Henkersmahl oder Das Entrecôte bringt den Tod

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Im Alter von fast 80 Jahren pflegen Bernard und Suzanne immer noch einen liebevollen Umgang miteinander. Nach 52 Ehejahren nicht unbedingt selbstverständlich. Bernard bewegt sich nur noch mit krummem Rücken am Stock. Jede Bewegung bereitet ihm Schmerzen. Aber das ist er gewohnt seit dem Schlaganfall vor vier Jahren, als er die Treppe hinunterstürzte und sich mehrere Knochen brach. Osteoporose. "Kann man nichts machen" sagt Docteur Lefavre. Seinen Parkinson hat Bernard ganz gut im Griff. Allerdings nimmt er ja auch morgens, mittags und abends eine Menge Medikamente. Suzanne ist da noch viel besser dran, eigentlich. Aber die Demenz hat sich in letzter Zeit schubartig verschlimmert. Wenigstens kann sie noch die gemeinsamen Mahlzeiten mit Bernard genießen.
Die Beiden haben schon immer gerne gekocht und gegessen. Kein Wunder, er war ja bis zur Rente auch ein angesehener Koch. Einen Michelin-Stern hatte sein Restaurant "Chez Bernard" mehr als fünfundzwanzig Jahre lang gehalten, Jahr für Jahr. Das ist schon eine Leistung. Bis sein Parkinson ihn mit 68 zwang, seine geliebte Kochmütze an den Nagel zu hängen. Wenn sie am Abend bei einem schönen Essen und einer Flasche aus dem gut sortierten Keller sitzen, ist es fast wie früher. Sie greift nach seiner Hand, streichelt sie sanft, lächelt. Nach dem Abräumen des Tisches fragt sie: "Sollten wir nicht endlich mal etwas essen?"
Vor Jahren, als man bei ihm gerade den beginnenden Parkinson diagnostiziert hatte und sie geistig noch fit war, hatten sie sich geschworen, sich gemeinsam das Leben zu nehmen, wenn sie ihr Leben nicht mehr unter Kontrolle hätten. Bevor einer von ihnen ins Heim müsste oder sie anderen zur Last fallen würden. "Ist es nun soweit?", fragt sich Bernard immer wieder. Suzanne kann diesen Gedanken nicht mehr zu Ende führen. Während sie ihn denkt, ist er schon wieder weg.

Bernard traut seinen Augen nicht. Im Kühlregal seines bevorzugten Delikatessen- und Weinladens "Le connaisseur du vin" liegen zwei eingeschweißte Stücke Fleisch mit einem Totenkopfaufkleber "Poison"! Auf dem Etikett steht zweisprachig geschrieben "L'entrecôte dernier - Das letzte Entrecôte - 250 g - Conserver au froid -Gekühlt aufbewahren!" und der Hinweis "Warnung! Der Verzehr führt binnen sechs Stunden garantiert zum Tode". Im Regal daneben liegen, wie üblich, die edlen, perfekt gereiften Käsesorten eines bekannten Affineurs, eines Käseveredlers. Absolut gourmettaugliche Spezialitäten und perfekte Begleiter zu einem Glas Rotwein, beispielsweise einem Crozes-Hermitage aus dem Rhône-Tal.
Völlig irritiert wendet er sich dem Regal mit den Rotweinen aus dem Pays d'Oc zu. Er sieht eine Flasche, die ebenfalls den Totenkopfaufkleber trägt und den eigenartigen Namen "Sécurité double - Doppelte Sicherheit". Er dreht die Flasche herum und findet auf der Rückseite wieder die Warnung, dass der Genuss binnen sechs Stunden garantiert zum Tode führe. Außerdem ein Hinweis auf den Abfüller, die "AGAS" - Association gourmandise d'assistance suicidaire" mit Sitz im elsässischen Obernai. Ein Feinschmecker-Verein für Suizid-Beihilfe - was für ein merkwürdiges Angebot in einer Weinhandlung. Bernard sieht sich nicht in der Lage, jetzt einen Wein auszuwählen. Konfuse Gedanken gehen ihm durch den Kopf. Er muss erst einmal nachhause, seine Gedanken sortieren. Gerne würde er diese mit Suzanne teilen, doch er weiß, dass sie bei ihr nicht mehr wirklich ankommen. Game Over. Drei Tage später rafft Bernard sich auf und begibt sich wieder mit einiger Mühe zum "Connaisseur du vin". Gespannt schaut er in die Kühltheke. Die Entrecôtes sind weg. Stattdessen liegt dort, sorgfältig eingeschweißt, "Le foie gras dernier - Die letzte Gänsestopfleber", wieder mit Totenkopfaufkleber "Poison" und dem nun schon bekannten Hinweis. Und wieder "AGAS - Association Gourmandise d'Assistance Suicidaire". Was ist eigentlich mit den beiden Entrecôtes passiert? Haben sie ihren finalen Zweck inzwischen erfüllt? Bei wem? Alt oder jung? Die Vorstellung von einem Gourmet-Tod ist gar nicht mal so übel. Wenn schon, denn schon. Wenn es denn überhaupt sein soll.

