Herbsteinsichten

tessa_zwei

Mitglied
Herbsteinsichten

MIttllerweile bin ich 53 Jahre alt und rein äußerlich im Vergleich zu früher natürlich älter und auch etwas fülliger. Ich fühle mich gut, aber irgendwie verändert im Vergleich zu früher.

Vielleicht muss ich mich zunächst einmal beschreiben, wie ich war und wahrscheinlich auch größtenteils noch bin.

Rein äußerlich bin ich ein sehr durchschnittlicher Mensch, der sich nie für besonders attraktiv gehalten hat. Die Beziehung zu meinem Körper hatte sich erst nach der Geburt unserer zwei gesunden Söhne verbessert. Es war etwas Versöhnliches.

Meinen Charakter zu beschreiben finde ich schon wesentlich schwieriger. Ich lache oft und gerne und versuche, den Menschen, denen ich begegne ohne Vorbehalte gegenüberzutreten. Gepaart mit einem netten Smalltalk wirke ich auf Fremde daher, so denke ich zumindest, freundlich, aber eher blass, vielleicht sogar etwas oberflächlich. Aber so einfach ist es nicht.

Warum ist man so, wie man ist? Darüber machen sich bestimmt viele Menschen Gedanken, die ihr Verhalten oder das Verhalten anderer hinterfragen. Und es gibt viele wissenschaftliche Abhandlungen darüber, was genetisch vorgegeben ist oder im Kindesalter prägend war.

Meine Kindheit war in Ordnung, insofern haben meine Eltern wahrscheinlich alles richtig gemacht. Aber warum war ich als Kind so pflegeleicht, fiel sogar in der Pubertät nicht auf und hatte bis vor Kurzem nicht den Mumm, mich vor allem meiner Mutter zu widersetzen? Natürlich liegt es auch an meinem Charakter, ich vermute aber zudem eine kindliche Erfahrung (Mutter hatte eine relativ späte Fehlgeburt als ich knapp zwei Jahre alt war), die mich veranlasste, „lieb sein zu müssen“ um nicht Schuld an noch mehr Traurigkeit zu haben.

Letztendlich ist es nur meine eigene These, ich bin schließlich kein Seelenforscher oder Wissenschaftler. Aber nur so kann ich meinen fast zwanghaftem Drang „den eigenen Eltern nicht widersprechen und es allen Recht machen zu wollen“ erklären.

Dass ein zu defensives Verhalten innerhalb einer Familienstruktur fatale Folgen haben kann, erfuhr ich sehr schmerzhaft am eigenen Leib. Meine Eltern und die Geschwister kannten mich ja nur „pflegeleicht“ und „immer zufrieden“. Mit den unbequemen Fragen, die ich vor wenigen Jahren auf einmal stellte, konnten sie nicht umgehen und sie reagierten mit äußerster Strenge. Dass „die Fragen“ immer schon im Raum standen, spielte dabei keine Rolle.

Wer war ich für sie?

Es folgte eine schmerzliche Zeit.

Die vielen ausgesprochenen und unausgesprochenen Worte und Vorwürfe, die vielen nicht abgeschickten Briefe, die vielen Gedanken und schlaflosen Nächte, das Gefühl meiner Ohnmacht und auch meiner Zweifel.

Es brauchte Zeit und Distanz.

Ich las viel, führte Gespräche und gewann langsam Klarheit.

Es war mir wichtig gewesen, bestimmte Dinge innerhalb der Familie kritisch anzusprechen und irgendwann war eben der Zeitpunkt dafür da. Dass ich die vertraute Rolle der „immer Lächelnden“ nicht mehr einnehmen wollte, war mir gar nicht bewusst. Ich sah mich schon längst als mündigen und gleichberechtigten Menschen. Erst im Nachhinein erkannte ich, dass meine Eltern und Geschwister mit meinem „neuen" Selbstverständnis nichts anzufangen wussten Ich passte so nicht mehr ins Bild. Und manchmal, in schwachen Momenten, bin ich sehr traurig deswegen. Ich habe sie nicht absichtlich getäuscht.

Heute bin ich mit mir im Einklang. Ich kann die Dinge so akzeptieren, wie sie sind oder sich entwickelt haben. Ich muss mir selbst ins Gesicht sehen können und das kann ich. Und ich muss nicht mehr jedem gefallen, das ist das beste.

Bin ich eine andere?

Ich bin immer noch ich. Aber endlich erwachsen.
 
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G

Gelöschtes Mitglied 13736

Gast
Hallo tessa,
Willkommen im Forum. Dass man hier so offen auf die Mitglieder zugeht, findet man selten.
Kommt für mich sympathisch rüber. Na, hier sind schon einige Lupianer, die nicht nur altersmäßig auf deiner Wellenlänge sein könnten.
Viel Spaß und bis bald.
Lieben Gruß
Oscarchen
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Hallo @tessa-zwei, mir gefallen diese Herbsteinsichten.
Die vielen ausgesprochenen und unausgesprochenen Worte und Vorwürfe, die vielen nicht abgeschickten Briefe, die vielen Gedanken und schlaflosen Nächte, das Gefühl meiner Ohnmacht und auch meiner Zweifel.
Das alles hat einen Sinn: Wer eine Krise überwindet, bekommt vom Schicksal einen neuen Namen.
Mein Credo: In jedem noch so kleinen Käfig hat man die Freiheit, seine Träume zu verwirklichen. Die Welt ist groß, die Welt ist schön – und sie ist dein!
 



 
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