Heißkalt

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Die Fenster von Max sind hoffnungslos verschmiert.
Wie ich so hin und wieder bei ihm vorbeischaue, verspüre ich sofort den Reflex, ordentlich Glasreiniger drauf zu sprühen und alles streifenfrei sauber zu polieren.
Das ist dann auch schon mal vorgekommen, aber es ist eine Sisyphusangelegenheit und ich kann ja auch nicht so oft, ist doch klar.
„Na, Max, was liegt an?“, frage ich meinen Freund zur Begrüßung.

Man kann sagen, seit dem Unfall liegt Max viel herum und eigentlich kann ich auf seine Antwort gut verzichten.
Ich hoffe nur, dass die Auflistung der akuten Beschwerden heute kurz ausfällt.
Ja, ich weiß, das ist ganz schön hart von mir, aber so ist das mit der Zeit zwischen uns gekommen.
Weil ich immer noch unschlüssig in seinem einem Zimmer herumsteh, sag ich ihm außerdem noch:
„Du weißt ja, es ist Freitag“ (für den Fall, dass er es nicht weiß), „und du weiß ja, was das bedeutet.“
Max versucht zu grinsen, aber sicher bin ich nicht, ob das Höhnische dabei eine Antwort sein soll oder ob sein arg zerschnittenes, kaputtes Gesicht gar nicht mehr anders lächeln kann.
Stellenweise ist seine Haut zerknüllt wie ein sehr sprödes Blatt Papier, das man nie wieder glattstreifen kann, soviel steht fest, und nicht mehr alles ist genau da, wo es ursprünglich einmal hingehört hat. Wie ein Plastikbecher, den man zu fest zusammengedrückt hat.
Wenn man so einen Becher ein bisschen zusammendrückt, ploppt der ja unversehrt wieder auf, aber knallst du ein paar Tonnen Autoblech auf ihn drauf, dann bleibt auch der zerknautscht am Boden liegen.
„Wann trefft ihr Klimakids euch denn heute? Mal wieder die Welt retten?“, fragt Max zurück, um klarzustellen, was die gegrinste Grimasse an Geringschätzung bedeutet.
„Da kommst du dir gut vor, so mittendrin unter dem jungen Gemüse, hab ich recht?“

„Ich glaub, wir sollten mal durchlüften“, sage ich im Vorübergehen, ziehe energisch die Vorhänge zurück und mache ein dreckverschmiertes Fenster auf.
Aber die Aussicht ist gut. Max wohnt ganz oben wie im Turm. Blick auf die Stadt von oben.
Vielleicht sieht er uns sogar vorüberziehen heute.
Durch die Fenster wird der Maxgeruch ein bisschen nach draußen gesogen, das ist nicht schlecht. So ein Menschduft, den man schon nicht mehr ignorieren kann. Der strömt uns ja minütlich aus den Poren und macht sich bemerkbar, wenn man ihn nicht unentwegt bekämpft.
Und Tabakrauch der bestimmten Marke, abgestandene Getränke, Salzstangen. Als wäre dies das müde Ende einer richtig traurigen Party.
Die Salzstangen isst Max jetzt also direkt aus der Packung, früher hat er sie noch wenigstens in das nächstbeste Glas getan.
Im hereinfallenden Licht wirbeln die Staubflocken, die sich nicht mehr an den Vorhängen festkrallen können.
„Du schaust aus wie ein zerknautschter Plastikbecher“ sage ich.
Aber irgendwie hat Max bei dem Unfall auch seinen Humor verloren.
„Komm, leg dich zu mir“, versucht er mich in sein Bett zu ziehen, das sich auch zu einer Couch verwandeln ließe, wenn man denn eine bräuchte. Für Besuch oder so.