Die Idee lässt Bernard nicht mehr los. Ein schön gedeckter Tisch mit dem Limoges-Geschirr, dem handbemalten von Reynaud, und dem silbernen Besteck. Malmaison von Christofle. Kerzenlicht. Als Vorspeise "foie gras chaud aux morilles et raisins confites - Warme Gänseleber mit eingelegten Morcheln und Trauben", dem Gericht, mit dem er sich damals den Stern erkocht hat, das den Tester vom Michelin so begeistert hat. Und als Hauptgang "Entrecôte à la façon de grand-mère", mit Steinpilzen, so wie seine Großmutter es immer zubereitete. Und dazu ein 2006er Château Margaux. Ein letztes Mahl. Ein allerletztes Mal. Den eigenen Schmerzen ein Ende setzen und Suzanne von dem mentalen Vakuum erlösen. So wie sie es sich einmal versprochen haben. War das jetzt ein Wink des Schicksals. Am nächsten Morgen betritt Bernard den Weinladen. Nichts mehr da mit dem Totenkopfaufkleber. War das eine Fata Morgana? Hat er das nur geträumt? Oder wird er jetzt auch völlig meschugge? Aber da steht ja noch die Flasche "Double Sécurité". Er spricht Serge, den Inhaber der Weinhandlung an, ob er halluziniere. Nein, sagt der, er habe Kontakt mit der "AGAS" bekommen, als seine Frau mit ihrer schweren, aussichtslosen Krebserkrankung irgendwann den Wunsch äußerte, endlich sterben zu dürfen, vielleicht so eine Art Gourmet-Tod. Am liebsten noch ein letzter Genuss und dann "peng", Lampe aus. Das Gift wirke schnell und schmerzlos, man könne also noch in Ruhe die Küche aufräumen. Galgenhumor. Bernard bestellt Foie Gras, zwei Steaks und eine Flasche Wein, alles mit dem Totenkopfaufkleber. Zur Abholung am Samstag. Bezahlung im Voraus.
 
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Eine traurige Geschichte, stilistisch einwandfrei serviert, vielleicht für meinen Geschmack eine Spur zu viel snobistischer Gourmet-Appeal untergerühert, aber das mag, wie gesagt Geschmackssache sein. Gern gelesen!
Vielleicht ist die Geschichte aber gar nicht traurig, nur melancholisch?

MfG
Binsenbrecher
 

Heinrich VII

Mitglied
Hallo Wortspieler,

makaber, aber gut gebracht. Inhaltlich wie sprachlich. Ein Abgang mit Stil - gefällt mir.
Wo gibt es das nochmal zu kaufen? :)

Gern gelesen -

Gruß, Heinrich
 

Heinrich VII

Mitglied
P.S. Den Titel deines Textes finde ich nicht so optimal.
Irgend etwas stilvolles fände ich angebrachter.
In Übereinstimmung mit den feinen Speisen vielleicht. ;)
 



 
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