte zwischendurch schmunzeln. Diese Hektik nach dem Aufstehen kommt mir ein wenig bekannt vor ;-)

Den Schluß finde ich übrigens gelungen.
Ich habe deine Geschichte so verstanden - nicht böse sein, wenn es von deiner Intention abweicht.

Eine Frau, die zu Hause vom Chaos beherrscht wird und sich in der Rolle der Hausfrau und Mutter ( zum Schluß wahrscheinlich erst Ehefrau und Geliebte, wenn überhaupt) gar nicht wohlfühlt, fast überfordert ist. Sie macht gute Miene zum schlechten Spiel: Haushalt und Familienalltag. Sie scheint mir im Privatleben fast frustriert, was verstärkt wurde durch deinen Satz: <<. . . Gut, würde sie sagen. Wie immer. Und du, Liebling?>> So nach dem Motto, warum fragst du mich eigentlich, es interessiert dich ja nicht wirklich bzw. die Wahrheit, wie ich mich fühle, willst du ja doch nicht hören. Privat nimmt sie sich und ihre eigenen Bedürfnisse zurück und "funktioniert" - für ihre Familie.

Dann aber im Büro, nachdem sie den morgendlichen Stress zu Hause durch Richten ihrer verirrten Haarsträhne beiseite gestrichen hat, kehrt ihre Sicherheit zurück. Sie weiß genau, was zu tun ist, ist Herrin der Lage und Ihr Selbstwertgefühl, daß zu Hause so verdörrt, blüht wieder auf. Hier ist sie schließlich "Frau Baier" und nicht irgendeine von vielen Hausfrauen und Müttern oder gar vergessenen Ehefrauen.

So interpretiere ich persönlich den letzten Satz deiner Geschichte: <<Mit ruhiger, sachlicher Stimme sagte sie: „Kanzlei Lehmann, sie sprechen mit Frau Baier.“>>

Liebe Grüße

Flame
 

Rainer

Mitglied
wenn männer zu kurz denken

mit der interpretation von flame kann ich leben, und nun auch bewerten.
...wieder was "bemerkt", danke flame.


grüße

rainer
 

Silea

Mitglied
Hallo,

Im großen und ganzen ist es, wie ihr sagt. Flame erklärt den Schlußsatz genau so, wie ich ihn mir gedacht habe, wodurch eine Erklärung meinerseits überflüssig wird. Die Verwandlung ist vollzogen, im Moment, da sie mit dem Klienten spricht. Die Stelle mit dem Futter ist eigentlich nur "Kolorit", soll nichts bestimmtes besagen. Höchstens vielleicht, dass die Kater das Chaos noch steigern, welches sowieso schon herrscht (das beherrschen sie gut). Joe, der arme Joe, wird allerdings völlig mißverstanden. Er muß schon so früh fort, dass er eben weg ist, wenn die Familie aufsteht. Dafür ist er auch früh zu Hause und dann ist noch genug Zeit, alles zu besprechen, diese "wie war dein Tag"-Geschichten eben. Wieso soll ich ihn im Betrieb damit aufregen? So war das gemeint, vielleicht hätte ich das besser dazugeschrieben, sonst entsteht ein völlig falscher Eindruck. Und das Büro ist eine Steuerberatungskanzlei, wo eben Bilanzen etc. gemacht werden. Und wo man Elsa, wenn man sie im Bus auf dem Weg zur Arbeit träfe, bestimmt nicht vermuten würde.
Vielen Dank für Eure Fragen und Anregungen

Herzliche Grüße

Silea


Ach, im Übrigen habe ich den falschen Button gedrückt und die Antwort zuerst unter "Beitrag veröffentlichen" losgeschickt. Sie steht jetzt unter "Hallo zusammen" als extra Beitrag. Kann man da irgendwas machen? S.
 



 
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