Den Couchtisch hat Max so nah wie möglich an seine Schlafstatt herangezogen.
Eine zerbeulte Coladose steht da auch noch, aber noch nicht mal das Lichtmuster, das die Sonne so liebevoll draufmalt, lässt sie besser aussehen.
Im Fernsehen steht nie ein Produkt so ausnehmend hässlich in der Gegend rum.
Sobald sich der Coca-Cola-Schriftzug über die Leinwand schwingt, ist das kein vergessenes Überbleibsel im Zimmer einer verkrachten Existenz, sondern anmutig kalkuliertes Product-Placement.
Ob Max überhaupt noch fernsieht, ich bin mir nicht sicher.
Wer seine Salzstangen aus der Packung isst, dem ist das raschelnde Geräusch vermutlich keine Tonstörung bei irgendwas. Der schaut vielleicht nur ins Leere, wenn er sich das Knabberzeug reinschiebt.
Die Staubschicht auf den Geräten ist auch wieder in die Höhe gewachsen, gedüngt von Max‘ Gleichgültigkeit und von losen Hautpartikeln außerdem.
Lang kann ich mir das jedenfalls nicht mitansehen.
Tabakreste vom achtlosen Zigarettendrehen streiten sich mit Essensresten und Kaffeeflecken um die Vormachtstellung.
Ich befreie mich aus der Umklammerung, die mir lang schon nicht mehr richtig angenehm ist, und fange an, den Müll einzusammeln.
Max sieht mir wortlos dabei zu und zündet sich schließlich eine an.
„Vielleicht willst du duschen?“, habe ich eine Idee, um ungestört zu arbeiten.

Während Max sich ins Bad quält, bietet sich ein kurzes Zeitfenster, in dem sich die Bettwäsche wechseln lässt.
Ich wasche Geschirr ab und wische notdürftig über die wenigen Oberflächen drüber, die nicht komplett zugestellt sind.
„Du brauchst eine Putze“, sage ich ihm, als er nach einer ziemlichen Ewigkeit in seinem ausgefransten, orangefarbenen Bademantel aus der Dusche kommt.
Hinter Max dampft eine komplette Duschgelwolke aus dem Bad, und ich frage so zum Spaß, ob er sich jetzt etwa eine Sauna einbauen hat lassen, haha.
„Du hast ja Kaffee gemacht“, staunt Max, dass es auf einmal so gut duftet herinnen.
„Komm, trinken wir einen miteinander“, und ich sage ja, weil ich aufs grindige Badputzen heut ohnehin keine Lust hab.
„Na, fühlst du dich jetzt nicht besser?“, formuliere ich vorsichtig noch einen Vorwurf, warum Max nicht von selbst auf die banale Idee einer Körperpflege gekommen ist.

Aber wir spielen Eintracht und trinken Kaffee.
„Weißt du noch, vor dem Unfall, da wars doch eigentlich ganz okay“, fängt er heute an, und eigentlich will ich gerade das überhaupt nicht hören.
Weil das mit uns, das ist ja schon anderthalb Ewigkeiten her, das wissen wir doch beide.
Aber Max redet nicht oft von „dem Unfall“, also halt ich trotz allem den Mund und lass ihn erzählen.
Weil ich so das Gefühl hab, dass Max mir grad jetzt nicht ins Gesicht schauen mag, kuschle ich mich von hinten an ihn ran.
„Hmm, du riechst gut“, lobe ich ihn.
„Seit dem Unfall, ich sag dir, die Welt ist nicht mehr die gleiche für mich.“, sagt Max.
Ich will was antworten, aber da ist mal wieder so gar nichts Passendes in meinem Kopf.
Bin nicht sicher, ob ich mir das jetzt alles antun soll, es fallen mir aber ums Verrecken keine Fluchtgründe ein.
Schon fährt er fort.
„Ich muss dir jetzt was sagen, aber du darfst mich nicht auslachen oder mich für verrückt halten.“
Verständnisvoll schüttle ich den Kopf, was Max aber sowieso nicht sieht.
Sowieso redet er weiter.
„Also seit damals, ich sag dir, da ist was mit mir passiert, ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll.
Aber irgendwie… also, ich fühle nicht mehr richtig.
Das heißt, mich selbst spür ich schon noch, aber ich hab da gewisse andere Probleme, und zwar mit heiß und kalt.“
„Mit heiß und kalt?“, wiederhole ich rückfragend und kenn mich nicht aus. Was er wohl jetzt wieder meint.
„Ja, weißt du, der Kaffee da“, Max deutet auf sein Häferl mit dem abgeplatzten Schriftzug von irgendeiner Firma, für die er früher mal gearbeitet hat, „ist dieser Kaffee nun richtig heiß oder ist er von der Temperatur her bedenkenlos trinkbar?
Ich meine, dass es kein Eiskaffee ist, das sehe ich ja an den Dampfkringeln, die aufsteigen, aber verdammt, ich kann nicht sagen, ob man sich dran die Zunge verbrennt, verstehst du? Keine Ahnung, was ich da trinke…“
Max nippt an seinem Kaffee und ich runzle meine Stirn.
„Willst du mir sagen, du hättest jetzt sowas wie deinen Geschmackssinn verloren?“
Offensichtlich missverstehe ich ihn heute mal wieder total.
„Nein, schmecken tu ich gut. Das ist nicht das Thema.
Ich fühle nur keine Temperatur mehr. Ich hab’s dir doch gesagt.
Besonders beim Kaffee trinke ich oft zu schnell und erst später merke ich, dass sich die Zunge irgendwie komisch anfühlt, geschwollen vielleicht. Das ist ein Problem.
Sag selbst: Ist dieser Kaffee nun heiß?“
„Brennheiß“, sage ich ihm. „Ich habe ihn gerade eben erst…“
Nur um mich zu schockieren, stürzt Max nun vor meinen Augen den gesamten Inhalt seiner Tasse auf einmal runter.
„Sag mal, spinnst du?“, frage ich entgeistert.

