Herbstgedicht

4,30 Stern(e) 3 Bewertungen

Rui Luis

Mitglied
Herbstgedicht

Mein Herbst ist der Tanz der Blätter im Wind,
die späten Blumen und die Äpfel, die auf den Boden fallen.
Und es ist nicht mehr die Sehnsucht,
nicht mehr dein Duft,
nicht der Schrei, der nach dir ruft,
nicht der Geschmack der Küsse,
nicht mehr der Oktober oder November,
nicht mehr der Traum, der versank,
der versank, der versank.

Mein Herbst ist das Wandern durch die bunte Landschaft,
die gerösteten Kastanien, die das Herz erwärmen.
Und es ist nicht mehr dasselbe Meer,
nicht mehr derselbe Himmel,
nicht die zwei Monde, die wir waren,
nicht der Zimt im Reis,
nicht mehr das Teilen des gebackenen Apfels,
nicht mehr der Traum, der versank,
der versank, der versank.
 

petrasmiles

Mitglied
Mir gefällt diese eigenwillige Intrepretation des Herbstgedankens gut - ich finde nur den Titel ein bisschen langweilig; m. E. dürfte er ein wenig andeuten, was diesen individuellen Herbst ausmacht, z.B. 'Herbsttraum, vesunken', oder 'Vom Fallen'.

Liebe Grüße
Petra
 

Rui Luis

Mitglied
Liebe Petra,
vielen Dank für deinen einfühlsamen Kommentar und die Anregung. Ich verstehe sehr gut, was du meinst — aber für mich sollte der Titel ganz bewusst schlicht bleiben, so wie der Herbst selbst: ruhig, leise und ohne große Worte.
Herzliche Grüße
Rui Luís
 

Rui Luis

Mitglied
Liebe Petra,
genau so sehe ich es auch – manchmal liegt die ganze Bedeutung gerade in der Schlichtheit.
Danke dir für dein Verständnis und deine schönen Worte.
Herzliche Grüße
Rui Luís
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Rui Luis,

dein Gedicht ist in meinen Augen auf den ersten Blick schlicht, aber ich meine das im positiven Sinne. Es lebt nicht von außergewöhnlichen Metaphern oder einer extrem verdichteten Syntax, nein, es sagt ganz klar, wie die Sachlage ist. Und dabei doch so poetisch, dass es mich berührt.

Die jeweilige Dreifachnennung des Versinkens von Träumen am Ende der beiden Strophen bringt dazu aber die einem Herbstgedicht wohl nötige Schwermut mit sich. Aber diese steht eben im Kontrast zu den Strophenanfängen, welche deutlich machen, dass sich hier ein Lyrisches Ich an der Gegenwart und am Leben im Moment orientieren will und nicht an vergangenen und nicht in Erfüllung gegangen Träumen. Kraftvoll finde ich das, und schön.

Viele Grüße
Frodomir
 

Rui Luis

Mitglied
Hallo Frodomir,

hab vielen Dank für deine feine und aufmerksame Lesung meines Gedichts.
Du hast den inneren Kontrast, den ich im Text gespürt habe – zwischen der Melancholie des Herbstes und dem Wunsch, im Jetzt zu verweilen – genau erfasst. Es freut mich sehr, dass diese leise Spannung beim Lesen spürbar wurde.

Viele Grüße
Rui Luís
 

mondnein

Mitglied
Ich stutze schon am Anfang, beim ersten Wort: "Mein ..."
Warum teilst Du etwas, an dem die anderen Menschen ("Leser") keinen Anteil haben sollen, verstärkt durch die litaneienhafte Negationen-Anapher, den anderen Menschen ("Lesern") mit?
so als anregende Paradoxie?

Muß ich erstmal drüber nachdenken.

grusz, hansz
 

Rui Luis

Mitglied
Lieber Hans,
das ist eine sehr spannende Beobachtung. Vielleicht liegt genau darin das Paradox des Gedichts – dass etwas so Persönliches geteilt wird, obwohl es eigentlich ein Rückzug ist.
„Mein Herbst“ schließt nicht aus, sondern lädt dazu ein, dieses Innere, dieses stille Alleinsein, mitzuspüren. Vielleicht wird das „Mein“ ja beim Lesen zu einem „Unser“.

Herzliche Grüße
Rui Luís
 

Rui Luis

Mitglied
Danke, Hans – das freut mich sehr. Es bedeutet mir viel, dass du die Struktur und das Thema so wahrgenommen hast.

Viele Grüße
Rui Luís
 



 
Oben Unten