Herbst II

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petrasmiles

Mitglied
Der junge Ahorn steht fast nackt
Nur wenig hat er noch zu werfen
An seinem Stamm windet sich
die grüne Zunge des Efeus.

Das enthüllte rottönerne Dach schräg gegenüber
verrät den gleichen Krieg bei seinen Brüdern.

Die Birke zeigt sich unbeeindruckt
Hochmütig wippt sie über den Gezeichneten.

Die Vogelbeere schafft da nur ein Zittern;
Ansonsten tut sie uninteressiert.

Der alte Ahorn schwingt noch seine mächtige Krone sanft
und überlässt die letzten Samen dem Wind
Leise rieseln gelbe Blätter hinterdrein.

Da steht er und trotzt ihnen allen
So will es scheinen.
Doch auch er nährt den Feind
und bietet ganzjährige Heimstatt für Nestbauer.

Und so ist alles in allem und wir denken nur
wir wüßten den Ausgang der Geschichte
Wo doch jeder Moment Anfang und Ende -
und alles dazwischen - in sich trägt.
 

sufnus

Mitglied
Hey Petra!
Ich finde es hochinteressant dieses Herbst-II-Gedicht mit seinem Geschwistertext, Herbst , zu vergleichen. :)
Sprachlich ist dieser Angang üppiger gestaltet: Der Text ist länger, enthält mehr Akteure, verwendet mehr rhetorische Figuren (z. B. die Genitivmetapher "Zunge des Efeus" und eine ganze Reihe von Personifikationen) und beinhaltet auch mehr sprachlich "aufgeladene" Ausdrücke (z. B. röttönern, mächtige Krone, Feind). Tatsächlich gefällt mir der "leisere" Ton des vorherigen Gedichts etwas besser, weil er wie ich finde besser zur besungenen Szenerie passt.
Neben diesen sprachlichen (wenn man so will: formalen) Argumenten gibt es aber auch eine inhaltliche Seite, die mir bei diesem Herbst Gedicht vergleichsweise nicht so gut gefällt, es für mich persönlich eher etwas unpoetisch macht: Hier wird sehr viel mehr erklärt als im Vorgängergedicht, es werden sozusagen "Vorgaben" gemacht, die Birke ist "unbeeindruckt" und sogar "hochmütig", die Vogelbeere "tut uninteressiert", der alte Ahorn "trotzt allen". Angesichts dieser Beschreibungen bleibt mir als Leser kaum noch ein interpretatorischer Spielraum, außer ich wollte dem Text explizit widersprechen (hawas... die Birke ist doch garantiert nur ein bisserl unsicher - die meint das nicht so... ). Anders gesagt: Das Gedicht lässt mir nicht wirklich Lücken, die ich mit eigenen Lesarten füllen könnte. Bei Deinem anderen Herbstgedicht war das für mein Empfinden ganz anders, da herrschte weitaus mehr innere Offenheit, weil die Szenerie mit sehr viel weniger "Wertungen" beschrieben wurde. Man könnte an die altehrwürdige (und zugegebenermaßen ganz schön zu Tode zitierte) Schreibweisheit "show - don't tell" denken. Passt für Gedichte nur bedingt bzw. stellt sich bei nicht-narrativen Gedichten gar nicht als Problem, aber hier kommt es m. E. ein bisschen zur Anwendung.
LG!
S.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Sufnus,

danke für Deinen Leseeindruck und dass Du ihn mit mir teilst.
Ich verstehe, was Du meinst, es ist tatsächlich unpoetischer, aber manchmal muss es 'tell' sein.
Denn eigentlich sind es doch immer 'Zuschreibungen', mit denen wir operieren - und auch Poesie knüpft an unzählige Verbindungen von Zuschreibungen an.
Wenn Du beklagst, dass ich Dir keinen Raum für Deine Zuschreibungen gelassen habe, dann muss ich dazu stehen.

Liebe Grüße
Petra
 

sufnus

Mitglied
Hey Petra!

Ich hoffe natürlich, dass jetzt weitere Mitleser*innen meinem Eindruck rege widersprechen (das gilt übrigens immer).
Vielleicht widerspräche ich dann dem Widerspruch, vielleicht erfreute ich mich auch nur am Vielklang der Meinungen. :)

Was die Ubiquitanz ;) von Zuschreibungen angeht, stimme ich Dir im Prinzip zu, es macht nur für mich einen Unterschied, ob mir die Zuschreibung vom Autor bereits nahegelegt wird oder ob ich hier als Leser einen größeren Entfaltungsspielraum habe. Und übrigens stimme ich Dir auch bei Deiner anderen Einschätzung vollkommen zu, manchmal muss es "tell" sein... nur gerade hier, bei diesem speziellen Text und für mich als lesendes Einzelereignis hätte es "tell" nicht so gebraucht, womit ich wieder zu obiger Widerspruchshoffnung komme. :)

LG!
S.
 
S

Susanne Evers

Gast
Lieber Sufnus, Deine Kritiken sind für mich immer wieder spannend und noch mal für mich, sehr lehrreich. Zu Petras Werk kann ich nur schlicht sagen. Es gefällt mir.
 

Perry

Mitglied
Hallo Petra,
ich habe beide Texte gelesen und finde, Du hast im "Herbst II" aus dem reinen Naturbild in "Herbst" eine gesellschaftliche Reflexion gemacht.
Mir bieten die Andeutungen wie
- grüne Zunge des Efeus (Schlange im Paradies)
- Krieg bei seinen Brüdern (Bruderkrieg in der Ukraine etc.)
- Ansonsten tut sie uninteressiert (Desinteresse in der Gesellschaft)
um nur einige herauszugreifen, eine Fülle von Assoziationen.
LG
Manfred
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Perry,

danke fürs Lesen und Kommentieren.
Ich glaube tatsächlich Natur- und Gesellschaftsreflexion werden aus meiner SIcht zunehmend eins.
Die Idylle und das Chaos, der Aufschwung und der Niedergang sind nur Momentaufnahmen.
Und wäre es nicht sogar möglich, dass der den Baum umzüngelnde Efeu das Urbild der Schlange aus dem Paradies war? (Wohl eher nicht, weil die Vegetation nicht passt, aber dass alles vom Menschen Erdachte ein Abbild der Natur sein muss, scheint mir wahrscheinlich.)

Liebe Grüße
Petra
 



 
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