„Ich habs dir doch gesagt, dass ich nichts mehr fühle, was heiß und was kalt ist.“
„Ja, aber wie kannst du nur…
Das ist wahnsinnig schlecht für den Magen, weißt du das nicht?“ belehre ich Max über seinen Körper, den er in der letzten Zeit sicherlich besser kennengelernt hat als ich den meinen.
Immer noch glaube ich, dass er mir einfach nur was vormacht.
Vielleicht will er so nur ablenken von seinen echten Problemen, denk ich mir, oder will sich mit fiktiven neuen Problemfreunden in meiner begrenzten Aufmerksamkeitsökonomie behaupten.
Wir wollen doch alle, dass uns hin und wieder einer anschaut, richtig hinschaut, und wollen dabei nicht nur als langweiliges Problem gelten, wie es viele gibt. Wenn schon Problem, dann ein interessantes.
„Und es ist ja nicht nur beim Essen“, erzählt mir Max weiter Geschichten.
Er fühlt, dass von draußen ein Wind hereinkommt, aber ob es ein warmer Wind ist, fühlt er angeblich, so sagt er, nicht.
„Ich kann mich bei Minusgraden nackt ins Fenster stellen und spüre gar nix.“, behauptet Max.
Plötzlich setzt er sich auf und schaut mich an, um an meinen Augen zu prüfen, ob ich ihm glaube.
Verschämt senke ich den Blick auf das frische Bettzeug und ich frage mich, wozu er das denn überhaupt noch braucht, wenn er doch sowieso keine Kälte spürt, wie er sagt.
So sitzen wir da, und ich sage nichts.
Aber scheinbar liest Max immer noch in meinen Gedanken, als hätte er seit damals ein Lesezeichen in meinem Gehirn drin gelassen, denn er erklärt mir:
„Also, wenn ich mich im Bett zudecke, dann nicht, weil ich friere.
Das mit dem Zudecken ist eher so eine Gewohnheit, so ein Verstecken vor der Welt.“
Ich nicke ihm zu, weil das kann man jetzt ja wieder verstehen.
„Aber nie weiß ich, was ich anziehen soll, wenn ich rausgehe.
Und dauernd muss ich aufpassen, dass ich mich beim Duschen nicht verbrühe.
Du weißt ja, meine Dusche, die spielt gern verrückt. Da kann ich nur ungefähr schätzen, in welcher Position der Wasserhahn richtig ist. Sonst ist die Haut hinterher total rot oder mein Körper unterkühlt sich am Ende noch.“
Mir fällt die Saunawolke von vorhin wieder ein, und langsam frag ich mich, ob an der Sache was dran ist.
Ich meine, es gibt ja alle möglichen Krankheiten auf der Welt, wieso nicht auch eine Taubheit in puncto Temperatur?
Es gibt ja so Vieles.
„Sag, hast du das schon mal einem Arzt erzählt?“, will ich wissen.
„Hör mir auf mit den Ärzten!“, schnaubt Max, und das stimmt ja auch wieder.

Alles in allem hat Max heute einen wirklich geschwätzigen Tag, dass es mir schön langsam zu viel wird.
Irgendwann sage ich: „Du, ich glaube, ich muss jetzt langsam los“ und biete an, wenigstens noch schnell die Waschmaschine anzustellen.
Max winkt ab und dreht sich schon die nächste.
Wenigstens schiebt er den restlichen Tabak notdürftig mit den Handflächen zusammen, schüttelt ihn vorsichtig wieder zurück in die Packung als wär es Goldstaub oder was.
„Einkaufen musst du auch mal wieder“, erinnere ich ihn zur Sicherheit.
Und, nur im irgendwas zu sagen:
„Nächste Woche hat Karin Geburtstag. Vielleicht bring ich dir ein Stück von der Torte.“
Ein vorschnelles Versprechen, wie dumm. Zu spät beiße ich mir auf die Zunge.
„Sag ihr Glückwunsch“ bittet mich Max einigermaßen nüchtern, und:
„Kannst du das Fenster wieder zumachen, bevor du gehst?“
„Wieso, ist dir etwa kalt?“ versuche ich, ihn in die Falle zu locken; aber wie gesagt, Max hat wohl unterwegs wo seinen Humor verloren.
„Hör mal, ich weiß nicht, ob ich es nächste Woche auch sicher schaffe, du weißt ja, die Zeit ist ein Hund…“
Meine Jacke habe ich schon angezogen, und mich zieht es jetzt wirklich nach draußen.
„Viel Spaß auf der Demo“, sagt Max, weil da schon wieder so eine unschlüssige Stille zwischen uns steht, in der sich ein jeder in eine andere Richtung entschließen will. „Friday for futsch, oder wie?”

Damit reicht es für heute, aber wirklich.
Länger kann ich echt nicht bleiben, kann dieses Grinsen nicht mehr aushalten.
Für heute habe ich verdammt nochmal genug von seinen Verrücktheiten.
Manchmal frag ich mich ja schon, wie lange ich es überhaupt noch schaffen werde, immer wieder diesen Turm hinaufzusteigen, um in der trostlosen Staubhöhle zu sitzen und meinem Ex hinterherzuräumen.
Wie lange sich so Verbindlichkeiten wohl hinziehen können, bis man sich nicht mehr verbunden fühlt?
„Jaja, die Zeit ist ein Hund“, wiederholt Max meine Worte extra gedehnt, „und wir sind ihre Flöhe.“
Na super, noch so ein Spruch.
Zum Abschied schaue ich dann aber doch noch einmal zurück.
 

aliceg

Mitglied
Hi Dichter Erdling,

wíe du ein äußeres und inneres Chaos mit Metaphern schildern kannst!
Man fühlt sich gleich mit allen Sinnen mittenhinein versetzt und leidet stellenweise mit den Beteiligten mit.

Eine Alltagsbegebenheit, facettenreich schillernd ausgestaltet, verdient selbstverständlich auch Sternenglanz.
lg aliceg
 

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Mitglied
Wenn sich ein privates Universum in all seinen Tiefen vor dem Leser entfaltet....nun, eigentlich zwei Universen, deren Schnittstelle nur noch auf diesen einen Punkt der empfundenen moralischen Verpflichtung zusammengeschrumpft ist. Das ist großartig geschildert hier - in dieser Unaufgeregtheit der Routine, die zwischen Qual und Restnähe pendelt. Sehr glaubhaft dargestellt und auch stilistisch einwandfrei gemacht. Ein echtes Lesevergnügen!!!! Danke!

LG,
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Heinrich VII

Mitglied
Hallo DE,

gekonnt geschrieben. Hat sie ihn wegen dem Unfall verlassen?, hab ich mich gefragt.
Vielleicht traut sie sich mit einem, der so ein zerschnittenes Gesicht hat, nicht mehr raus.
Ich spekuliere, weil diese Frage nicht beantwortet wird, mir aber im Kopf rum spukt.
Ansonsten: Man muss weiter lesen, weil es inhaltlich interessant und gut geschrieben ist.

Gruß, Heinrich
 
Hallo Heinrich!

Schön, dass dich „Heißkalt“ nicht kalt gelassen hat.
Den Trennungsgrund habe ich bewusst im Vagen gelassen, so eine Geschichte muss ja nicht alles ausbuchstabieren. Nur gut, wenn es dem Leser noch ein bisschen im Kopf rum geht.
Deine lobenden Worte tun mir natürlich richtig gut und ich grüße dich sehr herzlich,

Erdling
 



 
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